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Wem soll man glauben?
von Wilhelm Stählin

LeerDer sogenannte Zufall spielt mir das Heft von Bernhard van Acken S. J. in die Hand „Wem soll ich glauben? Die wichtigsten Unterscheidungslehren der beiden christlichen Konfessionen”; erschienen im Verlag der Bonifatius-Druckerei in Paderborn; 2. Auflage 1951. Der ausführlichen Darlegung der katholischen Lehre ist in den einzelnen Abschnitten jeweils eine kurze Wiedergabe der entgegengesetzten evangelischen Lehre gegenübergestellt. Die Art, wie van Acken hier die evangelische Lehre kennzeichnet, ist fast ausnahmslos eindeutig falsch.

Leer1. Er sagt im Vorwort, „daß es eine evangelische Glaubenslehre in dem Sinn, wie wir von der katholischen sprechen, nicht gibt”, und daß also mit „evangelischer Lehre” „jene Glaubensanschauungen gemeint sind, in denen wenigstens bei den meisten Protestanten Übereinstimmung herrscht”.

LeerIst es dem Verfasser nicht bekannt, daß es reformatorische Bekenntnisschriften gibt, welche in der Evangelischen Kirche als (aus der Heiligen Schrift abgeleitete) Norm gelten, und daß es also weder nötig noch möglich ist, als Quelle der Evangelischen Lehre jene Glaubensanschauungen zu verwenden, „in denen bei den meisten Protestanten Übereinstimmung herrscht”?

Leer2. „Evangelische Lehre: Um selig zu werden, braucht man nur das zu glauben, was in der Heiligen Schrift steht. Sie ist die einzige Glaubensquelle.” Ist es dem Verfasser unbekannt geblieben, daß die evangelische Lehre überhaupt nicht davon redet, daß man „etwas glauben” soll (wobei der Katholik mehr „glauben” muß als der Protestant), und daß der Glaube als Hingabe des Herzens und vertrauensvolle Annahme der göttlichen Gnade etwas ganz anderes ist, als was hier der katholische Verfasser unter „glauben” versteht?

Leer3. „Evangelische Lehre: Nicht alle Bücher, die die katholische Kirche als göttliche Schriften betrachtet, gehören zur Heiligen Schrift. Einige davon sind unechte (apokryphe) Schriften.” Wenn der Verfasser jemals eine Ausgabe der Heiligen Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers in der Hand gehabt hat, hätte er wahrnehmen können, daß in dieser Heiligen Schrift die Apokryphen enthalten sind, und daß sie nach evangelischer Lehre nicht als „unecht”, sondern als .nützlich und gut zu lesen', bezeichnet werden, freilich den kanonischen Büchern des Alten und Neuen Testaments „nicht gleich zu achten” sind.

Leer4. „Evangelische Lehre: Jeder Christ kann sich selbst die Heilige Schrift auslegen. Wer immer sie mit Ernst und nach Gebet um Erleuchtung liest, wird daraus klar den Heilsweg erkennen.” Kann der Verfasser ernsthaft der Meinung sein, daß diese beiden von ihm nebeneinander gestellten Sätze das gleiche besagen?

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Leer5. „Evangelische Lehre: Christus hat seiner Kirche gar kein sichtbares Oberhaupt gegeben. Petrus hat keinerlei Vorrechte vor den anderen Aposteln empfangen.” Wieder werden hier zwei Sätze als „Evangelische Lehre” zusammengefaßt, von denen der flüchtige Leser den Eindruck gewinnt (und wohl gewinnen soll), daß sie entweder beide richtig oder beide falsch sind. Daß Petrus von dem Herrn Vorrangstellung unter den Aposteln empfangen habe, wird von namhaften evangelischen Theologen ausdrücklich anerkannt; aber es ist allerdings gemeinsame „Evangelische Lehre” (und zwar als wissenschaftlich begründete Auslegung der neutestamentlichen Texte), daß dabei niemals von einer dauernden Institution eines sichtbaren Oberhauptes der christlichen Kirche geredet ist.

Leer6. „Evangelische Lehre: Die Vorsteher der Kirche (sie!) haben ihre Gewalt von der Gemeinde, die sie gewählt hat.” Diese Meinung hat Luther durch einige Jahre vertreten, aber sie ist von den Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche gerade nicht übernommen, die vielmehr von dem Amt als einer göttlichen Stiftung reden.

Leer7. „Evangelische Lehre: Jeder Christ ist ein Priester, und alle Gläubigen haben gleiche Gewalt. Der Prediger übt sie im Namen der Gemeinde öffentlich aus.” Wo findet der Verfasser als evangelische Lehre diese Meinung, daß der Prediger seine „Gewalt” im Namen der Gemeinde ausübt? Das genaue Gegenteil ist evangelische Lehre, daß nämlich der Pfarrer sein Amt in Wortverkündigung und Verwaltung der Sakramente „propter mandatum Christi”, auf Grund des göttlichen Stiftungswortes, ausübt.

Leer8. „Die Rechtfertigung geschieht nicht, wie Luther lehrte, durch den rechtfertigenden Glauben (= das Vertrauen). Der weinenden Sünderin zu Füßen Jesu wurden viele Sünden vergeben, nicht weil sie „fest vertraut”, sondern weil sie ihre Sünden beweint und „viel geliebt” hat.” Jeder angehende Student der Theologie kann sprachlich und aus dem Zusammenhang feststellen, daß das „Viel geliebt” in Lukas 7, 47 nicht „Realgrund”, sondern „Erkenntnisgrund” der Vergebung ist: an ihrer großen Liebe wird sichtbar, daß ihr viele Sünden vergeben sind; das Gleichnis Vs. 41 ff. schließt jede andere Ausdeutung dieses Herrenwortes aus. Hat der Verfasser das in seinem theologischen Studium nicht gelernt?

Leer9. „Evangelische Lehre: Es ist verkehrt und nutzlos, die Heiligen zu verehren und anzurufen.” Weiß der Verfasser wirklich nicht, daß die Evangelische Lehre zwischen Anrufung und Verehrung der Heiligen einen Unterschied macht und die Verehrung der Heiligen (cultus sanctorum, 21. Art. der Augsburgischen Konfession!) ausdrücklich gebietet?

Leer10. In dem Abschnitt über die Verehrung der Jungfrau Maria werden am Schluß Asmussen und ich offenbar als rühmliche Ausnahmen zitiert; Asmussen, weil er Wert darauf legt, Maria Mutter Gottes zu nennen - der Verfasser weiß offenbar nicht, daß es offizielle evangelische Lehre ist, daß Maria mit Recht „Mutter Gottes” genannt wird und in Wahrheit ist (Form. Conc.) -, und ich, weil ich Maria „als voll der Gnaden” „würdige”. - Wenn der Verfasser die von ihm zitierte Stelle genau gelesen hätte, würde er wahrgenommen haben, daß ich diese falsche Übersetzung des griechischen Textes bewußt und ausdrücklich durch eine andere ersetzt habe.

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Leer11. „Evangelische Lehre: Es gibt nur zwei Sakramente, nämlich die Taufe und das Abendmahl.” Ist dem Verfasser nicht bekannt, daß in der Reformationszeit auch die Buße als Sakrament gerechnet werde, und daß es in unseren Bekenntnisschriften (Apol. Conf. Aug.) ausdrücklich heißt, kein vernünftiger Mensch werde sich über die Zahl der Sakramente in einen Streit einlassen?

Leer12. „Evangelische Lehre: Das heilige Abendmahl ist nur Brot und Wein (sic!). Aber beim Genuß desselben empfängt der Christ in, mit und unter dem Brot und Wein den Leib und das Blut des Herrn. Eine Gegenwart des Herrn außerhalb des Genusses gibt es nicht.” Die theologische Formel der evangelischen Lehre heißt non extra usum (nicht außerhalb des Gebrauchs), wobei unter usus nicht nur der Akt des leiblichen Genießens, sondern die ganze Handlung verstanden wird.

Leer13. „Evangelische Lehre: Es ist ein Eingriff in die Rechte Gottes, wenn die Priester der katholischen Kirche die Gewalt der Sündenvergebung für sich in Anspruch nehmen.” Hat der Verfasser niemals die Lehrstücke vom Amt der Schlüssel in unseren Bekenntnisschriften, selbst im kleinen Katechismus Luthers gelesen? Weiß er wirklich nicht, daß Luther in seiner Beichtanweisung, die ein Bestandteil seines Katechismus war und wieder ist, ausdrücklich den Beichtvater fragen läßt „Glaubst du, daß meine Vergebung Gottes Vergebung ist?”

Leer14. „Evangelische Lehre: Die geschlossene Ehe kann wieder aufgelöst werden und die Geschiedenen können eine neue Ehe eingehen.” Wann und wo hat die Evangelische Kirche gelehrt, daß die geschlossene Ehe wieder aufgelöst werden kann?

LeerIch breche hier ab. Ich habe nicht zu untersuchen, ob P. van Acken die Lehre seiner eigenen Kirche richtig dargestellt hat. Die evangelische Lehre hat er überall verzeichnet, weil er sich offenbar nicht die Mühe gemacht hat, sie wirklich zu studieren. Wir fragen uns ehrlich erschrocken, welches Maß an Mitschuld wir alle haben, daß Außenstehende ein solches Zerrbild evangelischer Lehre für communis opinio der Protestanten halten können. Wir schämen uns und werden ernstlich widersprechen, wenn im Eifer der konfessionellen Kontroverse von protestantischer Seite ein ähnliches Zerrbild der katholischen Lehre gezeichnet wird. Aber wir müssen auch auf beiden Seiten von jemandem, der über die Unterscheidungslehre schreibt, verlangen, daß er nicht erweislich falsche Dinge behauptet. Der Zweck, die Stärkung des katholischen Kirchenvolkes in seinem Glauben, rechtfertigt nicht das Mittel der Verleumdung. Wer über „Andersgläubige” redet oder schreibt, sollte es mit dem 8. Gebot besonders genau nehmen. Was nützen uns alle ehrlichen Bemühungen um ein besseres Verständnis der christlichen Konfessionen und um mehr Brüderlichkeit, wenn daneben solche Brunnenvergiftung betrieben wird!

Leer„Wem soll ich glauben?” Jedenfalls nicht Herrn Pater van Acken, wenn er die evangelische Lehre beschreibt.

Quatember 1955, S. 28-30

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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