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Die Retraite von Pomeyrol
von Luise Hoefer

LeerPomeyrol ist die älteste und kleinste der Communautés innerhalb des französischen Sprachgebietes. Sie wurde gegründet durch Antoinette Bütte, eine Rechtsanwältin, die die erste evangelische Pfadfinderinnenarbeit in Frankreich mitorganisierte. Sie ist jetzt 57 Jahre alt, ein Mensch von impulsivem Temperament und von starker natürlicher Aktivität. Im Jahre 1929 legte sie ihr Amt als „Commissaire Generale des Eclaireuses en France” nieder, gab ihre juristische Praxis auf, die sie in enge Berührung mit der sozialen Frage gebracht hatte - aus der Erkenntnis heraus, daß all unsere menschliche Aktivität die Not unserer Zeit nicht heilen kann: zu den Wurzeln der Not findet Zugang nur das Gebet. Dann folgten zwanzig Jahre des Weges in die Stille und in völlige Armut, gleichzeitig eine Zeit theologischer Studien. Unter großen Schwierigkeiten wurden Retraiten (Einkehrzeiten) durchgeführt mit jeweils wechselnder „Mannschaft”.

Leer1936 wurde ihr von der französischen reformierten Kirche (von einer Vereinigung der Pfarrer) das Gelände von Pomeyrol zur Verfügung gestellt: ein kleines Schlößchen (heute Kinderhaus, von Freunden der Communauté geleitet), ein großer Pinienpark mit drei deutschen Militärbaracken und ein kleiner Jagdpavillon, der jetzt als Gästehaus ausgebaut wird. 1949 findet sich der erste junge Mensch, der bereit ist, sein Leben ganz zur Verfügung zu stellen. Heute sind es sieben Schwestern, die jüngste ist eine Deutsche. Um diese sieben „Residentes” hat sich ein Kreis von etwa siebzig „Compagnons” als Dritter Orden gebildet. von Menschen, die den Geist von Pomeyrol in ihren Lebensbereichen und in verschiedenen neugegründeten Werken verwirklichen wollen. In Pomeyrol finden wechselnde Retraiten statt, so im letzten August für kranke Pfadfinder, für einen Studentenchor, danach für Ärzte, Krankenschwestern, ehemalige Kranke und Seelsorger. Vor allem aber sind ständig Einzelgäste dort, die die Stille suchen.

LeerDie theologische Grundlage von Pomeyrol ist noch in der Entwicklung begriffen. Die Liturgie des viermaligen Stundengebetes, aus altkirchlichem Gebetsgut und neuentstandenen Meditationen zusammengewachsen, ist in stärkerem Maße Ausdruck individuellen Erlebens, als es in Taizé und Grandchamp der Fall ist. Das Zentrum des Gebetes ist die sehr zuchtvolle Fürbitte. Man versucht aber zur gleichen Zeit für alle drei Communautés die gleiche Liturgie zu finden. Im ganzen sind die liturgischen Erkenntnisse der reformierten Kirche in Frankreich weniger weit fortgeschritten als in Deutschland, warum aber sind die Franzosen in der praktischen Verwirklichung uns so weit voraus?

LeerDie franziskanische Armut, die man als Lebensform wählte, ist zu allererst ein geistlicher Wert, in ihr liegt das Zentrum von Pomeyrol. Man will bewußt nur unscheinbarer Same sein, der nicht um seine Frucht weiß. Man wirbt keine Menschen für Pomeyrol, sondern man möchte nur die Hilfe geben, daß jeder, der hier Gast ist, in der Stille seine Vokation findet, - den Ruf Gottes an Ihn. Man kritisiert nicht die Schäden der Kirche, sondern man möchte als eine lebendige Zelle in der Kirche leben. Man will keine großen „christlichen Werke” aufbauen, die imponieren könnten, sondern man möchte in der Verborgenheit und totalen Selbstentäußerung der Nachfolge Christi leben: das Geheimnis „Christ in uns”.

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LeerEindrucksvoll ist die Weise, in der man die materielle Armut verwirklicht. Man will bewußt ohne jede materielle Sicherheit leben, auch ohne Altersversorgung der Schwestern. So erlebte ich es mit, daß man nicht wußte, wovon man das Brot für den nächsten Tag kaufen sollte. Man will arm mit den Armen sein und teilt sein Brot und Geld ohne Sorgen mit ihnen. „Der Bruder von der Landstraße”, der um Brot und Obdach bittet, ist selbstverständlicher Gast am Tische - so wie sich bei jeder Mahlzeit Platz für unangemeldete Gäste findet.

LeerIn der Armut, wie man sie hier leben möchte, liegt eine Erneuerung des franziskanischen Geheimnisses: Die Armut, die eine leere Schale ist, um die Fülle zu empfangen. „Selig sind, die den Geist der Armut haben!” So ist diese Armut keine Misere, sondern über ihr liegt Fröhlichkeit und Schönheit - nicht nur durch den Glanz des provenzalischen Lichtes.

LeerDas Beispiel der Armut - Baracken ohne fließendes Wasser mit Strohsäcken und Kisten - öffnet der Retraite den Zugang zu der Welt der Arbeiter in stärkerem Maße, als dies in Grandchamp möglich ist. In Frankreich mit seinen starken sozialen Spannungen und seiner Hinneigung zum Kommunismus ist dies eine besonders wichtige Aufgabe, Der Arbeiter fühlt sich hier zu Hause und als gleichgeachteter Gast. Eine der Schwestern kommt aus der Arbeit einer radikalen Linkspartei. An einem Sonntag predigte in sachlicher, überzeugender Art ein Kommunistenführer, Bahnarbeiter, über das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Beide haben durch die Retraite den Weg zur Kirche gefunden.

LeerAußerdem sind Künstler, hier in dem Schaffensgebiet von Vincent van Gogh, häufige Gäste. Den Winter über teilten die Schwestern Dach und Brot mit einem mittellosen begabten Maler, der hier den Zugang zur Bibel, auch als Künstler fand und halfen ihm, eine Ausstellung seiner Werke zu ermöglichen. Außerdem ist man offen für die Communauté der Kirche, nicht nur den anerkannten Kirchen, sondern auch der Vielfalt der Sekten gegenüber - weil man Brücke sein will zur „Una Ekklesia”. Auch dies hat in Frankreich eine besondere Bedeutung, da der französische Protestantismus in viel stärkerem Maße dem Sog der Sekten ausgesetzt ist als bei uns.

LeerDiese Offenheit der Welt gegenüber steht in innerer Einheit mit dem südlichen Lebensgefühl, mit seiner größeren Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit. Auch der eigenen Lebensform gegenüber bewahrt man die Beweglichkeit. In dieser Ursprünglichkeit ähneln die Schwestern von Pomeyrol den Brüdern von Taizé, die hier oft gerngesehene Gäste sind. Die unbürgerliche Frömmigkeit ist sicher auch Ausdruck französischen Geistes und französischen Schicksales und darin eine Eigenart dieser Communauté gegenüber Grandchamp in der Schweiz. Grandchamp hat demgegenüber in seiner starken geistlichen Konzentration und in der stärkeren Ausformung der eigentlichen Schwesternschaft einen andersgearteten Auftrag.

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LeerDer ursprüngliche Name dieser Communauté ist „Retraite de Pomeytol”, ein Wort, das in seiner Bedeutung nicht zu übersetzen ist. Was schließt dieses Wort in sich ein? Retraite - Schweigen - Stille - Einkehr - Kontemplation. Da man hier Jahrzehnte hindurch in der Stille lebt, hat man Erfahrungen gewonnen und kann anderen Menschen auf diesem Wege helfen. Man hat den Mut dazu, die Erfahrungen der Alten: Fasten, Einsamkeit, Wachen zu praktizieren. Der Rhythmus des Schweigens beginnt abends um sieben Uhr mit dem Fürbittengebet und dauert bis zum nächsten Mittag mit dem Gebet der Seligpreisungen und des Gloria. Charakteristisch für Pomeyrol ist, daß die Einsamkeit und großartige Schönheit des südlichen Landes dazu helfen. den Ring des Schweigens zu bilden.

LeerEine große Mauer umgibt den weiten Pinienforst, der abseits vom Dorf gelegen ist, am Fuß der Alpillen, eines verkarsteten Mittelgebirges am Rande des Rhonedeltas. Schon im Grundstück beginnen die Kalkfelsen, von denen aus man einen unendlich weiten Blick über die Rhoneniederung hat mit ihren Reis- und Weinfeldern, mit Olivenhainen und großen Zypressenhecken. Es Ist hier wirklich das einzigartige Geschenk gegeben, einmal abseits leben zu dürfen von der Hast des modernen Lebens und der Zusammenballung der Menschen in unserem übervölkerten Erdteil. Den stärksten Eindruck können die Einzelretraiten geben, zu denen unter Umständen die Möglichkeit gegeben ist, in einem kleinen Häuschen eine Stunde entfernt im Gebirge, am Fuß von hochaufgetürmten Kalkfelsen. Dort oben ist völlige Einsamkeit. Nur der Ruf der Raubvögel hoch über dem Felsen und das vieltönige Schnarren der Cigallen in den Pinien unterbrechen die Stille.

Quatember 1955, S. 34-35

[Communauté de Pomeyrol]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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