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von Heinz-Dietrich Wendland |
Zu den größten inneren und äußeren Schwierigkeiten, mit denen die evangelische Kirche in unserer Zeit zu kämpfen hat, gehört es, daß wir unsicher geworden sind in der Ordnung und Form des christlichen Lebens, und daß wir nicht recht wissen, was Nachfolge Christi in unserer Zeit und in unserer Welt bedeuten könne. Dem Protestantismus der letzten drei Jahrhunderte ist das christliche Ethos und das christliche Leben mehr und mehr auf eine Art christlicher Bürgerlichkeit zusammengeschrumpft. Er versuchte in steigendem Maße, seine moralische Legitimation aus der Tatsache zu beziehen, daß er weltbejahend und lebensgestaltend sei. Luthers Verkündigung der Freiheit eines Christenmenschen wurde in der Weise verweltlicht, daß sie schließlich auf den Satz hinauszulaufen schien: Man kann alles mitmachen. Der Christ unterscheidet sich dann in seiner Lebensform und Lebensweise überhaupt nicht mehr von den Nichtchristen. Unwillkürlich erinnert diese Haltung an jene korinthischen Christen, mit denen Paulus es zu tun bekam, weil sie die christliche Freiheit mit dem Satze auslegten: Mir ist alles erlaubt. Paulus mußte diese Haltung als ein schweres Mißverständnis der Freiheit bekämpfen, die uns der Heilige Geist gewährt, indem er uns von aller Gesetzlichkeit freimacht. Aber die christliche Bürgerlichkeit, von der wir alle in unserem Lebensstil herkommen, konnte auch die andere Form des christlichen Moralismus annehmen, der sich von den Lastern distanziert und gesetzlich festzulegen versucht, von welchen in der menschlichen Gesellschaft üblichen Vergnügungen und Formen des Lebensgenusses sich der Christ unter allen Umständen fernzuhalten habe. Sowohl das Pathos der unbegrenzten Freiheit wie der bürgerlich-christliche Moralismus der Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit haben sich weit von dem neutestamentlichen Verständnis des christlichen Lebens und der christlichen Freiheit von der Welt entfernt. Jesus verkündigt das Kommen des Gottesreiches, das in seinem Wort und in seinen Taten Gegenwart wird. Die nahende Gottesherrschaft aber schafft und wirkt Freiheit, Erlösung von der Welt. Alle Ordnungen und Bindungen, in denen wir Menschen in dieser Welt leben, werden nun relativiert; sie verlieren den Charakter des Absoluten und Endgültigen. Wer die Botschaft vom Reiche Gottes hört und annimmt, kann nicht mehr zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon. Die Herrschaft Gottes verlangt und gebietet den absoluten Gehorsam und die vollständige Hingabe des Menschen, der mit allen seinen Kräften und ganzer, ungeteilter Seele Gott dienen und Gott lieben soll. Das ist die Eindeutigkeit und Einfalt des Menschen, die Jesus fordert. Die „Söhne” und Glieder des Gottesreiches leben in ungeteilter Ganzheit und Einfalt der Hingabe; die Zweideutigkeit und die Zwiegespaltenheit des sündigen Menschenwesens haben sie überwunden. Die Hingabe an das in Jesus erschienene Gottesreich ist Gehorsam, aber der Gehorsam ist Freiheit. Jesus fordert von dem reichen Jüngling: „Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen”; (Luk. 18, 22 Par.). Diese Forderung trifft mitten in die Bindung des Herzens an den irdischen Besitz hinein, die jenen hindert, frei zu werden für Gott und Gottes Reich zu gewinnen. Diese Forderung Jesu ist wörtlich und buchstäblich gemeint, und alle Auslegungen, die versuchen, sie abzuschwächen und umzudeuten, sind durchaus vom Übel. Denn es geht Jesus ja darum, diesen Menschen von der Macht, von dem Götzen zu befreien, der ihn beherrscht, obwohl er alle Gebote des Gesetzes von Jugend auf gehalten hat, und ihn vom Reiche Gottes und dem ewigen Leben trennt. Nur durch die Zerstörung dieser Bindung, die Aufhebung dieser Gefangenschaft des reichen Mannes geht der Weg in die Nachfolge Jesu hinein. Ist das eine asketische Forderung Jesu? Ja insofern, als es hier um die konkrete Tat einer Entsagung geht, die das ganze Leben des Reichen von Grund auf verwandeln müßte, um einen gewaltig großen Verzicht um der Gottesherrschaft willen. Von diesem Verzicht, ja von einer Preisgabe der ganzen bisherigen Existenz des Menschen reden ja auch die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der kostbaren Perle (Matth. 13, 44-46). Da stehen Menschen vor uns, die ihr ganzes Vermögen aufopfern, um nur das eine unvergleichlich kostbare Gut zu erlangen. Gottes Reich ist dessen wert, daß Menschen ihre ganze Existenz aufgeben, um es zu gewinnen. Und doch ist die Forderung Jesu nicht asketisch in dem gewöhnlichen Sinne. Er verfolgt ja nicht ein asketisches Prinzip. Er verlangt keineswegs von allen seinen Jüngern, daß sie ihren Besitz aufgeben müßten. Er verwirft nicht den irdischen Besitz als solchen und macht die Besitzlosigkeit nicht zu einer allgemeinen Regel. Die Forderung des Gottesreiches trifft die einzelnen Menschen an ganz verschiedenen Punkten, doch immer dort, wo sie gefangen liegen unter einer Macht dieser Welt. immer als Forderung eines konkreten Schrittes. Die Gespräche Jesu mit den verschiedenen Nachfolgern, die uns in Luk. 9, 57 ff. aufbewahrt sind, zeigen das in wunderbarer Klarheit und Schärfe. Wenn es um die Entscheidung für die Nachfolge geht, dann ist keine Zeit mehr dafür da, den Vater zu begraben oder mit den Hausgenossen Abschied zu feiern. Dann gibt es nur noch das Eine, Einzige: So werden denn alle vorletzten Bindungen zerbrochen, ob es der Besitzwille der Sexualität oder irdische Herrschaft und Machtausübung ist. Die Jünger Jesu können nicht so leben wie die irdischen Herrscher, die Gewalt üben über andere und an anderen; denn es ist das neue Gesetz, die Magna Charta der Gottesherrschaft, daß sie dienen und lieben sollen; allein darin kann ihre Größe bestehen (Mark. 10, 42 (f.). Die Daseinsmächte, denen der sündige Mensch in seiner Haltlosigkeit und Schwäche verfallen ist, werden von Jesus mit unheimlicher Treffsicherheit angegriffen, und jeder Mensch ganz konkret an dem Punkte erfaßt, wo er ein Sklave solcher Mächte ist. In der „asketischen” Forderung Jesu geht es also nicht um eine Entsagung, die, wie so oft in den alten Religionen, die magischen Kräfte des Menschen steigern soll. Es geht auch nicht darum, daß der Entsagende sich das Verdienst einer zusätzlichen, besonderen Heiligkeit erwerben könnte, dem Gott mit einem besonderen Lohne antworten müßte. Jede Form der verdienstlichen Askese, bei der der Mensch nach dem Lohne Gottes schielt, ist dem Worte Jesu fremd. Die asketischen Anstrengungen sind nicht ein Erlösungsweg, auf dem man mit Sicherheit in das Reich Gottes und das ewige Leben gelangen müßte. So wurden sie vielfach in den dualistischen Religionen der hellenistischen Zeit verstanden. Die Absage an den Mammon oder an die Gewalt oder die erotische Genußgier - sie ist nur die klare und eindeutige Folge daraus, daß Gottes Reich gekommen ist und kommt, und daß der Mensch darauf nur mit dem ganzen Gehorsam der Nachfolge antworten kann. Machen wir uns nur nicht die Negation der falschen Askese, der Entsagung als Erlösungsmittel zu leicht! Es ist ein höchst bedenkliches Zeichen, daß die Entsagungs-Forderungen Jesu, die in allen Evangelien mit so unüberhörbarer Schärfe und einhelliger Klarheit überliefert sind, in der heutigen Verkündigung der Kirche so selten erklingen oder aber ihrer Radikalität beraubt werden, indem man sie, völlig falsch, nur auf die Herstellung der sogenannten inneren Freiheit des glaubenden Menschen bezieht. Die Realität der inneren Freiheit erweist sich vielmehr in der lebenformenden Kraft der Absage. Aber umgekehrt gilt freilich auch, daß es Jesus nicht um die Erfüllung einzelner Entsagungsforderungen als solcher geht. Der ganze Mensch, der Mensch in seinem Herzen, das heißt im Mittelpunkte seines Lebens, soll frei werden für das Reich Gottes. Die Entsagung ist demnach nichts als die ganz „natürliche” Folge der Umkehr und der Heimkehr zu Gott, als die Wirklichkeit des Glaubens und der Nachfolge. Umkehr ist Absage, weil sie Zusage ist für das kommende Reich. Es geht hier also um die Freiheit zum Leben im Dienste Gottes oder darum, daß der Hörer der Botschaft vom Reich in ein neues Eigentumsverhältnis hineintritt, indem er Gott zu eigen wird. Die Askese Jesu und so alle evangelische Askese gründet in der großen Heilstat Gottes, der sein Reich zu uns kommen läßt und dadurch die Herrschaft der dämonischen Gewalten zerbricht. Daß wir der Reinigung unseres Umgangs mit den Gaben des Schöpfers bedürfen, ist eine bleibende Notwendigkeit, weil wir immer von neuem versuchen, die Kreaturen an die Stelle des Schöpfers zu rücken. Daher hat die apostolische Kirche mit tiefem Grunde Gebet und Fasten zusammengesehen und - geordnet. Es fragt sich freilich, wie sich Jesus selbst zu der in der jüdischen Gemeinde wohlbekannten und besonders von den Pharisäern streng geübten Sitte des Fastens gestellt habe. Heißt es doch Mark. 2, 18 ff., daß die Jünger Jesu nicht fasten, weil die messianische Freudenzeit angebrochen ist und der, der sie gebracht hat, Jesus, bei ihnen ist! Also ist die Zeit des Fastens vorbei, jenes Fastens, das das Gesetz verordnet hat zum Zeichen der Reue und der Trauer über die Sünde. Auf der anderen Seite aber zeigt uns das Evangelium, wie Jesus selber fastet, um sich so in der Kraft des Heiligen Geistes zu dem Kampf mit dem Versucher zu rüsten, in dem er den Gehorsam gegen Gott bewährt. Und die Worte zur jüdischen Fastensitte, die uns Matth. 6,16 ff. aufbewahrt sind, haben gar nichts von einer prinzipiellen Ablehnung des Fastens an sich. Nicht das Fasten wird verworfen, sondern dies, daß die Pharisäer durch ihre religiöse Geltungssucht das Fasten verderben. Es soll ein Zeichen fröhlichen, festlichen Gottesdienstes sein, der Gott allein dargebracht wird, und nicht um die Bewunderung der Mitmenschen für die Frömmigkeit der Fastenden und ihren Bußernst zu gewinnen. Das rechte Fasten ist das äußere Zeichen der Umkehr zu Gott. Umkehr aber ist Freude; denn Umkehr ist ja nur deswegen möglich, weil jetzt Gottes Reich gekommen ist und Jesus in dieses Reich hineinruft. Dann gibt es freilich kein Fasten als gesetzliches Werk, als mühselige fromme Anstrengung des Menschen mehr: Wenn Gottes Reich kommt, ist auch das Fasten zur Freude und zum freien Dankopfer an Gott geworden. So ist denn also die Freiheit von jeder gesetzlichen Fastenordnung da, aber sie bedeutet zugleich die Freiheit zum rechten Fasten, indem die Erscheinung des göttlichen Reiches alle hergebrachte fromme Übung und Sitte in die Freiheit und Freude des neuen Dienstes der Kinder Gottes verwandelt. Denn auch für den Jünger, der nicht Jesu Wanderschaft teilen kann, der, historisch gesehen, in einer ganz anderen Zeit lebt, bleibt die Forderung der Absage an die Güter der Welt, die des Menschen Herz beherrschen und erfüllen wollen, bestehen. In diesem Sinne heißt es nun: Wer mir nicht nachfolgt, ist meiner nicht wert (Matth. 10, 38) oder: Wer zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und dazu noch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein (Luk. 14, 26). Wie tief sich diese Worte den ersten Jüngern durch ihre ungeheure Wucht und Schärfe eingeprägt haben, können wir noch heute daraus ersehen, daß sie in verschiedenen Formen in den drei ersten Evangelien wiederkehren, und daß Matthäus ihnen ihren Ort in der Rede über Auftrag und Schicksal der Jüngerschaft gegeben hat. Das bekannteste unter ihnen ist die Forderung an den Jünger, sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich zu nehmen (Mark. 8, 34-35). Wer vermöchte jemals sich selber zu hassen? Ist es nicht eine geradezu zerstörerische Forderung? Ja wahrlich, in dem Sinne nämlich, daß der Jünger seine Existenz in dieser alten Weltzeit, in der dämonische Mächte herrschen, preisgeben muß, um sie von dem nahenden Gottesreich auf eine wunderbare, gnadenhafte Weise wieder zu empfangen. Diese Selbstdurchstreichung und Selbstaufhebung hat nichts mit der Wut der Selbstvernichtung zu tun, die einen Verzweifelten überkommen mag oder einen, der sich selbst verachten muß, weil er sein eigenes Leben zerstört hat; sie setzt vielmehr das Wunder der Umkehr voraus, welches die nahende Gottesherrschaft in den Menschen vollbringt, die sich ihr öffnen und hingeben. Es ist dasselbe Wunder, von dem der Evangelist Johannes Jesus reden läßt: Wir müssen von oben her geboren werden durch den Heiligen Geist (3, 3 ff.). Oder anders ausgedrückt: Diese Wendung des Menschen wider seine eigene Existenz in der Schuld und im Bösen ist nur möglich in der Hinwendung und Hingabe an Jesus; nur hier ist sie frei von allem Krampf, von der Selbstzerfleischung und der Selbstverachtung, nur hier ist sie mit dem Empfang des neuen Lebens der „Söhne der Gottesherrschaft”, mit der Vergebung der Sünde identisch! Wie aber der Dienst und die Sendung Christi zum Kreuze führen, so bekommt es auch der Nachfolger mit dem Kreuze zu tun. Christliche Askese ist nicht Selbstpeinigung, sondern Tragen des Kreuzes, passio passiva. Der Jünger bekommt vollen Anteil am Leiden des Meisters. Kreuz - das ist nicht das Unglück und Ungemach, das der Weltlauf uns bereitet, sondern das Leiden, das aus dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und aus der Nachfolge erwächst. Es ist nicht das Leiden des Menschen dieser Welt, sondern das Leiden des Jüngers. Er wird gleich seinem Herrn von der Welt gehaßt und verfolgt; dieses Wissen geht von der Jüngeraussendungsrede bei Matthäus (Kap. 10) an durch alle Evangelien hindurch bis zum 15. Kapitel des Evangeliums des Johannes. Jesus leidet als der Dienende, der sein Leben hingibt zur Erlösung für viele. So ist auch die Selbstverleugnung des Jüngers nicht zu verstehen als fromme Erhöhung des eigenen Ich oder als Selbsterlösung, wie in so vielen anderen Religionen der Mittelmeerwelt oder Indiens, sondern als die gleichsam negative Kehrseite des Dienstes der Liebe, die dem Nächsten zugewendet wird. Das Gebot der Nächstenliebe und die entsagende Selbstverleugnung, sie sind in der Verkündigung Jesu, bewährt durch sein eigenes Dienen und Leiden, ein- und dasselbe. Entsagung ist Liebe, nicht religiöse Selbstverherrlichung. Darum soll ja auch das Fasten vor den Menschen verborgen bleiben, damit der Fastende nicht seinen Ruhm suche unter den Menschen. Lieben, das heißt, für den Anderen der Nächste sein. Opfernde Liebe ist die Erfüllung aller Gebote Gottes; so hat auch Paulus den Ruf Jesu in seine Nachfolge verstanden. In den Taten des Verzichts und der Entsagung leben wir nicht uns selbst, sondern dem Anderen, dem Nächsten. Das ist der Sinn und die Gestalt evangelischer Askese. Diese Liebe aber gibt das eigene Ich und seine Selbst-Sucht immer aufs neue ins Sterben hinein. Darum haben die Väter der Kirche, nicht zuletzt Luther, so oft von der mortificatio carnis, der Tötung des Fleisches, des gottwidrigen alten Menschen gesprochen, der in allen Dingen seine Selbsterfüllung sucht. Sie haben gewußt, daß dieses Sterben ein Wunder sei, das sich nur in der Gemeinschaft mit Christus vollziehen kann. Außerhalb des Leidens und Sterbens Christi gibt es dieses Wunder nicht, und darum auch nicht „evangelische” Askese. Dieses Sterben aber beginnt in dem Augenblick, wo wir den göttlichen Ruf Jesu hören, daß wir umkehren und uns dem Reiche Gottes öffnen und hingeben sollen. Mit dem Rufe, der uns gebietet, aller dämonischen Fremdherrschaft abzusagen, beginnt das Kreuztragen derer, die ihn hören. Aber der Kreuzesweg ist der Weg zur Auferstehung und zum Leben. Quatember 1955, S. 65-71 |
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