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Die Entdeckung der Meditation
(Nach einem Menschenalter IX)
von Karl Bernhard Ritter

LeerZu den Männern, die an der Wiege der Evangelischen Michaelsbruderschaft gestanden, sie in ihren Anfängen aufs stärkste geprägt und ihren Weg entscheidend mitbestimmt haben, gehört Carl Happich. Wer weiß, ob es ohne seine Entschlossenheit zur Stiftung der Bruderschaft gekommen wäre? Sicher wäre es ohne ihn niemals zur Aufnahme meditativer Übung in das Leben der Bruderschaft gekommen. Happich war älter, lebenserfahrener, weiser als die meisten von uns und besaß darum eine natürliche Überlegenheit und Autorität. Die Reife seines Urteils, seine umfassende Bildung, die Äußerungen einer elementaren Frömmigkeit, das alles gewann ihm unbedingtes Vertrauen. Er war fähig, in einem Gespräch alle theologische Begrifflichkeit souverän beiseite zu schieben und ein Problem ohne alle Umwege in seiner Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen. Es war selbstverständlich, daß wir ihn in den Rat wählten, der in den ersten Jahren die Bruderschaft leitete und ihre Lebensordnungen festlegte. Carl Happich hatte eine sehr hoch gespannte Auffassung von der Aufgabe der Bruderschaft. Er war deshalb auch geneigt, die Forderungen an den einzelnen Bruder sehr streng zu fassen. Er drang auf sorgfältige Auslese der Bewerber. Er wollte Männer, die zu rückhaltlosem Einsatz fähig und entschlossen waren. Er gebrauchte gern das Bild von der marschierenden Truppe, die keine Fußkranken gebrauchen könne.

LeerCarl Happich war Arzt. An der Wand seines Sprechzimmers im Elisabethstift zu Darmstadt, dessen Internist er durch viele Jahre hindurch gewesen ist, standen die Worte des großen Paracelsus, der ihm Vorbild war: „Im Herzen wächst der Arzt. Aus Gott geht er. Des natürlichen Lichtes ist er. Der tiefste Grund der Arznei ist die Liebe.” In diesem Sprechzimmer fanden nicht nur ungezählte Kranke den ärztlichen Helfer, der mit allen Mitteln und Erkenntnissen seiner Wissenschaft vertraut war, sie fanden den Arzt, der seinen Helferdienst als eine hohe, aus geheimnisvollen Quellen gespeiste Kunst übte. Verstörte, ratlose, über ihren Weg verzweifelnde Menschen fanden den Menschenbruder und weisen, väterlichen Freund. Vielleicht ist es für seine Persönlichkeit besonders kennzeichnend, daß er in dem großen Stift zu allen Sterbenden geholt wurde und dann im Sterbezimmer zunächst Stille und Frieden schaffte und den Sterbenden durch die gesammelte Macht seiner Fürbitte und Handauflegung über die dunkle Schwelle half. Carl Happich war ein Christ, der Sohn eines oberhessischen Pfarrhauses. Er verleugnete nicht, daß er aus dem Luthertum stammte. Aber er war über die Grenzen dieser konfessionellen Heimat hinaus gewachsen zu katholischer Fülle und ökumenischer Weite seines Glaubenslebens.

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LeerViele Brüder haben seinen ärztlichen und mehr noch seinen brüderlich-menschlichen Rat gesucht und haben bei ihm wesentliche Hilfe empfangen. Er war ein Seelsorger großen Stils, von überragender Weisheit, die ihm aus tiefen Erkenntnissen und einer unermüdlichen Forschungsarbeit, sowie aus einer ganz umfassenden Erfahrung mit den Menschen zugewachsen war. Sein ganzes Wesen war geprägt von dem ärztlichen Willen zum Helfen, voller Güte, aber von größter Klarheit und Festigkeit des Willens, unerbittlich gewillt, auch tief verborgene Schäden auszumerzen. Aber dabei verwundete und kränkte er niemals, weil er aus einer großen warmen Liebe heraus handelte und zu raten vermochte. Weil es ihm immer um das lebendige Leben ging, konnte er sich mit Schärfe gegen uns Theologen und ihre Neigung zur bloßen Theorie wenden. Er hat ein kritisches Auge gehabt für das vielfache Versagen der Kirche und ihrer Diener, bei denen er die Verbindung von echter geistlicher Substanz und Weltoffenheit und Welthaftigkeit vermißte und ein enges, gesetzliches und hilfloses Wesen beklagte. Als Arzt wußte er, wie sehr auch der Mensch unserer Tage auf die geistliche Heimat der Kirche angewiesen ist, und warum er diese Heimat so selten findet.

LeerVielleicht läßt diese knappe Schilderung der Persönlichkeit ahnen, daß und warum Carl Happich als Meditationslehrer, als „Guru” ungewöhnliche Fähigkeiten besaß. Neben einem ganz ursprünglichen Interesse für alle Erscheinungsformen des seelischen Lebens war es wohl vor allem anderen sein leidenschaftliches Arzttum, sein Wille zu helfen, das ihn in der Erforschung und praktischen Erprobung jener uralten Wege zur Herzmitte des menschlichen Seins, zu der verborgenen, fruchtbaren Welt der Bilder und Gesichte Schritt für Schritt weiterführte. In seiner ärztlichen Praxis erschloß sich ihm sowohl die diagnostische wie vor allem die therapeutische Seite der Meditation. Mit wenigen überaus glücklich gewählten Leitbildern gelang es ihm in ungezählten Fällen, ordnend, heilend auf das Innere seiner Patienten einzuwirken. Es ging ihm nicht um Analyse der seelischen Verfassung, sondern um wirksame Synthese, um Befruchtung des seelischen Mutterbodens für neues, gesundes Wachstum, um Anregung seelischer Kristallisationsvorgänge. Das Gesunde muß das Kranke, das Gebild alles Chaos überwinden.

LeerEs war wohl auch für ihn selbst ein entscheidender Schritt und ein Tor zu neuen, weiterführenden Erfahrungen, als er sich entschloß, einen sorgfältig ausgewählten Kreis von Brüdern mit den aus der eigenen Erfahrung in der Behandlung seiner Patienten gewonnenen und erprobten Methoden der Meditation, der so heilsamen Übung in atmender Versenkung vertraut zu machen. Damit empfingen wir von ihm die entscheidenden Anregungen und Wegweisungen für die geistlichen Übungen, die das innere Leben unserer Bruderschaft in den ersten Jahren so stark geprägt haben, auf die wir uns heute aufs neue besinnen. Die denkwürdige österliche Woche auf der Westerburg im Jahre 1931, in der Happich die ersten Schritte auf dem Wege der Meditation mit uns gegangen ist, sind uns mit ihren geradezu überwältigenden und im tiefsten aufwühlenden Erlebnissen ganz unvergeßlich. Sie erschlossen uns in der Tat eine neue, bis dahin ganz unbekannte Welt.

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LeerSeine umfassenden Kenntnisse der meditativen Erfahrungen des Ostens und des christlichen Mittelalters, in Verbindung mit einer unermüdlichen praktischen Forschertätigkeit, die ihn ungewöhnliche Entdeckungen machen ließ, hatten ihn zu einem berufenen Lehrer und Meister reifen lassen. So half er uns durch Jahre hindurch vorwärts, auch als wir dann dazu übergingen, meditative Übungen zur Vertiefung des geistlichen Lebens zu schaffen, die Brücken zu schlagen von der Meditation zum Kultus, zur versenkenden Betrachtung in das Schriftwort und zur andächtigen Schau der „Zeichen” und „Gleichnisse”. Er ermutigte, warnte vor Irrwegen, machte auf Gefahren aufmerksam und ließ uns so in der Meditation eine unvergleichliche Schule der Andacht, des Gebets, des „Gehorsams” entdecken. So schuf er schließlich die Voraussetzung dafür, daß wir nicht hilflos und verständnislos vor den Dokumenten einer meditativen Tradition standen, die im deutschen Protestantismus jedenfalls seit langem abgerissen ist, obwohl die Reformatoren selbst, wie es z. B. nicht wenige Äußerungen Luthers verraten, in ihrem Frömmigkeitsleben zweifellos mit von dieser Tradition geprägt waren.

LeerWer Happichs Bibliothek kannte, der weiß, daß er eine ganz einzigartige Sammlung von Drucken und Handschriftenfotos aus dieser meditativen Tradition, insbesondere des späten Mittelalters besaß und daß die Vernichtung dieser Sammlung in dem großen Bombenangriff auf Darmstadt einen ganz unersetzlichen Verlust bedeutet.

LeerAm 18. Juni 1947 ist Carl Happich von uns gegangen, im 69. Jahre seines Lebens, nach unseren menschlichen Gedanken, Hoffnungen und Wünschen viel zu früh. Er ging einer Operation, die zunächst gelingen sollte, dann aber durch eine Embolie das plötzliche Ende herbeiführte, mit größter Sammlung und Ruhe entgegen. Er genoß die vorbereitenden Tage des Ausruhens, wie er sie in seiner ausgebreiteten und intensiven Tätigkeit selten gekannt hatte. „Ich gehe allem mit Ruhe entgegen, mit einer gewissen Heiterkeit, doch keineswegs leichtsinnig. Es liegt alles in Gottes Hand, Anfang und Ende und der Verlauf”. Auch diese Gelassenheit gehört zu seinem Bilde. Sie ist um so wunderbarer, als er noch große Aufgaben vor sich sah. Er hoffte, die Erkenntnisse, die er als Arzt und Seelsorger gewonnen hatte, in einem größeren Buch zusammenfassen zu dürfen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. So müssen seine Schüler sein Werk aufnehmen und fortführen.

Quatember 1955, S. 96.98

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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