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Reparieren oder Heilen ?
von Hans Joachim Thilo

LeerEs kann einer Zeitschrift schwerlich etwas Besseres nachgesagt werden als die Feststellung, daß sie eine Art Seismograph sei. Dies ist im „Quatember” nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Psychologie und der Psychotherapie sichtbar geworden. Die großen Erdbeben haben auf diesem Gebiet seit dem Ende des ersten Weltkrieges nicht mehr aufgehört. In den letzten fünf Jahren aber ist besonders um die Frage der Kinderpsychologie heiß gestritten worden. Jaspers, die alte pädiatrische Schule Wiens und andere stehen im Gegensatz zu den sogenannten Neo-Analytikern, wie dem kürzlich verstorbenen Professor Schulz-Hencke. Bei solcher Frontstellung wird leicht übersehen, daß es auch hier eine wohl ausgewogene Mitte gibt, die sich mehr und mehr Gehör verschafft. So scheint mir, daß die letzten Beiträge im „Quatember” zusammen mit einem mir vorliegenden Artikel Max Picards „Einbruch in die Kinderseele” ein wenig zu stark die Extreme betonen und dabei die Mittellinie übersehen haben. Die Fragestellung jedoch, um die es in den Zuschriften der letzten Nummer unserer Zeitschrift ging, ist allerdings eindeutig und wird im Gebiet der Psychologie ebenso heiß diskutiert wie in Medizin und Pädagogik: Was heißt heilen? Es soll der Klarheit dienen, wenn hier versucht wird, in Leitsätzen zu dem bisher Behandelten Stellung zu nehmen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß diese Leitsätze weniger von der theoretischen Psychologie als vielmehr aus der praktischen psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern geboren sind.

1. Die Entwicklung der Psychotherapie und ihre Bedeutung wird nur dem sichtbar, der es miterlebt hat, daß der Begriff der Heilung sowohl innerhalb der somatischen Medizin als auch der kirchlichen Seelsorge in den letzten fünfzig Jahren fraglich geworden ist. Die Zahl der Menschen, bei denen weder organisch noch seelsorgerlich eine Schädigung diagnostiziert werden kann, die aber dennoch in des Wortes tiefster Bedeutung krank sind, ist noch immer im Wachsen.
2. Psychologie, Psychoanalyse, Test-Psychologie und Psychotherapie sind vielfältig variiert. Sie sind alle Teilwissenschaften innerhalb der Medizin. Nur in dieser Klammer erhalten sie ihren Sinn, ihre Begrenzung und ihr Recht. Sie beschäftigen sich darum mit dem kranken Menschen, weil sich auch die Medizin vordringlich mit diesem beschäftigt.
3. Jede Heilung ist Einbruch (Trauma). Jede erzieherische Maßnahme, jede Liebkosung, jedes Erlebnis der eigenen oder der polaren Kontaktfähigkeit ist Einbruch. Wer das nicht will, darf nicht Seelsorger sein, darf nicht pädagogisch oder medizinisch handeln. Menschliche Beziehung gibt es nur in der Begegnung (Trüb, Pfahler, Jaspers). Aus der Begegnung kann Heilung erfolgen. Jede Begegnung bedingt Einbruch in die Sphäre des anderen (das gilt auch für die Operation). Begegnung, Heilung und Einbruch sind daher nicht zu trennen.
4. Wie bei .jeder Begegnung Heilung möglich ist, so gibt es eindeutig auch echte Heilung durch die Psychotherapie. Unter Heilung wird dabei die Aufhebung eines pathologischen Symptoms verstanden, das nicht unter anderen Vorzeichen wieder auftaucht. Die Psychotherapie weiß, daß der Prozentsatz solcher Heilungen gering ist. Sie teilt dieses Wissen mit der Neurologie und der Psychiatrie. Heilung ist immer zugleich totale Befreiung. Dort, wo die totale Befreiung nicht eintritt, sprechen wir in der somatischen Medizin von Symptom-Wandlungen, in der theoretischen Psychologie von „reparieren”. Dieser Tatbestand ist bekannt und wird beachtet.
5. Erziehungsberatung aus tiefenpsychologischen Erkenntnissen und daraus sich ergebende psychotherapeutische Hilfe beim Kind ist heute notwendiger als früher, da die beruflichen Überforderungen der Eltern und die Fülle der Zivilisationsschädigungen unserer Zeit (Villinger) die intuitive und instinktive Fähigkeit und Sicherheit väterlicher und mütterlicher Führung zurückgedrängt haben. Den Vater und die Mutter gibt es nur noch selten.
6. Psychotherapeutische Betreuung retardierender, neurotischer oder accelerierter Kinder ist Dienst am kranken Kinde innerhalb der Medizin. Hier von pseudo wissenschaftlicher Neugier zu sprechen, ist Bedrohung des ärztlichen Ethos, des Psychotherapeuten oder des Arztes. Wir, die wir Psychotherapie an Kindern in seelsorgerlicher Verantwortung treiben, halten unser Tun für einen Liebesdienst am Kind. Test-Psychologie wild gewordener Eltern, Schulmeister und Pfarrer in einem Atemzug mit echter psychotherapeutischer Arbeit zu nennen, ist das gleiche Unrecht, das einem Fachchirurgen zugemutet wird, wenn man ihn mit einer abtreibenden Hebamme gleichsetzt. Trotzdem wird auch der Psychotherapeut vom Test Gebrauch machen müssen, weil der Patient über seinen eigenen inneren Zustand weder wirklich Bescheid weiß, noch Auskunft geben kann. Hier ist der Test vergleichbar mit dem Röntgenbild. Wer das eine als diagnostisches Hilfsmittel ablehnt, muß es mit dem anderen konsequenterweise auch tun.
7. Garantien für die Integrität des Psychotherapeuten gibt es ebensowenig, wie Fachverbände die Integrität anderer Berufe garantieren können. Die Zugehörigkeit zur Akademie der Künste garantiert ebensowenig die ethische Integrität des Künstlers, wie die Zugehörigkeit zum Deutschen Pfarrerverein oder zur Michaelsbruderschaft die Integrität des Pfarrers garantiert.
8. Furcht und Ehrfurcht sind für den an Gottes Wort und Sakrament gebundenen Psychotherapeuten Kriterien der menschlichen Existenz. Scheu und Angst aber sind Hemmungen, die den Menschen unfähig machen, seinen Auftrag als „Salz der Erde” zu erfüllen. Im Kindertest wird gerade auf das scheue, verängstete und nur schwer anzusprechende Kind besondere Rücksicht genommen. Die Mehrzahl der Kindertests erspart dem Kinde jedes Wort.
9. Mit ganz wenig Ausnahmen schließt sich das Kind in der therapeutischen Praxis überraschend schnell auf. Die überwältigende Mehrzahl der therapeutisch behandelten Kinder antwortet auf das Ende der Behandlung oder das Ende der Spielstunde mit Weinen oder sichtlicher Verstimmung. Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn behauptet wird, daß die von uns behandelten Kinder sich der Spiel-, der Gruppen- oder der Test-Therapie unwillig unterzögen. Es passiert sehr häufig, daß Kinder, die nur einmal in der Woche bestellt sind, drei bis vier Mal kommen und betteln, ob sie schon heute zum Spielen kommen dürften.
10. Entgegen allen Anfeindungen und Mißverständnissen ist uns Kindertherapeuten die Fülle der tiefglücklichen Eltern und Kinder, die Zahl der in den gesellschaftlichen Prozeß wieder eingegliederten jungen Menschen eine große Hilfe gegenüber den Mißerfolgen in der Therapie und dem Unverständnis der Umwelt. Es muß aber ausgesprochen werden, daß es uns, die wir teils im kirchlichen Auftrag (Innere Mission), teils als bewußte Christen im Dienste der Kinder-Therapie stehen, traurig macht, wenn unsere eigenen Brüder und Schwestern nicht mehr zwischen den zweifellos vorhandenen atheistischen Linien innerhalb der Psychotherapie und dem, was wir als unseren Dienst ansehen, unterscheiden. Psychotherapie und Psychologie als solche verketzern heißt, ein Gebiet den Dämonen dieser und jener Welt preisgeben, in dem sie sich besonders wohl fühlen würden.

Quatember 1955, S. 98-100

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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