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Das Kind und der Test
von Max Picard

LeerWas tut die analytische Psychologie? Sie sucht den Defekt des Kindes in Beziehung zu setzen, zum Beispiel zu seiner häuslichen Umgebung oder zu seinen früheren Eindrücken, sie stellt eine Kausalreihe auf von dem Ereignis, das sie für die Ursache hält, bis hin zu der Fehlleistung.

LeerDiese Auflösung der Erlebniseinheit beim Kinde in die vielen aufeinanderfolgenden Glieder des Kausalablaufes ist gegen das Wesen der kindlichen Psyche. Die kindliche Psyche lebt von ihrem Ganzen aus, und sie bewahrt das Aufgenommene im Ganzen. Selbst ein noch so intensives Einzelerlebnis bleibt nicht isoliert: man hat gesehen, wie wenig der Schock einer Bombardierung im Krieg die kindliche Psyche in Mitleidenschaft gezogen hat. Ein heftiges Einzelerlebnis wird im Ganzen der Psyche aufgelöst, es geht im Ganzen unter, und wenn es nicht ausgeglichen werden kann, verändert es das Ganze; das Ganze wird dann anders bestimmt. Ein Einzelnes wird so auf unheilvolle Weise Mitte, das ist dann eben die Verstörung des Kindes. Aber dann ist diese Mitte überall in der Psyche, das Einzelerlebnis, das allzu intensive, wird dann zum Ganzen - so ist die kindliche Psyche immer, auch jetzt, eine Einheit.

LeerDer analytische Psychologe geht von seiner Psyche, von der Psyche des Erwachsenen aus, wenn er ein einzelnes Erlebnis aus dem Ganzen der kindlichen Psyche herausholt - das ist gegen die Art der kindlichen Psyche, aus der nichts Einzelnes abgetrennt werden kann.

LeerEine Prüfung mit Tests kann nichts Wesentliches über die Begabung des Kindes aussagen, denn die Psyche des Kindes gilt bei einem solchen Test nicht mehr als ein psychologischer Apparat, der registriert, was zu ihm gebracht wird. Diese Psychologie geht von der ganz und gar falschen Meinung aus, daß die kindliche Psyche überhaupt darauf warte, zu reagieren, ja, daß sie nur existiere, wenn sie reagiert. Die Psyche des Kindes ist aber gar nicht registrierbereit, sie ist in sich geschlossen, wie rund, zu sich selbst hingewendet, nicht im Sinne des Egoistischen, sondern sich selbst erfüllend, ganz sich anfüllend, in sich bestehend und in sich selbst ruhend. Sie hat alles bei sich. Eine so konstruierte Psyche kann nicht sofort reagieren, sie ist viel zu sehr in sich selber, als Ganzes bei sich selber, nichts ist bei ihr wie beim Erwachsenen aufgebrochen, daß sie das von außen auf sie Zukommende gleich zu sich einließe.

LeerDie Psyche des Kindes addiert nicht, sondern sie assimiliert, sie fügt das Neue nicht reaktiv an, sondern sie dehnt sich und nimmt, sich dehnend, das Neue auf. So merkt sie kaum, daß sie ein Neues aufgenommen hat, sie ist nicht beschwert durch das Neue. Begegnet sie aber einmal einem Neuen, das sie nicht gleich assimilieren kann, so muß sie zuerst aus sich herausgehen, sich selbst verlassen, sie muß viel hinter sich zurücklassen, bevor sie auf etwas Neues zugehen kann. Ein Ganzes, eine Welt wird dann gewagt, um das Neue zu sich zu nehmen, und darum ist die Bewegung weg von dieser Welt schwerfällig, langsam. Das Kind hält sich fest an sich selber.

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LeerEs ist nicht wie beim Erwachsenen, wo nichts mehr gewagt wird, wo das Neue, das kommt, gleich auf ein anderes Neues, das eben gekommen ist, trifft. Eine Welt werde beim Kinde gewagt, habe ich gesagt, das ist viel: eine Welt, in der jeder Teil eigentlich kein Teil, sondern die Stellvertretung des Ganzen ist, so sehr ist alles miteinander verbunden. Diese geschlossene Welt des Kindes, die dem Kinde paradiesisch-naturhaft vorgegeben ist, sucht der Erwachsene sich später bewußt selber zu geben: aber ohne diese Welt des Kindes, die einmal in ihm war, hätte der erwachsene Mensch nicht einmal die Sehnsucht, sich selbst, sein Inneres und sein Äußeres, als Welt zu gestalten. Die Sehnsucht des menschlichen Geistes nach einer von ihm geschaffenen Welt, diese Sehnsucht kommt her von der Erinnerung an die Welt des Kindes. Diese Welt des Kindes unterwölbt die Welt des Erwachsenen, darum ist die Welt des Kindes, das Kind im Erwachsenen, notwendig. „Wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, findet sich die Grazie wieder ein” (Kleist).

LeerEin Kind, eingeschlossen in seine runde Welt, kann gar nicht rasch und mit geschickten Kombinationen reagieren. Es hat auch eine Scheu, aus diesem Geschlossenen herauszugehen, und es ist wichtig, daß das Kind diese Scheu hat; die Scheu gehört zum Kostbarsten, das der Mensch haben kann. Bei diesen psychologischen Prüfungen aber, bei diesen Tests, gilt das Kind am meisten, das am wenigsten Scheu hat, das Kind, das am meisten bereit ist, auf alles rasch zu reagieren. Die Welt des Kindes hier und der psychologische Registrierapparat dort - das ist kein Adäquatum. Die psychologische Testapparatur achtet die Scheu gering. Sie arbeitet so, als ob es die Scheu im Kinde gar nicht geben dürfe, sie nimmt dem Erwachsenen schon im Kinde die Scheu weg.

LeerDie kindliche Psyche ist eine urhafte, primäre Gegebenheit. Es ist ihr nur wohl in der Nähe anderer primärer Gegebenheiten. Eine solche primäre Gegebenheit sind vor allem die Eltern. Es ist nicht genug, daß der Vater dem Kind als derjenige erscheint, der das Geld für das Essen und Trinken erarbeitet, die primäre Gegebenheit des Väterlichen muß deutlich werden. Das Väterliche aber ist das vor allem Schaffen Vorschaffende, das vor allem Mahnen Vormahnende - der Vater darf nicht bloß da sein als der bloß Ältere, Erfahrenere. Das ist aber nur möglich, wenn das wirklich Vaterhafte, Väterliche seine Entsprechung hat im Vater, der über allem Vater ist. So muß auch die Mutter sichtbar sein als das Vorsorgende, Vorschützende, ehe es überhaupt einen Anlaß zum Sorgen und Schützen gibt. Weil die Mutter da ist, darum nur gibt es ein Sorgen und Schützen, das ist der Psyche des Kindes adäquat.

LeerGenau so muß der Lehrer da sein: nicht als einer, der nur mehr weiß als der Schüler, sondern als einer, der über alles Lehren hinaus der Lehrer ist, als einer, von dem die Lehre ausgeht, noch ehe er anfängt, konkret zu lehren. Wie das der wahre Arzt ist, von dem aus schon der Heilungsprozeß beginnt, wenn er in das Krankenzimmer hineintritt, noch bevor er untersucht und die Arznei verschrieben hat, wie vom wirklichen Arzt primär das Heilen ausgeht, so muß vom Lehrer, wenn er die Tür zum Schulzimmer öffnet, das Lehren ausgehen, noch bevor er etwas erklärt hat. Dieser konkrete Akt des Lehrens holt dann nur das nach, was schon durch die Art des Lehrers vorgeleistet ist.

LeerAuf diese Weise ist die Psyche des Kindes, diese primäre Gegebenheit, im Zusammenhang mit dem, was mit ihr verwandt ist, mit den anderen primären Gegebenheiten. Diese primären Gegebenheiten sind keine pure Faktizität - sie gehen über das bloß Faktische hinaus, auch über das Persönliche gehen sie hinaus.

Leer„Sonderbar, daß das Innere des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, die die Stellen im Heiligtum eingenommen haben, wo echte Götterbilder stehen sollten” (Novalis).

Quatember 1955, S. 100-101

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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