|
von Hans Joachim Dummer |
Iona ist ein Begriff in der angelsächsischen Welt. Um diesem Begriff Fleisch und Blut in meiner Vorstellung zu geben, besuchte ich im August 1954 die Insel und bereue den weiten Weg nicht, den man durch England und Schottland machen muß, um dorthin zu gelangen. Sie ist nämlich der äußerste Teil der Hebridengruppe. Ich war nicht der erste Deutsche und werde hoffentlich auch nicht der letzte bleiben, der auf diesem wunderbaren Eiland zumindest dieses eine wieder lernte, daß aller missionarische Wille in der Einsamkeit mit Gott, in der abgeschiedenen Zelle, umgeben aber von der tragenden und korrigierenden Gemeinschaft von Brüdern entsteht und immer neu befruchtet werden muß. Man fährt durch die kahle und schroffe Bergwelt der Highlands hindurch, bevor man zur Westküste Schottlands und damit unserem Ziele nahe kommt. Und das ist gut so, um zu begreifen, daß die Schotten ein rauhes Klima gewöhnt sind, das wohl in etwa auch den nüchternen Presbyterianismus der Kirche von Schottland förderte im Gegenteil zum milden Klima Englands und seinem Anglikanismus. In dieser Gegend haben sich die Anhänger des John Knox zäh verteidigt, als ihr Führer und Reformator nach anfänglichen Erfolgen besiegt, ins Gefängnis geworfen und zum Galeerendienst verurteilt war. Wir fuhren eine der Paßstraßen hinab in die schön gelegene und windgeschützte Bucht von Oban, bevor wir auf unserer Insel wieder den schneidenden Wind des Ozeans zu spüren bekamen, vor dem man sich als Mitteleuropäer selbst nach einem glühend heißen Tag nachts kaum mit den üblichen Decken des Barackenlagers schützen konnte. Oban ist von den ganz wenigen Orten der Westküste wohl der größte, eine mittlere Stadt, in der jetzt eine ganz moderne, die größte Kirche ihrer Vollendung entgegengeht. Es ist eine römisch-katholische, obgleich diese Gegend für sie Diaspora ist. Oban wurde im vergangenen Jahr bekannt durch eine direkte Kabelverbindung nach den USA und ist für alle Iona-Reisenden wichtig als letzter Brückenkopf für die Verbindung vom Festland zur Insel. In Buchläden und Papierhandlungen nehmen Ansichtspostkarten und Beschreibungen von Iona im Verhältnis zu anderen Sehenswürdigkeiten den ersten Platz ein. Die eigentlich geistlichen Führer und Bilder von der Abtei und den Heiligtümern sind nur am Buchstand im Kloster, also auf der Insel zu erwerben, falls man sie nicht in den kirchlichen Buchhandlungen von Glasgow oder Edinburgh kauft. Sie werden von dem der Iona Community eigenen Verlag herausgegeben (The Iona Community Publishing Department, Community House, 214 Clyde Street, Glasgow C1). Wir haben die Insel Mull mit Bussen zu durchqueren, die scheinbar aus den ersten Zeiten der Motorisierung stammen und unsere Glieder zwei Stunden lang recht durcheinander rütteln. Damit erhalten wir den ersten leiblichen Kontakt mit dieser Inselwelt. Die meisten Mitfahrer sind bereits daran gewöhnt, da sie schon einmal oder mehrmals auf Iona waren. So ein Professor mit seiner Familie und zwei Studenten, mit denen ich ins Gespräch kam. Diese schlechte Straße über felsige Höhen und durch fast unkultiviertes Gelände, unterbrochen durch wenig Wald, urwaldartiges Gestrüpp und einige wenige Gehöfte und Ansiedlungen, wird einmal im Jahr von Freunden und Anhängern der Iona Community zu Fuß gepilgert. Ich hatte die Ehre, eine Lady aus dem berühmten Geschlecht der Argyll auf der Insel kennenzulernen, die die letzte Pilgrimage persönlich mitgemacht hatte. Damit sind wir Iona sehr nahe gekommen und haben auch schon den Besitzer erwähnt. Es ist der Duke of Argyll. Sein Vorgänger, George VIII. schenkte die Abtei der Kirche von Schottland, obgleich die römische Kirche sie gerne gekauft hätte. Die Abtei-Kirche, die zeitweise auch Kathedrale eines Bischofs der Hebriden gewesen ist, war wie die Klosteranlage seit der Säkularisierung 1561 sehr verfallen. Diese Schuld ihrer Reformation hat die presbyterianische Kirche wieder beglichen, indem sie von 1902 bis 1910 mit einem Kostenaufwand von rund 420 000 DM - zum Teil durch öffentliche Sammlungen eingekommen - die Kirche wieder in der alten Form durch geschickte Einfügung der Überreste aufbaute. Die Iona Community hat seit 1938, ihrem Gründungsjahr, die Wiederherstellung des Klostergebäudes übernommen. Von der Westküste der Insel Mull bringen uns kleine Fischerboote in einer halben Stunde an unser Ziel. Ein kleiner Anlegeplatz und eine große Menge von Leuten, soweit man bei den wenigen Einwohnern und Gästen davon reden kann, empfangen uns, denn nur zweimal täglich kommen diese „wirklichen” Besucher an. Und dann betreten wir diesen geheiligten Boden, geheiligt durch das entsagungsvolle Leben und Sterben der ersten Boten des Evangeliums, der iro-schottischen Mönche, die von hier aus Schottland, England, ja weite Teile Nordeuropas einschließlich Deutschlands missionierten. Wir betreten eine Insel, die jahrhundertelang trotz ihrer denkbar ungünstigen Verkehrslage Wallfahrtsort der ersten Christen Nordeuropas war. Wir betreten aber auch ein kleines Stück Erde, das von einer ganz eigentümlichen und unvergeßlichen Schönheit ist durch seine immergrünen Weiden und Moosbänke, die sich wie ein weicher Teppich über dieses sonst so kahle, fast baumlose und felsige Eiland ausbreiten. Wunderbare Blumen und Blüten prunken im Sommer mit ihren Farben. Und auch im Winter bleibt es grün - wir sind ja Irland, der immergrünen größeren Freundin nahe. Und dazu der tiefblaue Ozean - ein Paradies für Farbphotographen. Doch wir haben erst morgen Zeit, alles näher zu betrachten. Die Familien und Frauen verteilen sich auf die wenigen Häuser, die an der windgeschützten Südostseite liegen, auf die beiden großen Zeltlager und zwei winzige „Hotels”, die nicht einmal elektrisches Licht (Stromleitungen reichen nicht bis hierher) und nur einen Waschraum für alle bieten können. Aber sie sind im Sommer immer belegt. Auf dem Wege sehen wir das erste Iona-Kreuz, später vor der Abtei ein noch schöneres, das St. Martins-Kreuz aus dem zehnten Jahrhundert. Drudische Schlangenzeichen und andere heidnische Ornamente sind in den sich nach unten verbreiternden langen Schaft eingearbeitet und durch das Kreuz überwunden. Es ist das erste Zeichen, das sich allmählich die sonst schmucklosen Abendmahlstische dieser Kirche erobert und auch auf dem Altar der Abtei (in den offiziellen Beschreibungen aber auch nur Communion-Table genannt, obgleich er praktisch als Altar benutzt wird) hinter der Bibel steht. Alle Mitglieder benutzen es in verkleinerter Form bei ihren täglichen Gebeten. Schließlich kommen wir auf dem kurzen Wege - weite Wege gibt es nicht, da die ganze Insel nicht länger als fünf Kilometer und nicht breiter als zweieinhalb Kilometer ist - zu Reilig Odkrain (wie Iona und andere Namen auf der Insel gälischen Ursprungs und nicht mehr eindeutig zu erklären). Es ist der „Friedhof der Könige”, der dicht bei der Abtei liegt. Hier liegen fast alle schottischen Könige von 860 bis 1100 begraben, außerdem vier irische und sieben norwegische Könige neben vielen Unbekannten aus allen Teilen Nordeuropas, die in den alten Zeiten hierher pilgerten, um auf diesem Boden zu sterben, oder ihre Leichname dorthin bringen ließen. In einer Ecke fand ich auch das Grab eines deutschen Fliegers, der 1941 hier abstürzte, und dicht daneben den Grabstein eines unbekannten englischen Marinesoldaten, der ebenfalls in diesem Kriege angeschwemmt wurde. Fürwahr ein ökumenischer Boden. Und nun sind wir endlich am Ziel. Wir geben sofort in eine der Baracken, in denen vorläufig noch geschlafen, gegessen und geistig gearbeitet wird. In diesem Sommer sollen aber bereits zwanzig Einzelräume (Zellen) des eigentlichen Klosters beziehbar sein. Bibliothek und sonstige Arbeitsräume werden ebenfalls benutzt werden können. Dann wurden wir dem Leiter der Iona Community Dr. theol. George Macleod vorgestellt, einem sehr eigenwilligen Geistlichen der Kirche von Schottland, der in diesem Jahre seinen sechzigsten Geburtstag feiert. Er stammt aus dem Hochland. Viele Vorfahren bekleideten die höchste Stellung seiner Kirche als Moderatoren. Obgleich er wohl der bekannteste schottische Pastor ist und in diesem Wintersemester als Gastprofessor an dem Union Theological Seminary in New York lehrte, wird man ihn nicht so schnell zum Moderator wählen. Die Generalversammlung hat allerdings die Arbeit der Community immer begrüßt und 1951 einstimmig beschlossen, diese Bewegung offiziell in die Kirche einzugliedern, nachdem sie ihr beim Beginn im Jahre 1938 auch ihren Segen erteilte. Es besteht jetzt in der Kirchenleitung die Iona-Community-Abteilung, die direkt der Generalversammlung verantwortlich ist.
Wir hatten am folgenden Tage, einem Sonntag, Gelegenheit, mit der Gemeinschaft diesen Holy-Day, diesen heiligen ersten Tag der Woche (in einer kleinen Schrift über das Kirchenjahr so neu von ihnen verdeutlicht) zu begehen. Der Hauptgottesdienst wird regelmäßig mit dem Heiligen Mahl gehalten, wie es auch John Knox wollte im Gegensatz zur römischen Kirche. Diese bot nämlich in Schottland vor der Reformation nur zweimal im Jahr dieses Sakrament an, so wie es heute allgemein bei den Presbyterianern üblich ist. Der Wortteil beginnt mit dem Einzug des Pastors, der die Bibel trägt, und dem sechs Diakonen, Mitglieder der Gemeinschaft, vorangehen. Der Pastor, in diesem Fall Dr. Macleod selbst, trägt den üblichen Talar mit Bäffchen, dazu die Hood (eine Art Kapuze) in der Farbe seiner Fakultät, falls er einen akademischen Grad besitzt. Die Diakone (offiziell einfach Servers genannt) tragen einen schlichten dunklen Anzug und eine dunkelblaue Kravatte, die auch bei anderen Gelegenheiten von den Mitgliedern bevorzugt wird. Mit dem stehend und gemeinsam gesprochenen Apostolischen Glaubensbekenntnis - nach einer kurzen und in diesem Fall sehr biblischen und abgelesenen Predigt - endet der erste Teil. Zum Sakramentsteil zieht der Pastor nochmals mit den Diakonen ein, diesmal mit Brot (keine Hostien) und Wein (süßer Rotwein in durchsichtigen großen Kelchen). Diese beiden Einzüge werden als Angleichungen an die Form der keltischen Kirche erklärt, die bekanntlich dem östlichen Ritus folgte und Rom nicht unterstand. Anamnese, Epiklese und andere ökumenische Teile der Messe fehlen nicht, nur die Segnung der Gemeinde zum Schluß. Es ist eine abgekürzte Form der neuen Ordnung des „Book of Common Order” der Kirche von Schottland, die sich aber noch sehr wenig durchgesetzt hat. Die Kelche werden von den sechs Diakonen, die während der Segnung mit dem Pastor hinter dem Altar zur Gemeinde gewendet stehen, durch die Reihen der Gemeinde gereicht, Blumen stehen auf dem Boden vor dem Altar, Kniekissen, die sonst nicht üblich sind in dieser presbyterianischen Kirche, werden beim Sündenbekenntnis und bei den Gebeten benutzt. Psalmodieren ist unbekannt. Meist wird mehrstimmig gesungen. Die Kirche war voll, übrigens auch bei den täglichen Gottesdiensten. Die Brüder sitzen im Chorgestühl des Altarraumes mit den Spezialarbeitern zusammen, die in geringer Zahl für die Monate Juni bis August, wenn das Hauptquartier der Community auf der Insel ist, angestellt und tarifmäßig bezahlt werden. Diese Arbeiter saßen ohne Hemmungen mit Professoren und Pastoren beim Essen zusammen und beim Beten im Chorgestühl und arbeiteten freiwillig auch nach Feierabend noch am Kloster, weil es ihnen offenbar Spaß machte. Im Kirchenschiff sitzen die Gäste und vor allem die Jugendlichen aus den beiden großen Zeltlagern. Diese jungen Menschen beiderlei Geschlechtes stammen meist aus den Industriegebieten und sind zwischen siebzehn und dreißig Jahren alt. Sie bleiben für eine Woche dort und haben neben viel Freizeit Bibelstunden, Vorträge und Diskussionen, die von einem Bruder der Gemeinschaft geleitet werden. Auf diesem Wege erreicht die Community jeden Sommer rund 700 Jugendliche und bringt sie ihren Zielen nahe. Wir wanderten über die felsigen Hügel zur Nordwestküste weiter, wo sich der weite Ozean ohne Unterbrechung bis zur Küste von Labrador ausdehnt. Unterwegs kommen wir an vielen Punkten vorbei, wo sich besondere kirchengeschichtliche Ereignisse abspielten. Dicht neben der Bootanlegestelle ist eine der wenigen windgeschützten Buchten mit herrlichem weißem Sand, die „Martyrs Bay”, wo im Jahre 806 die Wikinger 68 Mönche ermordeten und das Kloster zerstörten. Das wiederholte sich auch späterhin. Aber das Kloster wurde immer wieder aufgebaut. Es war ein zäher Wille vorhanden, dieses Zentrum der Mission zu erhalten. Und an diese Tradition knüpft die Community bewußt an. Am Sonntagabend ist kein besonderer Gottesdienst wie alltags abends. Nach dem Tee, der dann im Refektorium eingenommen wird, ist in der Abtei-Kirche eine Schweigezeit. Sie wird eingeleitet durch ein Bibelwort und eventuell eine kurze Ansprache, die der Meditation eine Grundlage geben sollen. Lieder werden nicht gesungen. Wer laut beten möchte, kann es tun. Meist aber wird schweigend meditiert und gebetet. Es ist eine merkwürdig erfüllte Stimmung in diesem geheiligten Raum, die noch durch das Licht einer einzigen Kerze unterstrichen wird. Am nächsten Morgen beginnen die Arbeitstage. Um 7 Uhr wird geweckt um 7.30 ist Frühstück und um 8 Uhr das halbstündige Morgengebet in der Abtei-Kirche. Es hält sich im einzelnen nicht an das Stundengebet der Kirche, hat aber ein Psalmlied, wechselnde Gebete und Lesungen, das Gloria patri, das Vaterunser und ein freies Gebet. Die anschließende Arbeit geschieht morgens meist mit der Hand, und nachmittags mit dem Kopf. Auch die Gäste werden eingespannt und beschäftigt, wenn auch nicht gerade mit Steineschleppen, so doch mit Kartoffelschälen. Das Abendgebet in der Kirche hat eine sehr freie Ordnung. Reverend Morton, der Sekretär der Gemeinschaft, gab im Gespräch zu, daß man hier noch keine abschließende und ausgereifte Form gefunden habe. Man kann und soll nicht immer auf einer Insel, auch nicht immer hinter Klostermauern leben. Darum zogen St. Columba und seine Brüder immer wieder in die weite Welt hinaus. Darum verlegt auch die Community ihr Hauptquartier von Anfang September bis Ende Mai nach Glasgow (eine Zweigstelle neuerdings auch nach Edinburgh). Darum verließ auch ich eines Tages die Insel, um via Glasgow zu meiner Arbeit zurückzukehren. Diese größte Stadt Schottlands wurde von einem Abt (St. Kentingern, im Volksmund St. Mungo, 603 gestorben) gegründet. Im Zentrum des Hafenviertels, wo das Herz dieser geschäftigen Industriestadt am lautesten schlägt, hat die Community vor Jahren ein Haus erworben, das Community House. Dort werden im Erdgeschoß billige, aber gute Speisen verkauft. Und die Arbeiter kommen sehr zahlreich. Neben dem großen Eßsaal ist ein kleiner Andachtsraum, nur durch einen Vorhang getrennt, mit einem kleinen Altartisch und dem Iona-Kreuz darauf. Dort werden mittags und abends kurze Andachten gehalten, die alle im Saal mithören. Wer will, kann teilnehmen. Mitten zwischen den Essenden aber hängt an der Wand ein modernes Gemälde, auf dem Christus dargestellt ist, wie er den an den Tischen Sitzenden Sein Brot anbietet. In den oberen Stockwerken befinden sich neben den Büros der Community und einiger Sozialarbeiter Aufenthaltsräume für jedermann mit vielen guten Büchern und Sesseln und vor allem sehr gut ausgestattete Unterrichtsräume. Billige Abendkurse laufen den ganzen Winter hindurch über die verschiedensten Diskussionsthemen, für die man bei uns meist nur die Gewerkschaft als zuständig hält: Arbeits- und Gewerkschafts-Fragen, Ehe, Politik, Wirtschaft und natürlich auch religiöse Fragen. Auch viele praktischen Kurse finde ich auf dem Programm angeboten: Schreibmaschinenschreiben, Stenographie, Photographieren, Filmen, Gymnastik, Theaterspielen. Alle Bewohner des Hauses und alle Teilnehmer der Kurse treffen sich abends abschließend in der Kapelle des Erdgeschosses zu einem kurzen Abendgebet wieder. So endet alles unter dem Kreuz, von dem immer neue Kraft ausströmt. Quatember 1955, S. 104-108 [Website der Iona Community] |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-19 Haftungsausschluss |