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Vom Bund zur Bruderschaft
(Nach einem Menschenalter XI)
von Walter Uhsadel

LeerEs scheint uns heute kaum glaublich, daß der Mann, der um die Jahrhundertwende von der kirchlichen Schonzeit sprach, mit der kirchengeschichtlichen Entwicklungslinie etwas zu tun haben sollte, die zur Evangelischen Michaelsbruderschaft führte. Es war der Hamburger Pastor von St. Pauli Clemens Schultz, Begründer des Bundes deutscher Jugendvereine, aus dem zahlreiche spätere „Berneuchener” hervorgegangen sind.

LeerFür viele der Älteren unseres Kreises war er der große Lehrmeister einer neuen Form der Jugendarbeit. Wer in den alten Berichten aus der Zeit vor dem ersten Kriege blättert, stößt auf Namen, die uns heute in der Michaelsbruderschaft oder im weiteren kirchlichen Bereich wohlvertraut sind: Otto Dibelius, Wilhelm Stählin, Wilhelm Gottschick, Friedrich Fuckel, Gotthold Donndorf, und aus der Schar derer, die nicht mehr unter uns weilen: Ludwig Heitmann, Walther Classen, Kurt Zeuschner.

LeerWas diese Männer zu Clemens Schultz zog, war die Erkenntnis, daß die Kirche neue Wege suchen müsse, um ihren Dienst an der Welt auszurichten, war vor allem aber die Tatsache, daß Clemens Schultz von neuen Wegen nicht redete, sondern sie ging. Zu Hunderten scharten sich die Jungen von St. Pauli allsonntäglich um ihn, und über die Jugend griff seine Seelsorge tief in das Lehen der vielfältig gefährdeten Gemeinde ein. Nur mit Widerstreben ließ Clemens Schultz sich bewegen, über seine Arbeit zu reden. Aber indem er zu reden genötigt wurde, bekannte er sich zu einigen Grundsätzen. Zu ihnen gehörte auch die Forderung einer „kirchlichen Schonzeit” für das Jugendalter zwischen etwa 14 und 20 Jahren.

LeerEs war seine Überzeugung, daß dieses Alter nicht geneigt ist, sich in kirchliche Lebensformen einzufügen, die der Gemeinde der Erwachsenen vertraut sind und selbstverständlich scheinen. Er dachte dabei keineswegs an die Ordnung des sonntäglichen Gottesdienstes, sondern an die vom Pietismus geprägte Gebetsgemeinschaft der Bibelstunde. Wie wenig er kirchliche Ordnung und Lebensform verachtete, zeigte, wie sein Freund Walther Classen berichtet, seine Vorliebe für den Talar. Es war für ihn selbstverständlich, daß er zu seiner Sprechstunde und zum Konfirmandenunterricht die lange schwarze Sutane trug, die zur hamburgischen Amtstracht gehört. Das geistliche Decorum war für ihn keine Dekoration.

LeerEr liebte auch die musica sacra und die christliche Kunst, und das priesterliche Handeln im Gottesdienst der Gemeinde war die Lebensmitte seines seelsorgerlichen Wirkens, so daß die kleine Kirche im Hafenviertel St. Pauli am Sonntag das Ziel von Menschen aller Kreise aus der ganzen Stadt war. Aber wenn er am Sonntagabend unter seinen Jungen saß, war er nichts als der ältere Freund. „So wenig ich auch im Verein den Pastor herauskehre, so sehr habe ich meinen einzelnen jungen Freunden als Pastor dienen dürfen. Unsere Jugend braucht auch keine Lehrer mehr, sie hat deren genug gehabt und genießt das Bewußtsein, ein Schüler zu sein, immer noch viel zu sehr in den Fortbildungsschulen.”

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LeerSeine Jungen wußten, was er vom Gebet hielt. Er aber hatte eine große Scheu, sie im Rahmen ihrer Zusammenkünfte zu einer Gebetsgemeinschaft um den Tisch zu nötigen, weil er nichts mehr fürchtete, als auch nur einen einzigen in eine unechte Situation zu bringen und womöglich zum Heuchler zu erziehen. Um so mehr freute es ihn, zu sehen, wie die Jungen, mit denen er ein fröhliches und ernstes geselliges Leben pflegte, am Sonntagmorgen von selbst den Weg zum Gottesdienst fanden.

Leer„Kirchliche” hieß für Clemens Schultz nicht „religiöse” Schonzeit. Er meinte in der Formel nichts anderes, als daß die jungen Menschen zu keiner Lebensform genötigt werden sollten, die ihrem inneren Leben nicht entsprach, daß sie aber in ihrem Seelsorger den verstehenden Freund finden sollten, mit dem sie alle ihre Fragen und Zweifel besprechen könnten.

LeerAus Clemens Schultz' Arbeit ist 1909 der „Bund Deutscher Jugendvereine” entstanden, der nach dem ersten Kriege eine große Wandlung durch den Einbruch der Jugendbewegung erlebte. Es wird für jüngere Leser nötig sein, zu sagen, daß mit dem Worte Jugendbewegung nicht die Gesamtheit bestehender Jugendorganisationen gemeint ist. Das Wort bezeichnet vielmehr eine einmalige Erscheinung, den ganz spontanen und selbständigen Aufbruch junger Menschen zu einer eigenen Lebensgestaltung im Protest gegen überlieferte Formen und in dem Willen, neue zu finden. (Ich habe darüber etwas mehr in der Festschrift für Wilhelm Stählin „Kosmos und Ekklesia” unter dem Titel „Der Beitrag der Jugendbewegung zur Erneuerung der christlichen Unterweisung” gesagt.) Für den B. D. J. war es von entscheidender Bedeutung, daß in ihm Männer vom Geiste Clemens Schultz' unter der Jugend standen, die Verständnis für das selbständige Wollen der jungen Menschen hatten und sich daran freuten, wenn es auch mitunter wunderliche Wege ging.

LeerDamals entstand im B. D. J. eine junge Führerschicht, Handwerker, Kaufleute, Arbeiter, Studenten, junge Männer und junge Mädchen begannen, ein neues jugendliches Gemeinschaftsleben zu formen, das sie über soziale Klüfte verband und auch die Brücke zwischen Stadt- und Landjugend schlug. Die Pastoren, die „älteren Freunde”, traten beiseite und blieben als Helfende bereit, junge Pastoren lebten mit der Jugend in ihrem neuen Lebensstil. „Vom neuen Lebensstil” - so hieß die Flugschrift eines dieser jungen Pfarrer - Wilhelm Stählin.

LeerZum neuen, jugendlichen Lebensstil gehörte nun aber auch, daß die Jugend nach eigenen Formen der Feier und des Gottesdienstes fragte. Karl Ferdinand Müller hat in seinem großen Beitrag zu „Theologie und Liturgie” (Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche) gezeigt, wie stark das Wollen der Jugendbewegung an der liturgischen Erneuerung beteiligt war. Freilich sträuben sich dem heutigen Liturgiker die Haare, wenn er die von der Jugend selbst - mit und ohne Hilfe junger Theologen - gemachten Gottesdienstordnungen betrachtet. Wenn der Liturgiker aber ein wenig mehr als Liturgiker ist, wenn er nur einen Anflug von seelsorgerlicher oder erzieherischer Weisheit hat, so wird er erkennen, welchen Wert diese Versuche nicht nur für die Jugend, sondern auch für die Erneuerung des gottesdienstlichen Lebens der Gemeinde hatten.

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LeerWir sollten uns nicht schämen, zu sagen, daß in diesen romantischen Unternehmungen junger Menschen eine Wurzel unserer jetzigen gottesdienstlichen Lebensordnung liegt. Hier auch ist der Grund dafür zu suchen, daß „Berneuchen” oft als eine liturgische Bewegung betrachtet worden ist und daß wir uns vergebens gegen diese Auffassung wehrten. Es kann aber an dieser Stelle gerade erkannt werden, daß die Bestrebungen, die unter dem Namen Berneuchen begannen und in der Evangelischen Michaelsbruderschaft Gestalt fanden, über die liturgischen Bemühungen weit hinausgehen. Sie haben einen umfassenden seelsorgerlichen Sinn und im Blick auf die junge Generation den Charakter eines ganzheitlichen erzieherischen Wollens.

LeerUnter den zweiundzwanzig Stiftern der Michaelsbruderschaft kam etwa die Hälfte aus jener jungen Führerschicht des B. D. J. der vorigen Nachkriegszeit, andere stammten aus anderen Kreisen der Jugendbewegung. Es könnte so scheinen, als sei Clemens Schultz durch diese Entwicklung an einem entscheidenden Punkte korrigiert worden. Dem ist aber nicht so. Er wußte ganz genau, daß die Jugend nicht abgeneigt ist, sich in die Form des Gemeindegottesdienstes zu stellen und freute sich, daß die Jungen das aus der inneren Verbundenheit mit ihrem Freund und Pastor auch taten. Was er für die Jugend ablehnte, war jene subjektivistische kirchliche Lebensform, die den einzelnen zu Entscheidungen und Bekenntnissen drängt. Es gehört zu unseren wichtigsten Erfahrungen seit der Zeit der Jugendbewegung und bestätigt sich jedem, der heute verstehend mit der Jugend umgeht, daß der junge Mensch sich gern und sachlich in gegebene Ordnungen stellt und sie aktiv mitträgt, weil sie ihm seine innere Freiheit lassen, daß er sich aber gegen jede Art zudringlicher Beeinflussung, die sich leider oft genug des sogenannten freien Gebetes bedient, zur Wehr setzt.

LeerWir haben es in den Jahren um 1925 in Hamburg erlebt, wie die Jugend zu den großen Gottesdiensten strömte, die Jugendpastor Gotthold Donndorf, einst mit Wilhelm Stählin Leiter des B. D. J., jetzt Vorsteher des Rauhen Hauses, mit der Jugend selbst vorbereitet hatte. Wir haben die großen „Kirchlichen Jugendwochen” unter Gotthold Donndorfs Leitung erlebt, in denen Männer und Frauen, die selbst aus der Jugendbewegung stammten, in den überfüllten größten Sälen Hamburgs zur Jugend sprachen. Das war im entkirchlichten Hamburg möglich, und die, die kamen, waren nicht solche jungen Menschen, die an kirchliche Traditionen gewöhnt waren, sondern fragende und suchende.

LeerDie verheißungsvolle Entwicklung wurde 1933 jäh zerstört. Im Sommer 1932 fand die letzte große Bundestagung des B. D. J. in Weimar statt. Wilhelm Stählin sprach zu den Tausenden jungen Männern und Mädchen: „Woll'n predigen und sprechen vom Heil'gen deutschen Reich”.Aus dem heiligen, das heißt christlichen, ist ein sehr unheiliges Reich geworden. Nach seinem Untergang müssen wir neu beginnen. Wir können nicht dort anknüpfen, wo wir vor einem Menschenalter standen. Aber wir sollten aus Erfahrungen und Erlebnissen lernen und das Gelernte weitergeben.

Quatember 1955, S. 157-159

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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