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Michael und die Juden
von Jacob Ernst Koch

LeerZu jeder lebendigen Zeitschrift gehört das Echo der Leserschaft in Zustimmung und Kritik. Es hat „Quatember” in den drei Jahren seines Bestehens nie daran gefehlt. Insbesondere hat das vorige Heft über das Thema „Israel und die Oekumene” lebhafte Kritik gerade aus Kreisen der Michaelsbruderschaft hervorgerufen, wie sie auch in der Schlußbemerkung des Briefes des Herausgebers (Seite 252) zum Ausdruck kommt.
Nicht minder bemerkenswert scheint uns daneben auch das zustimmende Echo, das in dem nachfolgend abgedruckten Beitrag seinen Ausdruck findet. Wir sind uns bewußt, daß dieser etwas skizzenhafte Beitrag einige sehr ungeschützte Aussagen enthält. Doch schien er uns besonders gut in ein Michaelisheft zu passen, wozu wir einige Sätze aus dem Begleitbrief des Verfassers entnehmen: „Die gewagte Aussage, daß in die Oekumene nicht nur Rom und Moskau, sondern auch Jerusalem gehört, ist zweifellos richtig und öffnet ganz tiefe Perspektiven. Es gibt im Protestantismus nicht nur einen starken Argwohn gegen katholisierende, sondern einen ebensolchen gegen judaisierende Tendenzen. Darum, Bruder, bleibt nur tapfer und fest und treu auf dieser Linie! Es ist die Königslinie der ganzen Theologie und der Geschichte, der Heils- und Weltgeschichte, und unsere Michaelsbruderschaft gehts ganz besonders an. Denn Michael ist der Retter Israels in der Endzeit, und wir haben hier von der innersten Linie her einen ganz entscheidenden Auftrag, oder wir bleiben in Romantik stecken”.
Einem anderen Michaelsbruder danken wir den sehr wertvollen Hinweis auf einen genau gleichzeitig mit unserem Johannisheft in der Juninummer der „Oekumenischen Rundschau” erschienenen Aufsatz des Pariser Professors Fedor Lovsky über „Die christliche Hoffnung und das Geheimnis Israels”, aus dem wir an dieser Stelle wenigstens einige charakteristische Sätze zitieren möchten. Der Orthodoxe Lovksy nennt den „Fall Israels” ähnlich wie der Katholik Demann „einen Bruch, eine Spaltung innerhalb des Volkes Gottes”. Gott habe Israel nicht ausgerissen, um einen neuen Baum zu pflanzen, sondern die Kirche wurde „auf Israel aufgepfropft und so mit ihm verbunden und würde sterben, wenn man sie von dem jüdischen Stamm losrisse”. Wegen des Fehlens der Juden sei die Kirche zu griechisch, zu syrisch oder zu lateinisch geworden: „Zu lateinisch für die Griechen, zu byzantinisch für die Angelsachsen, zu westlich für die Menschen des Ostens, leidet die Kirche tief an dem Fernsein Israels”. Es will uns gerade als Aussage aus dem geistlichen Bereich der Ostkirche sehr bedeutsam erscheinen, wenn Lovskys Aufsatz in die Feststellung ausmündet: „Ohne Israel wird es keine christliche Einheit geben, weil dann die christliche Fülle fehlt.”


LeerIn weiten Kreisen der Christenheit herrscht die Meinung, das Volk Israel sei für alle Zeit wegen der Kreuzigung und des auf sich selbst herabgerufenen Fluches („Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder”) und der Ablehnung des Evangeliums von Gott verworfen und aus Seinem Heilsplan ausgeschieden. An seine Stelle sei dafür das „neue” Israel Gottes, die Kirche aus Heiden und Juden, vor allem aber aus den Heiden getreten, auf die nun alle Verheißungen des alten Israel übergegangen seien, während man die Flüche dem Judenvolk überläßt. Diese Auffassung ist eine allzu bequeme Vereinfachung des Problems. Paulus, der Völkermissionar, der am tiefsten unter den Aposteln um das Schicksal seines Volkes gerungen hat, schreibt in den drei gewichtigen Kapiteln neun bis elf des Römerbriefs: Gott hat sein Volk nicht verstoßen (Röm. 11, 1. 2), sondern hält ihm die Treue trotz seiner Untreue und Blindheit, trotz der Gerichtssituation, in der es sich befindet.

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LeerSören Kierkegaard, der einsame nordische Denker, charakterisiert die Lage des jüdischen Volkes nach Christus: „Es bleibt stehen in der Situation des Untergangs und drückt den Untergang aus wie ein göttliches Honneur für Christus in der Geschichte.” Diese Deutung zeigt erschütternd die Geschichtstragik dieses einzigartigen Volkes unter den Völkern an: immer wieder wird es verfemt, ausgestoßen, ausgeplündert, brutal zertreten und - es geht doch nicht unter, während alle Feinde Israels untergehen! Die Erhaltung in der Untergangssituation ist aber nicht das letzte Wort und Kapitel Gottes mit diesem Seinem Volk. Er hat mit Israel noch einen anderen Plan. So sagt Hosea (3,4.5): „Die Kinder Israel werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar, ohne Leibrock und ohne Heiligtum bleiben. Darnach werden sich die Kinder Israel bekehren und den Herrn, ihren Gott und ihren König David suchen und werden mit Zittern zu dem Herrn und seiner Gnade kommen in der letzten Zeit.”

LeerWir erleben in unseren Tagen im Blick auf dieses Israel das atemberaubendste Zeitgeschehen seit der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung Israels unter die Nationen: Die Heimkehr Israels in das Land seiner Väter. Diese Heimkehr begann 1898 mit dem „Zionismus” und fand seinen ersten Höhepunkt mit der Staatwerdung Israels am 14. Mai 1948. Es ist die Heimkehr in das Land, in dem ihm noch die entscheidende und völlig umwandelnde Begegnung mit seinem kommenden Messias-König und Herrn Jesus Christus geschenkt werden mag.

LeerPaulus deutet dieses künftige heils- und endgeschichtliche Faktum als „Leben aus den Toten”, genau wie der große Exilprophet Hesekiel in der unerhört anschaulichen Vision die Sammlung der Totengebeine heraus aus den Gräbern der Nationen ins Land Israel geschaut hat. Er sieht ihr wachstümliches Überzogenwerden von Fleisch, Blutadern und Haut. Und zuletzt geschieht erst das Erfülltwerden mit dem Lebensodem, dem „Geistbraus” des Herrn. Herzl und Weizmann und andere führende Männer Israels haben darauf hingewiesen, aber auch Männer wie Bengel, Barth, Blumhardt, eine Reihe der württembergischen Väter bis herein in unsere Tage. Wann die letzte Phase, die Erfüllung mit dem „Geistbraus”, die geistliche Auferstehung Israels, eintreten wird, wissen wir nicht, aber gewiß wird auch die Erfüllung der letzten Phase eintreten zu der Zeit und Stunde, die der Vater Seiner Macht vorbehalten hat.

LeerVon Zion aus bricht an der schöne Glanz Gottes, die Schechina, über diesem Volk und dann über die ganze Völkerwelt (Ps. 50, 2). Himmel und Hölle kämpfen um das Israel der Endzeit. Allem zusammengeballten Unglauben, Wahnglauben - dazu gehört auch der Antisemitismus unter den Nationen - zum Trotz behalten aber Christus und seine Heerscharen, die unter dem großen Engelsfürsten Michael wider den Drachen und seine Engel kämpfen, den Sieg, und Israel wird gerettet. Es erfährt unter den schmerzhaftesten Wehen die geistige Wiedergeburt (Daniel 12, 1 und Offb. 12, 1), nicht um irgendwelcher Vorzüge, sondern um der Treue Gottes zu seinen Verheißungen willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Er hat alle, Juden und Heiden, beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich aller erbarme (Römer 11, 29-32). Das Blut Jesu Christi, das einst die Kinder Israel auf sich herabgerufen haben, kommt nun über sie in seiner rettenden, reinigenden und heilenden Macht. Die Letzten werden die Ersten.

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LeerSchalem Ben Chorins Deutung des Propheten Hesekiel auf den modernen Staat läßt eine neue Gesprächsoffenheit erkennen, die unter der vollen Verheißung steht. Eines aber muß vor dem Gespräch stehen, die Bitte an Israel: Vergebt uns unsere große Schuld, nicht nur die der letzten Jahrzehnte, in die wir als Glieder des deutschen Volkes - so manches Mal auch ohne unser Wissen und gegen unseren Willen - verwickelt wurden, sondern auch die Schuld von Jahrhunderten, die wir durch Hochmut und Feindschaft, Fremdheit oder Gleichgültigkeit auch gegeneinander auf uns geladen haben.

LeerWir haben umsinnen gelernt und achten und lieben euch als unsere älteren Brüder und bitten euch, ins gemeinsame Vaterhaus heimzukommen und auch mit uns an den Tisch des Vaters zu gehen. Wir bekennen unsere Schuldgemeinschaft gegenüber dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dem Sohn der Davidtochter, der Jungfrau Maria, dem Sohn Gottes und unserem Bruder und Herrn. Ihr tragt nicht mehr Schuld an seiner Kreuzigung als wir. Wir bezeugen ihn euch als den leidenden Gottesknecht (Jes. 53), als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.

LeerAm Ende dieses Äons wird Er aus der Verborgenheit hervortreten und mit dem völlig erneuerten Israel und der vollendeten Gemeinde Seine Königsherrschaft durchführen. In dieser Erwartung trifft sich die Hoffnung der Ecclesia mit der Ahnung der Synagoge, die Hans Joachim Schoeps vor Jahren schon in die Worte faßte: „Es könnte wohl sein, daß der, der am Ende der Tage kommt, der die Erwartung der Synagoge wie der Kirche ist, dasselbe Antlitz trägt.”

LeerIn dieser Hoffnung achten und lieben wir euch als den älteren Bruder. Wir sehen in euch nicht Trödler und Althändler oder ihre Söhne, sondern die Enkel der Propheten. Wir sind hingenommen von der Tapferkeit und dem Mut eurer Pioniere, von der Hingabe, wie ihr euer kleines, zerstücktes Heimatland bebaut, Ölbäume pflanzt, die Wüste zum blühenden Ackerfeld macht und darauf stolz seid, ein Bauernvolk zu werden und seinen Boden mit Leib, Blut und Leben zu verteidigen. Wir zittern um euch und trauern mit euern einsichtigsten und besten Männern und Frauen darüber, wo nationalistischer Fanatismus Frevel begeht oder von feindlicher Gewalttat überwältigt, zur Vergeltung sich hinreißen läßt. Wir wissen um die großen Schwierigkeiten in und um euren Staat, um die Versuchung, ein Volk wie alle Völker zu sein und darüber die eigentliche Berufung und das „Geheimnis Zions” preiszugeben. Gottes Treue ist mächtiger als alle Versuchung und Seine Erwählung bleibt unwandelbar.

LeerAus Israels Fall ist uns als den Nationen das Heil widerfahren. Aus seiner Heimkehr unter das Friedensszepter Jesu Christi bricht der neue Äon an, wer wollte sich da noch um den ersten Platz im Königreich Gottes streiten? Steht nicht die alte Christenheit heute Israel in der gleichen Versuchung gegenüber, wie das alte Israel einst gegenüber den Heiden? Hat nicht Gott das Unedle und Verachtete erwählt?

LeerWir beten für euch, und das soll gelten für die ganze Ökumene: Soweit sie den Mut hat, als „Freund Israels” zu gelten, wie es die Männer in Evanston taten, die das Totschweigen der Israel-Frage gewissensmäßig nicht verantworten konnten. Es gibt solche, die jeden Samstagabend mit dem Psalm 102, 14-17 beten: „Herr, Du wollest Dich aufmachen und Dich über Zion erbarmen, denn es ist Zeit, daß Du ihr gnädig seiest und die Stunde ist gekommen. Denn Deine Knechte wollten gerne, daß sie gebaut würde und sähen gerne, daß ihre Steine und Kalk zugerichtet würden. Daß die Völker den Namen des Herrn fürchten und alle Könige auf Erden Deine Ehre, daß der Herr Zion bauet und erscheinet in seiner Ehre.”

Quatember 1955, S. 222-224

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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