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Die Bruderhofbewegung kehrt nach Deutschland zurück
von Erika Altgelt

LeerAn Versuchen, das Zusammenleben der Menschen vom Gemeineigentum als Grundlage her neu zu ordnen, hat es im Lauf der Geschichte nicht gefehlt. Soweit sie das auf die Familie gegründete bürgerliche Leben in der Welt betrafen, sind sie, angefangen bei dem berühmten Jesuitenstaat in Paraguay im 17. Jahrhundert, alle gescheitert. Wo die Menschen :sich einigermaßen frei entscheiden können, hat sich überall das natürliche Streben nach persönlichem Eigentum auf die Dauer stärker erwiesen als die gemeinschaftsbildende Kraft des gemeinsamen Eigentums am Ertrag der gemeinsamen Arbeit. Wenn der Mensch von seiner persönlichen Leistung keinen persönlichen Nutzen hat, geht ihm in aller Regel die innere Beziehung zu seiner Arbeit, zu der gemeinsamen Aufgabe und am Ende sogar zu seinen Mitmenschen verloren. Als ausschlaggebend hat sich immer wieder der Wunsch gezeigt, die Frucht der eigenen Lebensarbeit den eigenen Nachkommen zu vererben. Proletarier war im alten Rom bekanntlich derjenige, der nichts zu vererben hatte.

LeerTrotzdem haben sich von jeher an vielen Stellen auch der zivilisiertesten Welt kleine Gruppen zusammengefunden und behauptet, die familienhaft und in der Welt, dennoch aber aus freiem Entschluß im Gemeineigentum zusammenleben - bis in unsere Zeit. Die Formen dabei sind denkbar verschieden. DasMotiv ist entweder wirtschaftliche Zweckmäßigkeit - wie im Falle der israelischen Kibbuzim, deren Mitglieder offen lassen, ob sie unter anderen Bedingungen ebenso leben würden als denen, die ihr opfervolles Werk, den verwüsteten Boden ihres einst fruchtbaren Landes zu erlösen, von ihnen verlangt - oder es sind vom Urchristentum her bestimmte Motive wirksam. Wenn eine solche Gruppe entgegen der überlieferten wirtschaftlichen Grundvoraussetzung einer höheren Sozialordnung lebt, ohne Tendenz, die Wirtschaftsform, die sie für sich wünschen, anderen aufzuzwinge - wo käme da ein Recht her, es ihr zu verwehren oder auch nur auf sie herabzusehen?

LeerEine solche Gruppe, die sich, wiewohl zusammengeschmolzen, durch Jahrhunderte gehalten hat, sind die heute in Kanada, Süd-Dakota, Montana und Mexiko angesiedelten Hutterschen Brüder. Sie sind die Reste einer Sekte von Anhängern des Reformators Hutter, die, ursprünglich über verschiedene Gegenden Deutschlands zerstreut, in den Religionskämpfen des frühen sechzehnten Jahrhunderts Zuflucht in Mähren und der Slowakei fanden,wo sie die für die damalige Zeit nicht unbeträchtliche Zahl von einigen 40000 Mitgliedern erreichte. Im achtzehnten Jahrhundert wanderte ein Teil von ihnen nach Rußland, während des ersten Weltkrieges der Rest nach Übersee aus. Heute leben die Hutterianer als eine den Mennoniten und dem frühen Quäkertum verwandte Gruppe noch zu etwa 9000 Seelen auf insgesamt etwa achtzig Farmen - wie ihre Väter in voller Güter- und Lebensgemeinschaft. Zuwachs von außen scheinen sie nicht zu haben.

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LeerIm Anschluß an die Gedankenwelt und die Lebensformen der Hutterschen Gemeinschaft, aber im übrigen unabhängig von ihr, gründete nach dem ersten Weltkrieg, der die Sprünge in der anscheinend so sicher gefügten europäischen Zivilisation offenbar gemacht hatte, der Deutsche Eberhard Arnold die Bruderhofbewegung. Sie sollte im Verlauf eines knappen Menschenalters eine noch wechselvollere Geschichte erleben als jene im Verlauf von vier Jahrhunderten. Ihre Geschichte führte sie ebenfalls nach Übersee und lenkt jetzt nach Deutschland zurück.

LeerEberhard Arnold war ein Intellektueller - dieses viel mißbrauchte Wort in seinem ursprünglichen Sinn gebraucht für einen, der auf dem Grund der rationalen Erkenntnis die ihr nicht mehr zugängliche Tiefe des Wirklichen erfährt. Während des Krieges hatte er sich der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung angeschlossen und war ihr Generalsekretär geworden. Später war er Mitarbeiter des Furche-Verlages. In engem Zusammenhang mit dem Rhönbruderhof errichtete er einen eigenen Verlag, der Auswahlbände christlicher Zeugnisse aus der Geschichte herausbrachte: Augustin, Zinzendorf, Jakob Böhme, Kierkegaard. 1920 gründete Arnold (nicht allein, aber als treibende Kraft) in Sannerz in Hessen den ersten Bruderhof, der 1926 in die Rhön übersiedelte. Der Gedanke dabei war, daß den schwer enttäuscht aus dem Kriege zurückgekehrten jungen Soldaten - jener Generation, die später nach dem Wort der Gertrude Stein an den jungen Hemingway die verlorene genannt wurde - ein anderes, tiefer begründetes „neues Leben” angeboten werden müsse als nur eine neue politisch formale Ordnung. Um ein solches neues Leben haben sich damals viele den Kopf zerbrochen, gerade Angehörige der jungen Intelligenz. Das allgemeine Gefühl mehr als Bewußtsein, „daß es anders werden müsse”, blieb schließlich in der Theorie stecken.

LeerDie Praxis landete im bedenkenlos den Tag genießenden „Leben und Lebenlassen” der sogenannten Oberschicht der zwanziger Jahre, das, heute zur Massenerscheinung geworden, die verzweifelte Not der inneren Leere zu überdecken sucht. Wie weit Arnold erkannt hat, daß Karl Marx zwar richtige Fragen gestellt hatte, daß aber sein System von einem falschen Ansatz her verhängnisvoll falsche Antworten gibt (die in der weiteren Entwicklung immer falscher wurden), geht aus dem mir vorliegenden Material nicht hervor. Er muß jedenfalls in aller Konsequenz verstanden haben, daß die Dinge nicht nur gefühlt, gedacht und diskutiert werden dürfen, sondern gelebt werden müssen, wenn der Ansatz vom Glauben her verbindlich genommen wird: „Die, welche ihr Denken von dieser Welt abwenden und ihr Hoffen auf ein jenseitiges Leben nach dem Tode verlegen, sind Falschmünzer der Wahrheit”, sagte er 1923 in einem Vortrag. Als Kritik an der Ghettoexistenz der Kirche klingt das ganz modern. Ebenso, wenn es bei der gleichen Gelegenheit hieß: „Zwischen uns Menschen herrscht eine einzige Solidarität: wir sind alle gleich schuldig an unserer Zerrissenheit, an der Not, die in diesem geschichtlichen Augenblick auf uns lastet, und sind alle in gleicher Weise bedrängt von der ewigen Wahrheit her zu den Taten der gegenseitigen Liebe und Hingabe.” Dabei zeigt sich in dem zweiten „alle” Arnolds starker enthusiastischer Zug. Er war, in seiner Kritik der Zeit von Nietzsche beeinflußt und zugleich ein entschiedener Pazifist, optimistisch in bezug auf den Menschen.

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LeerDie Vertreibung seiner Bewegung von ihrem Hof und aus Hitler-Deutschland hat Arnold nicht mehr erlebt. Er ist 1935 jung gestorben. Schon 1934 waren die Kinder vom Rhönbruderhof, nachdem dessen Schule verboten worden war, in das Kinderdorf Trogen in der Schweiz gebracht worden. In Silum in Liechtenstein wurde der Almbruderhof als Zufluchtstätte eingerichtet, später aber wieder aufgegeben, weil er für die gesamte Gruppe keine ausreichenden Existenzmöglichkeiten bot. Inzwischen war im April 1937 der Rhönbruderhof von der Gestapo besetzt und enteignet worden mit der Begründung, daß die damals 350 Angehörige zählende Gemeinschaft nicht mehr erwünscht sei. Die drei Mitglieder des Vorstandes wurden für einige Wochen verhaftet, die übrigen durften Deutschland mit kleinem Handgepäck verlassen. Bis 1953 war trotz jahrelanger Verhandlungen weder der Hof zurückgegeben noch irgend eine Entschädigung gezahlt worden, was ein recht merkwürdiges Licht sowohl auf den im Grundgesetz fixierten Eigentumsbegriff wie auf die Praktiken der Wiedergutmachung wirft.

LeerEin neuer Anfang wurde in England gemacht, dem großen Asyl für Vertriebene aus aller Welt. Dank der Unterstützung durch englische und holländische Freunde entstanden binnen weniger Jahre zwei neue, gut eingerichtete Bruderhöfe in Wiltshire. Es sollte nicht für die Dauer sein. 1940 sah England sich der Gefahr der Invasion gegenüber. Die britische Regierung erwog die Internierung der Deutschen auf den Bruderhöfen, die sie bis dahin unbehelligt gelassen hatte. Die Gemeinschaft war also in doppelter Weise in ihrer Existenz bedroht. Mochten sich ihr inzwischen auch einige Engländer und Angehörige anderer Nationen angeschlossen haben, ohne die Arbeit der deutschen Männer konnte sie nicht leben. Darum wurde Auswanderung nach Paraguay beschlossen, dem einzigen amerikanischen Lande, das bereit war, die Gruppe zur Ansiedlung aufzunehmen und ihr Glaubens- und Schulfreiheit zu gewähren. Nordamerikanische Mennoniten übernahmen die Vermittlung zu den Behörden des Landes und boten den deutschen Einwanderern eine erste Unterkunft in ihrer Ansiedlung im Chaco, um ihnen den Start zu ermöglichen. Durch den U-Boot-Krieg hindurch kamen die 350 Menschen, unter ihnen 170 Kinder, auf verschiedenen Schiffen wohlbehalten über den Atlantik.

LeerDer dritte Neubeginn war in dem durch den sechsjährigen Chaco-Krieg verarmten Land besonders schwer. Ohne jedes Anfangskapital außer Gerätschaften und Maschinen, die mitzunehmen ihr erlaubt worden war, stand die Gruppe mitten im Urwald, gerade außerhalb der Äquatorialzone, vor dem Nichts. Der Erlös der beiden Höfe in Wiltshire war für die Überfahrt und den Erwerb der 8000 ha großen Estancia Primavera unweit des Paraguayflusses draufgegangen. Es gab keine Unterkünfte, die zum Schutz vor dem ungewohnten Klima und der ungewohnt wilden Gewalt der Elemente ausgereicht hätten, lange Zeit auch keine ausreichende Ernährung. So kam es zu Krankheiten. Sieben Kinder starben in den ersten Wochen. Es war eine harte Bewährungsprobe.

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LeerHeute gibt es in Primavera drei Bruderhöfe mit festen Häusern, Werkstätten und Ställen, von denen der 1946 entstandene jüngste, Ibaté, als Kinderdorf für europäische Kriegswaisen angelegt worden ist. Die Gemeinschaft ist auf 700 Mitglieder aus rund zwanzig Nationen beider Hemisphären angewachsen. Die Kinder, jetzt 350, haben ihre Schulen und Tagesheime. Das gut eingerichtete gemeinsame Krankenhaus hatte 1951 vierhundert Patienten aus der Gemeinschaft, dazu aber 6000 von außerhalb, die zum Teil weit hergekommen waren. Es werden inzwischen nicht weniger geworden sein, denn die einheimische Bevölkerung - Abkömmlinge der Guanari-Indianer mit spanischem Einschlag - schätzt dieses gute Hospital in dem hygienisch noch unterentwickelten Land. Zuweilen fragen auch paraguayanische Familien an, ob sie ihre Kinder in eine Bruderhofschule schicken könnten. Andere haben sich der Gemeinschaft angeschlossen.

LeerHaupterwerbszweig ist die Viehzucht. Des weiteren wird Holz aus dem Urwald gewonnen und verarbeitet, u. a. in einer Drechslerei. Roggen und Mandioka (aus der Tapioka gewonnen wird) werden angebaut. Dabei entstammen die wenigsten Erwachsenen der Landwirtschaft. Die meisten kommen aus Großstädten und waren in industriellen und kaufmännischen Berufen tätig. Einige sind Akademiker: ein Arzt, zwei Ärztinnen, Theologen, Rechtsanwälte, Künstler usw. Sie sind aber fast alle jung - trotzdem meist verheiratet - und anpassungsfähig. Die meisten Erwachsenen sind jetzt zwischen 35 und 45 Jahre alt. Überwiegend gehörten sie früher dem Mittelstand an, ein paar waren reich. Ebenso vielfältig ist ihre geistige Herkunft aus den verschiedensten christlichen Bekenntnissen und dem Judentum. Auch frühere Atheisten oder Agnostiker sind unter ihnen.

LeerSchon in den ersten Jahren ist in der Landeshauptstadt Asuncion ein Bruderhofhaus eingerichtet worden, von dem aus die Verhandlungen mit den Behörden geführt werden (auch in Südamerika keine geringfügige Angelegenheit), die Höfe im Urwald versorgt und ihre Erzeugnisse verkauft werden. Außerdem dient das Haus als Heim für diejenigen Heranwachsenden, die zur Berufsausbildung in die Stadt geschickt werden, und als Stätte der Begegnung mit den über das Land verstreuten Freunden der Bruderhofbewegung. Freundeskreise bildeten sich auch in Montevideo und Buenos Alres, so daß 1951 ein zweites Bruderhofhaus in Montevideo eingerichtet werden konnte.

LeerBei der Übersiedlung nach Amerika vor vierzehn Jahren waren drei Brüder, die britische Untertanen waren, in England zurückgeblieben, um dort die Liquidation der Höfe durchzuführen. Sie sollten bald nachkommen - aber daraus wurde nichts. Vielmehr kehrten drei Familien aus Paraguay zurück. Denn es hatte sich um die drei Zurückgebliebenen rasch eine Gruppe von Freunden gesammelt, die der Gemeinschaft zustrebten. So kam es schon im Frühjahr 1942 zur Gründung eines neuen Bruderhofes in England, Wheathill in Shropshire, der binnen zehn Jahren auf wieder 200 Mitglieder anwuchs und heute das geistige Zentrum für die Bruderhöfe und ihre vielen Freunde bildet. „Die Bruderhöfe haben erstaunlich viele Beziehungen zur Außenwelt”, schrieb eine Quäkerin aus USA, Grace Rhoads, nach längerem Aufenhalt in Primavera. Nach dem Kriege sind in Wheathill zehn deutsche Kriegswaisen zur Erziehung aufgenommen worden.

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LeerDem Bericht der Grace Rhoads sind die folgenden Einzelheiten vom Leben in Primavera entnommen, das, abgesehen von landschaftlich bedingten Unterschieden, dem Leben auf allen Bruderhöfen entsprechen wird. Jede Familie lebt für sich im eigenen Heim und nimmt dort auch die kleinen Mahlzeiten, während die Hauptmahlzeiten von allen gemeinsam eingenommen werden, und zwar schweigend, während Bücher oder eingegangene Briefe vorgelesen werden oder ein Mitglied einen Vortrag hält. Es gibt in jeder Siedlung nur eine Küche, ein Waschhaus, ein Warenlager usw. Die Arbeit wird in gemeinsamer Beratung verteilt, Ebenso wird über Anschaffungen und Einrichtungen, Entsendung von Brüdern nach auswärts und alle Verwaltungsangelegenheiten gemeinsam beschlossen. Wie bei den Quäkern kann eine einzige divergierende Stimme die Entscheidung hinausschieben, bis Übereinstimmung erzielt ist.

LeerDie Kinder, denen alle Liebe und Fürsorge gilt und denen die beste mögliche Erziehung gegeben wird, verbringen den Tag im Säuglingsheim, Kindergarten oder in der Schule. Sie wachsen nicht von selbst zu Mitgliedern der Gemeinschaft heran; vielmehr können sie sich nach beendeter Schulzeit und Berufsausbildung frei entscheiden, ob sie in die Gemeinschaft eintreten oder anderswo in der sonst üblichen Weise leben wollen. Die meisten bleiben und müssen dann eine Probezeit durchmachen, denn die Aufnahme in die Gemeinschaft gilt für das Leben. Das feierliche Versprechen, das die jungen Mitglieder ablegen, hat Vorrang sogar vor dem Eheversprechen, so daß, wenn ein Ehepartner trotzdem die Gemeinschaft verläßt, von dem anderen erwartet wird, daß er bleibt. Das schließt Heirat außerhalb der Gemeinschaft praktisch aus, nicht aber, nach entsprechender Probezeit Einheirat von außen her.

LeerSie sei nirgendwo lebendigeren, aktiveren, dabei vergnügteren jungen Leuten begegnet als der Jugend von Primavera im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, erklärt Grace Rhoads. Im Gegensatz zu den ursprünglichen Hutterschen Brüdern, die sich von der Welt zurückziehen, suchen die der Bruderhöfe Kontakt mit ähnlich gerichteten Gruppen in aller Welt, z. B. mit der Familie Jesu in China und mit den israelischen Kibbuzim. Daß die Frauen anders als bei den Quäkern, die in Dienst und Werk zwischen Mann und Frau keinerlei Unterschied machen, oder in den Kibbuzim, wo sie mit Selbstverständlichkeit die Außenarbeit teilen - hier eine Stellung haben, die etwa der Stellung der Frauen im Mittelalter entspricht, scheint zum Teil ein Ergebnis der Verhältnisse zu sein. Ihr Mitspracherecht ist unbestritten, und die Meinung eine Frau scheint mindestens so stark beachtet zu werden wie die eines Mannes. Sie nehmen auch verantwortliche Posten in der Verwaltung ein und können die Gemeinschaft auf Tagungen und Reisen vertreten. Bis jetzt ist aber noch keine Frau zum „Diener”, dem höchsten verantwortlichen Amt, gewählt worden wobei mitspricht, daß die Position an der Spitze einer nonkonformistischen Gruppe in einem politisch labilen Land ihre Gefahren hat. Am deutlichsten ist der Unterschied in der Arbeit. Die Frauen haben mit der Versorgung, Erziehung und dem Unterricht der vielen Kinder so ausgiebig zu tun, daß sie für die Außenarbeit nicht in Frage kommen. Diese Unterscheidung wird aber offenbar auch als natürlich angesehen.

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LeerDie Forderung der Doppelliebe Jesu und der Bergpredigt durchdringen das ganze Leben. Frieden halten, dem Nächsten helfen und niemals Schlechtes von ihm reden, gilt als selbstverständlich. Kirchen gibt es nicht. Die erwachsenen Bewohner eines jeden Dorfes halten am Sonntag-Morgen einen einfachen Gottesdienst in ihrem Speisesaal. Dort werden auch Liebesmahle gehalten, in Blumenschmuck und bei Kerzenlicht, zur Erinnerung an Verstorbene oder aus anderem bewegendem Anlaß, ein besonders feierliches zu Ostern. Ein neugeborenes Kind wird vor der Gemeinschaft in einen Blumenkranz auf einen Tisch gelegt, auf dem eine einzige Kerze brennt. Einer der Diener nimmt es auf und reicht es den Eltern zurück, als Zeichen, daß es der ganzen Gemeinschaft zugehört, aber ihrer besonderen Verantwortlichkeit anvertraut ist. Andere Feiern der Sakramente gibt es nicht. Die Kinder nehmen am Gottesdienst erst teil, wenn sie alt genug sind, ihn zu verstehen, und selbst die Erlaubnis dazu von der Gemeinschaft erbitten. In ihrem Religionsunterricht werden ihnen die biblischen Geschichten erklärt, aber auch andere, die vom Dienst am Nächsten berichten, und es werden Fragen des persönlichen und sozialen Lebens mit ihnen diskutiert.

LeerIn zunehmendem Maße wird von der Bruderhofbewegung Aussendungsarbeit wahrgenommen. In auswärtigen Versammlungen und Diskussionen suchen die Brüder ihre Mitmenschen zu überzeugen, daß ein Gemeinschaftsleben, wie sie es führen, auch im 20. Jahrhundert möglich sei. Vor kurzem konnte in Woodcrest im Staate New York der erste nordamerikanische Bruderhof gegründet werden.Wheathill gibt eine Vierteljahrsschrift, „Der Pflug”, heraus, die auch in deutscher Sprache erscheint.

LeerNachdem der Bewegung ein Gebäude auf der Burg Hohenstein bei Hersbruck im Fränkischen Jura zur Verfügung gestellt worden ist, wird die Arbeit nun auch in Deutschland wieder aufgenommen, wenn auch in bescheidenem Umfang.

LeerOb die Bruderhofbewegung Aussicht auf erheblich größere Ausdehnung hat, ist kaum zu sagen. Wahrscheinlich ist es nicht. Sie setzt ein für jedermann überschaubares Unternehmen voraus, das in der modernen Industrie ebenso schwer vorstellbar ist, wie unter städtischen Bedingungen ein gemeinsames Leben von Familien. Vor allem aber setzt sie eine konsequent christliche menschliche Haltung voraus, die von der Mehrzahl der Menschen in der gefallenen Welt nicht erwartet werden kann. Trotzdem hat sie, klein, wie sie ist, eine allgemeine Bedeutung einfach darin, daß sie eben diese Haltung vorlebt. Zusammen mit ihrer besonderen Lebensform schließt das allerdings, wie auch Grace Rhoads richtig erkennt, die Gefahr in sich, daß auf die Länge der Zeit die Lebensform verabsolutiert wird und die Bewegung jener eigensinnigen Selbstgerechtigkeit verfällt, die ein Merkmal des Sektierertums ist. Solange es gelingt, dies zu vermeiden, hat aber auch ihre besondere oekumenische Form eine allgemeine Bedeutung, weil sie die naive Vorstellung durchbricht, in der sich das Abendland heute mit gleicher Selbstverständlichkeit christlich nennt und das Besitzstreben des einzelnen zu seinem Gott macht.

Internetsites der Bruderhofbewegung

Quatember 1956, S. 35-40

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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