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Evangelische Heiligenverehrung
von Oskar Planck

LeerEs gibt eine evangelische Heiligenverehrung; darüber sprechen sich unsere evangelischen Bekenntnisschriften klar und deutlich aus: sie billigen die Verehrung (cultus) und verwerfen die Anrufung (invocatio).

LeerWas heißt Verehrung? „Fürs erste, daß Er an den Heiligen Exempel Seiner Gnade hat dargestellt. Weil die Gaben groß sein, soll man sie (die Gaben) hoch preisen, auch die Heiligen selbst loben, die solcher Gabe wohl gebraucht haben, wie Christus im Evangelium lobt die treuen Knechte” (Ap. XXI, IV). Man bedenke wohl: unsere Bekenntnisse stammen aus der Zeit der Renaissance und des Humanismus. Aber sie reden nicht der Verherrlichung des religiösen Genies, des sittlichen Charakters oder der freien Persönlichkeit das Wort, sondern stellen fest: Der Heilige ist eine Gestalt der Gnade.

LeerDer klassische Ausdruck für die in unseren Bekenntnisschriften gemeinte Verehrung ist in dem Vorspruch enthalten, mit dem Gerhard Tersteegen seine „auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen” Christus, dem König der Heiligen, zueignet: „Mit gebücktem Geist und kindlicher Zuversicht schreibe ich Dir hiermit zu, was ganz Dein ist, diese Vorbilder und Zeugnisse Deiner Heiligen, welche alles, was sie sind, allein durch Dich sind. Du hast Dich mit ihnen vereinigt. Du hast in ihnen und durch sie gelebt; darum, ja darum allein haben sie heilig gelebt. Lobe ich sie, so lobe ich nur Deine Gaben. Solches haben sie selbst demütig erkannt auf Erden und eben das bekennen sie noch zu dieser Stunde im Himmel, da sie die Krone ihrer Heiligkeit und Herrlichkeit zu Deinen Füßen niederlegen.” Es ist aber nicht unevangelisch und nicht unreformatorisch, wenn wir angesichts einer solchen Gestalt der Gnade mit Elisabeth ausrufen: „Selig bist Du, die Du geglaubt hast!”. In diesem Sinne sagt Wilhelm Stählin in seinen Meditationen zur Verkündigung der Maria (Freu' Dich, Begnadete): „Wagt ein Mensch auszudenken, was alles in der Welt nicht geschehen wäre, hätte Maria dies eine Wort (‚fiat mihi’) nicht gesprochen? Wenn sie sich geweigert hätte, die Magd des Herrn zu sein? Sie wäre nicht gezwungen worden, die Magd Gottes zu werden; Sklaven taugen nicht zum heiligen Dienst. Aber die Stunde, da Gott kommen wollte auf Erden, wäre nicht erfüllt worden, sondern leer vorübergegangen, wie ein Anruf, dem keine Antwort wird.”

LeerEine ganz andere Frage ist, wie weit diese evangelische Heiligenverehrung tatsächlich unter uns geübt wird. Der Katholik hat lebendige Heilige, der Protestant historische. Der Katholik spricht mit seinem Heiligen am Altar, der Protestant liest von ihm in den Büchern der Geschichte. Aber wir dürfen feststellen: gewollt war das von den Vätern der Reformation nicht. Sie sagen vielmehr klar und deutlich:

Leer„Die andere Ehre, so wir den Heiligen tun mögen, ist, daß wir an ihrem Exempel unseren Glauben stärken und ihrem Exempel nachfolgen, ein jeder in seinem Beruf” (CA XXI). Es handelt sich also für sie nicht um die literarische Darstellung oder die ästhetische Bewunderung großer Männer. Die Heiligen gehen uns ganz persönlich an. Wir sollen nicht in der Zuschauerrolle verharren, sondern uns mit hineinziehen lassen in die Lebenserfahrung des Heiligen, daß die Gnade mächtiger ist als die Sünde, wenn etwa Augustin von seinem Ehrgeiz und von seiner Sinnlichkeit frei wird; in seine Lebensentscheidung, wenn etwa der heilige Antonius der Aufforderung Jesu folgt, welcher der reiche Jüngling im Evangelium ausweicht. Niggs Heiligengeschichten sind nicht kirchengeschichtliche Monographien, sondern erregende Zeugnisse einer solchen Begegnung. Mit Bedacht spricht die Augustana von Nachfolge, während die katholische Kirchensprache von Nachahmung (Imitatio) spricht. Es kann sich nie um eine Kopie handeln, sondern immer nur um einen Vorgang, der uns zu eigenem Handeln den Anstoß gibt. Das Verhalten mancher Heiligen ist von einer erschreckenden Einmaligkeit; etwa bei Nikolaus von der Flüe, der seine Familie verläßt und im nahen Ranft-Tobel in schauriger Einsamkeit und jahrelangem Fasten seine Zelle aufschlägt, oder bei der Jungfrau von Orleans, die die Fahne Frankreichs ergreift. Unsere katholischen Brüder dürfen wir darauf hinweisen, daß in unserer mariologischen Literatur, deren Standardwerke Luthers Auslegung des Magnificat, Adolf Schlatters Marienpredigten und Wilhelm Stählins Auslegung von Mariae Verkündigung sind, in der heiligen Jungfrau das Urbild des Glaubens geschaut wird, der ganz Empfänglichkeit, ganz Bereitschaft, ganz Hingabe an Gott ist: „Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe wie Du gesagt hast.”

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LeerUnsere evangelischen Leser aber möchten wir darauf aufmerksam machen, daß Erzbischof Jäger von Paderborn auf dem Passauer Katholikentag 1950 in einer Messe für die Wiedervereinigung im Glauben gepredigt hat: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen dem Evangelium und der Marienverehrung. ‚Christus allein’: das ist ja der Sinn ihres Wortes: ‚Mir geschehe, wie Du gesagt hast’. Dadurch wurde das Wort Fleisch. Das paulinische Wort ‚Christus lebt in mir’ bezeichnet den tiefsten Sinn ihres Lebens. Das ‚gerecht durch den Glauben’ findet in Maria seine Bestätigung, denn ihre Niedrigkeit, ihren demütigen Glaubensgehorsam, hat Gott angenommen.” Insoweit unsere beiden Konfessionen um die Heiligen kreisen, bedeuten die aus dem gleichen Jahr 1950 angeführten Sätze der beiden für das interkonfessionelle Gespräch verantwortlichen Bischöfe die größte Annäherung unserer beiden Standorte.

LeerMit gleicher Offenheit muß nun aber auch das andere gesagt werden, daß in sämtlichen Bekenntnisschriften der Reformation und in der gesamten Theologie unserer Kirche die Anrufung der Heiligen abgelehnt wird. Wir beten mit ihnen.

LeerAuch wir verstehen das Sanctus in der Liturgie als ein Einstimmen in den himmlischen Lobpreis Gottes. Aber wir beten nicht zu ihnen. Die Begründung ist eine doppelte. Die Apologie geht vom Schriftzeugnis aus: „Im Wort der Schrift steht nichts von der Anrufung der Heiligen, darum sollten die Widersacher uns zu Ungewissen Dingen nicht zwingen oder dringen, denn ein Gebet ohne Glauben ist nicht ein Gebet” (Apol. XXI, 10 und 13). Ja, die Anrufung widerspricht dem Sinn der Schrift, „denn sie erdichten ihnen selbst einen Wahn, als sei Christus ein strenger Richter und die Heiligen gnädige, gütige Mittler, fliehen also zu den Heiligen und scheuen sich vor Christo wie vor einem Tyrannen” (Apol. XXI, 15). Christus ist nach der Schrift Versöhner und Richter in einer Person; wer die Gnade Gottes verschmäht, dem muß er das Urteil sprechen, wer aber an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden. Es gibt ein falsches Bild, wenn man beides auseinanderreißt und die Gnade den Heiligen, das Gericht Christus zuschreibt, wie es Michelangelo in erschütternder Weise in seinem Jüngsten Gericht in der Sixtina tut, wo Christus als der unerbittliche Richter dargestellt wird, während Maria und die Heiligen sich leidenschaftlich für die armen Sünder einsetzen. „Es ist öffentlich am Tage - sagen unsere Väter -, daß durch solche falsche Lehre Maria an Christi Statt ist kommen” (Apol. XXI, 18).

LeerDie katholische Theologie legt in unserem Fall kein starkes Gewicht auf Schriftstellen. Aus dem Traumgesicht des Judas Makkabäus von der Fürbitte Jeremias für das Volk und die heilige Stadt (2. Makk. 15, 14) und aus der Bitte des Schachers an Jesus, der Bitte des reichen Mannes an Abraham geht ja nur hervor, daß das Spätjudentum an eine solche Fürbitte der Heiligen geglaubt hat, nicht aber, daß die Heilige Schrift selbst uns ermutigt, sie anzurufen. Viel einleuchtender ist auch für uns der Analogieschluß: wenn die Heiligen schon in ihrem Erdenleben priesterliche Menschen gewesen sind, die fürbittend für die andern einstanden, wieviel mehr werden sie es dann jetzt tun, weil sie unmittelbar vor Gottes Thron stehen und die Nöte der Menschen klarer sehen als ehedem. Aber es fragt sich, welche Folgerungen man daraus zieht. Die Schmalkaldischen Artikel sagen (II, H/26 ff.): „Wiewohl die Engel für uns bitten, also auch die Heiligen auf Erden oder vielleicht auch im Himmel, so folget daraus nicht, daß wir die Heiligen anrufen, ihnen opfern, Kirchen stiften und sie für Nothelfer halten sollten. Denn das ist Abgötterei und solche Ehre gehöret Gott allein zu. Du kannst als ein Christ und Heiliger für mich bitten in allen Nöten, aber darum soll ich dich nicht anrufen und auf dich meinen Glauben zur Seligkeit setzen.” Diese Bedenken sind in uns durch die Entwicklung, welche die Marienverehrung in der römischen Kirche genommen hat, nur verstärkt worden. Wir wissen, daß die katholische Dogmatik zwischen Anbetung und Anrufung einen grundsätzlichen Unterschied macht. Dieser besteht auch für uns. Dennoch halten wir es für unsere Bruderpflicht, immer wieder zu bitten: Prüfet an der Schrift, ob Ihr nicht Euer Gebetsleben durch die Anrufung der Heiligen habt überwuchern lassen. Wir umgekehrt müssen uns von den katholischen Brüdern fragen lassen, ob die Vernachlässigung der Heiligen bei uns nicht eine Verödung zur Folge gehabt hat. „Warum will man sich der ganz unschriftgemäßen Alleinwirksamkeit Gottes verschreiben”? fragt Erzbischof Jäger in der angeführten Predigt. Die Antwort darauf ist Hans Asmussens Neubesinnung auf eine evangelische Mariologie in dem Aufsehen erregenden kleinen Büchlein „Maria, die Mutter Gottes”: ... die Alleinwirksamkeit der Gnade steht unerschütterlich fest (Eph. 2, 8-10). Ebenso Christus der eine Mittler (1. Tim. 2, 5). Aber Gott wirkt in der Heilsgeschichte durch Menschen, die sich seiner Gnade ergaben. Daraus ergibt sich allerdings eine Mittlerschaft; aber eine Mittlerschaft in Christus, nicht neben ihm.

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LeerDamit haben wir ein Bild von der evangelischen Art der Heiligenverehrung gegeben. Wenden wir uns nun der Wesensbestimmung des Heiligen zu. Gibt es Heilige, die wir beiderseits mit gutem Gewissen verehren können? Der katholische Christ besitzt einen von seiner Kirche amtlich beglaubigten Heiligenkalender für jeden Tag des Jahres und einen besonderen Schutzheiligen an seinem Namenstag. Das hat es bei uns nie gegeben und wird es wohl auch nie geben. Wir sind zu sehr davon überzeugt, daß es nicht uns zusteht, festzustellen, welche Namen im Himmel angeschrieben sind, und wir haben aus dem Munde Jesu vernommen, daß es dort peinliche Überraschungen geben wird. Der Herr selbst sagt, daß es Christen geben werde, die hier die ersten waren und dort die letzten sind. Trotz dieses grundsätzlichen Vorbehalts menschlicher und kirchlicher Fehlbarkeit, treffen auch wir natürlich eine Auslese. Wenn wir uns klar zu machen suchen, welche Maßstäbe wir dabei anlegen, gehen wir am besten von den drei Merkmalen aus, die im Kanonisierungsprozeß der Kurie für entscheidend angesehen werden: Der zur Heiligsprechung Vorgeschlagene muß im Ruf der Heiligkeit stehen, heroische Tugenden aufweisen, Gott selbst aber muß sich zu ihm bekannt haben durch Wunder, die an ihm oder durch ihn geschehen sind, sei es bei seinen Lebzeiten, sei es nach seinem Tode.

LeerAuch bei unserem evangelischen Kirchenvolk stehen gewisse Personen im Rufe der Heiligkeit. Die Biographien, die in den letzten dreißig Jahren erschienen sind, lassen unschwer erkennen, daß es einen Kern von Heiligengestalten gibt, an dem sich unser Kirchenvolk erbaut. Die meistgenannten Namen sind vor allem Christoph Blumhardt, Friedrich von Bodelschwingh, Johann Friedrich Oberlin, Gerhard Tersteegen, Eva von Tiele-Winkler, Mathilda Wrede. Dazu kommt für unzählige als einer der heute noch lebenden Albert Schweitzer: trotz seines rationalen wissenschaftlichen Denkens, das ihn in manche theologischen Konflikte gebracht hat, spürt man ihm doch die tiefe, fromme Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Unerforschlichen ab und hält sich an seine entschlossene Nachfolge Jesu. Von katholischen Heiligen gehören bei uns Martin von Tours, Franz von Assisi und Augustin zum Gemeingut der Kirche. Es gibt noch zahlreiche andere vergleichbare Gestalten, aber sie sind nur in bestimmten Kreisen und Landschaften bekannt - etwa Graf Zinzendorf, Michael Hahn, Gustav Werner, Johann Heinrich Volkening, Jung-Stilling, Elisabeth Fry. Die Grenzen zerfließen. Das umfassendste und reifste Heiligenwerk der evangelischen Kirche ist das auf drei Bände veranschlagte „Lesebuch zu einem evangelischen Namenkalender” Jörg Erbs „Wolke der Zeugen”. Die beiden vorliegenden Bände enthalten je gut hundert Lebensbilder, die sich zu annähernd gleichen Teilen auf evangelische und katholische Gestalten verteilen.

LeerEs ist nicht wesentlich, daß die Bezeichnung „Heilige” im evangelischen Raum vermieden wird; sie ist für uns konfessionell zu sehr belastet. Wir sagen statt dessen lieber „Gotteskind, geistlicher Vater, Jünger Jesu, Magd des Herrn”, und freuen uns auch an dem mittelalterlichen Ausdruck „Gottesfreund”. Wir wissen aber, daß „der Heilige” ein gut biblischer Begriff ist, sowohl im Alten wie im Neuen Testament, und ich darf hinzufügen, daß Gerhard Tersteegen bei seinem Begräbnis von Rektor Hasenkamp ein „großer Heiliger” genannt wurde. Ebenso Gustav Werner von seinem Biographen Theodor Heuß - hier allerdings gleichsam in Anführungszeichen: „Er war gemacht aus der Substanz derer, die im Raum der katholischen Kirche als Heilige betrachtet werden.”

LeerMißtrauisch oder geradezu ablehnend ist unsere Kirche und unser Kirchenvolk nur bei katholischen Heiligen, für deren Frömmigkeit die Ertötung der Sinne und das Sammeln von Verdiensten charakteristisch ist. Es gehört zu unserem unaufgebbaren lutherischen Erbe, daß es gegen die Schöpfungsordnung Gottes verstößt, wenn man die irdische Lebensstufe überspringen will und darum statt der Erlösung des Leibes die Erlösung vom Leib, statt der Heiligung der Glieder ihre Abtötung betreibt. Das ist selbstgemachte Heiligkeit und selbstgesuchtes Leiden. Ebenso verstößt es nach unserem Schriftverständnis gegen die Gnadenordnung Gottes, wenn man glaubt, überschüssige Verdienste erwerben und sie anderen zugutekommen lassen zu können. Die Gnade Gottes ist kein Rechengeschäft. Wir nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis, daß der Heilige Franziskus, der seinen Leib immer nur seinen „Bruder Esel” nannte und ihn in grausamer Askese mißhandelt hat, wie der Südländer seinen Esel zu mißhandeln pflegt, kurz vor seinem Lebensende selber zugegeben hat, daß er seinen „Bruder Leib” anders hätte behandeln sollen. Aber da war er schon völlig zerstört. Mit noch größerer Freude erfüllt es uns, daß die Heilige Therese von Lisieux, die in einer für uns ganz unerträglichen Weise von klein auf zu dieser Verdienstethik erzogen wurde, von Gott selbst im Kloster - wie Luther - zum „Evangelium der leeren Hände” geführt worden ist.

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LeerEs ist nicht so, daß uns für die Mönchsgelübde jedes Verständnis abgeht. Schon im Leben Tersteegens und Michael Hahns ist der Zölibat, im Leben der Mutter Eva von Tiele-Winkler und im Bruderhaus Gustav Werners der Verzicht auf persönliches Eigentum nicht zu übersehen. Zu unserem Heiligkeitsideal gehört das aber nicht. Es ist uns nur dann unverdächtig, wenn es aus der Gabe und Aufgabe, die bestimmten Menschen gestellt war, erwachsen ist, so wie wir auch die Aufforderung Jesu an den reichen Jüngling nur als persönlichen seelsorgerlichen Rat verstehen. Unserem evangelischen Volk geht das Herz erst auf, wenn der Heilige Freude an Gottes Schöpfung hat und sich in seiner Familie und in seinem Stand bewährt. Für diese geheiligte Natürlichkeit führen wir gerne ein Wort Christoph Blumhardts an: „Der Christ muß sich zweimal bekehren; einmal vom natürlichen Menschen zum geistlichen Menschen, und dann wieder vom geistlichen Menschen zum natürlichen Menschen.”

LeerDie Auswahl der Heiligen erfordert aber von uns bestimmtere Maßstäbe als den bloßen Instinkt des Volkes. Wir wenden uns deshalb den beiden anderen Normen der Kanonisierung zu, den sogenannten heroischen Tugenden und den Wundern. Vielleicht trennt uns hier nur ein verschiedener Sprachgebrauch. Und gerade diese beiden Eigenschaften sind dem biblischen Verständnis des Heiligen im Wege. Der Heilige ist nicht ein sündloser Mensch, sondern einer der im Heiligtum steht, in der Gottesnähe lebt, während sich auch die Frommen meist nur im Vorhof aufhalten. Gott selbst wird als der Einzigartige, von der Welt Unterschiedene, der ganz Andere, heilig genannt. Der heilige Berg, die heilige Lade, der heilige Tempel, werden durch seine Gegenwart für den gewöhnlichen Menschen unnahbar und unantastbar; das Gewand und das Gerät wird dadurch, daß es zum Gottesdienst geweiht ist, heilig; durch jeden Mißbrauch wird es entheiligt und entweiht. Diesem heiligen Gott gegenüber empfindet der Mensch nur seinen Abstand, seine Unheiligkeit. Aber nun legt Gott seine Hand auf das Gottesvolk des Alten und Neuen Testaments, auf den Priesterstand, auch auf einzelne Menschen. Wer dieser Erwählung und Berufung folgt, ist herausgenommen aus dem profanen Leben und wird zu einem Werkzeug seines Willens und zu einem Gefäß seiner Gnade. Der Mensch kann sich nicht durch geistliche Übungen selbst zur Heiligkeit hinaufsteigern. Er kann nur demütig an sich geschehen lassen, was Gott aus ihm machen will, und sich zuchtvoll von allem fernhalten, was dem Dienst für Gott widerspricht. Die Taufe ist in der Urkirche eine solche Hingabe des Menschen, der den Ruf Gottes vernommen hat. Er folgt ihm unbedingt und koste es das Leben. Darum werden alle Getauften im Neuen Testament Heilige genannt. Hervorragende Heiligengestalten sind in der alten Kirche nichts anderes als Koralleninseln, die fürs Auge sichtbar geworden sind, aber mit dem Korallenstamm, der unter der Meeresoberfläche verborgen ist, zusammenhängen. Spätere Jahrhunderte haben nur noch die Märtyrer als Heilige gelten lassen, weil sie offensichtlich ihr Leben für Christus hingegeben haben, während die Christenheit schon weithin verweltlicht war. Immer handelt es sich bei diesen Heiligen nicht um einzelne Tugenden, sondern um den ganzen Menschen, nicht um bestimmte Werke, sondern um das ganze Sein. Selbstverständlich sind solche Menschen dann auch geheiligt im ethischen Sinn, aber das ist nicht die Wurzel ihrer Heiligkeit, sondern ihre Frucht.

LeerEntscheidend ist also, in welchem Maße sich der Christ Gott hingibt, und so wenig das aktivistische Wort „heroisch” zum Heiligen passen will, so weckt es doch wenigstens die Vorstellung von einem über das gewöhnliche hinausgehenden Maß. Frühere Geschlechter - Luther, aber auch schon Benedikt - haben sich gegen die Bravourstücke einer maßlosen Askese wenden müssen. Heute ist die Gefahr umgekehrt die, daß unser Christentum auf das Durchschnittsmaß des ehrbaren bürgerlichen Lebens herabgesunken ist. Wir tun nichts Sonderliches mehr aus Angst, absonderlich zu wirken; wir wollen nichts von der Übernatur wissen, weil wir sie nur noch im Zerrbild der Unnatur sehen. Es ist das unbestreitbare Verdienst von Walter Nigg, dieses Übermaß der großen Heiligen neu entdeckt und dargestellt zu haben.

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LeerWir kommen zu dem dritten Kennzeichen des Heiligen, das der Kanonisierungskommission letzte Gewißheit verschaffen soll, wenn sie an der Grenze ihrer menschlichen Urteilskraft angelangt ist: Gott beglaubigt seine Heiligen durch Wunder.

LeerManche Mirakel, die in Heiligenlegenden erzählt werden, vermögen uns nicht zu überzeugen, weil sie uns nicht bloß unwahrscheinlich, sondern auch unwesentlich vorkommen. Auch im Leben unserer evangelischen Heiligen geschehen Wunder. Wir erinnern an die Gebetserhörungen von Mutter Eva, die Gesichte Oberlins, die Teufelsaustreibungen und Krankenheilungen Blumhardts. Für uns aber ist der durch Gott Gewandelte das eigentliche Wunder. In August Hermann Francke hat der Glaube, in Christoph Blumhardt die Hoffnung, in Friedrich von Bodelschwingh die Liebe Christi Gestalt gewonnen. Fruchtbar ist auch die These Walter Dirks, daß Gott einzelnen großen Heiligen die Antwort ins Herz legt, die er auf die brennenden Fragen ihrer Zeit geben will; und daß sie diese Botschaft nicht in erster Linie mit Worten verkündigen, sondern in ihrem Leben verkörpern.

LeerAbschließend wäre noch von den Märtyrern zu reden, die in unserer Generation zahlreicher sind als zu irgend einer anderen Zeit der Kirchengeschichte. Die Märtyrer der Widerstandsbewegung sind in ergreifenden Dokumenten in dem Märtyrerbuch vereinigt, das der Protestant Helmut Gollwitzer und der Katholik Reinhold Schneider unter dem Titel: „Du hast uns heimgesucht bei Nacht” miteinander herausgegeben haben. Es ist erschütternd und erhebend, mit welcher Glaubenstreue sie im Dritten Reich in der gleichen Front standen, in den Konzentrationslagern und Gefängnissen die gleiche Marter erduldeten und unter den Händen der Schergen und Henker nicht bloß ungebrochen, sondern über sich hinausgewachsen, ihr Leben hingaben.

LeerIm Blick auf dieses Buch darf man der Hoffnung Ausdruck geben, daß die gegenseitige Einführung in die Welt unserer Heiligen den Angehörigen beider Konfessionen die Gewißheit stärken könnte, daß wir trotz vielem, was uns trennt, doch noch viel mehr haben, was uns verbindet, nicht zuletzt das, worauf das Apostolische Glaubensbekenntnis mit solch großem Nachdruck hinweist: die communio sanctorum.

Quatember 1956, S. 129-135

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 19-05-10
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