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Berneuchen und die Theologie
(Nach einem Menschenalter XV)
von Heinz-Dietrich Wendland

LeerIn der kirchlichen und theologischen Kritik an den „Berneuchenern” ist häufig von einer Berneuchener Theologie gesprochen worden, und diese Formel ist oft genug ein Ausdruck des Mißvergnügens oder der Ironie gewesen. Doch gleich vielen anderen Formeln in der theologischen Diskussion innerhalb des evangelischen Deutschlands, mit denen sich die theologischen Richtungen und die Konfessionen gegenseitig bedenken, ist sie nur eine halbe Wahrheit. Weder ist die Berneuchener Konferenz seit ihren Anfängen 1923, obwohl sie als eine theologische Konferenz begann, noch ist die Evangelische Michaelsbruderschaft, die aus der ersteren 1931 hervorging, jemals eine theologische Schule oder Richtung gewesen. Es gibt kaum einen bedeutenden Theologen des letzten Menschenalters von Karl Barth bis hinüber zu Paul Tillich, der nicht auf die Berneuchener gewirkt hätte, keine theologische Tradition, sei sie liberal oder orthodox oder vermittelnd gewesen, von der nicht irgendwelche Glieder dieses Menschenkreises einmal hergekommen und beeinflußt worden wären.

LeerDennoch gelangten sie alle miteinander zu einer gemeinsamen Erkenntnis von der Krisis und der Bedrohung der Kirche, sowohl was ihr innerstes Heiligtum, den Gottesdienst, die Christusgemeinschaft im Kultus, als was ihr Verhältnis zur Welt anbetraf. Was hier entstand, war eine über- und vor-theologische, das heißt eine geistliche Erkenntnis und eine geistliche Gemeinschaft (vgl. Wilhelm Stählin, Bruderschaft, Kassel 1940), die jedoch theologische Folgerungen entscheidender Art aus sich entließ, ja eine Fülle neuartiger theologischer Probleme aufwarf, die vorher mehr oder weniger verdunkelt oder verdrängt gewesen waren.

LeerDie letzte, im engeren Sinne theologische Äußerung der Michaelsbruderschaft, „Credo Ecclesiam” (Kassel 1955), ist für diesen Vorgang und diese Haltung sehr charakteristisch, insofern sie eine ganze Reihe solcher Fragen aufwirft, die unter anderem den Begriff der Konfession, des Amtes und der Ämter, der Gemeinde, der Kirchenordnung und -Verfassung und viele andere betreffen. Die nicht un-, wohl aber über-theologische Basis, ohne die eine Bruderschaft so wenig existieren kann wie die Kirche im ganzen, machte es in diesen dreißig Jahren möglich - und dies gilt auch heute noch -, daß ihrer theologischen Herkunft und Ausdrucksweise nach sehr verschieden geprägte Theologen zu denselben fundamentalen geistlich-kirchlichen Erkenntnissen gelangen konnten, ohne daß unter ihnen jemals eine begriffliche Gleichmacherei zur Herrschaft gelangt wäre, ohne daß jemals leidenschaftlich geführte theologische Unterschiede aufgehört hätten. Diese haben aber nicht die geistlich-brüderliche Gemeinschaft zu zerstören vermocht.

LeerSo wurde hier denn, vor allem seit der Stiftung der Evangelischen Michaelsbruderschaft 1931, der wohl auch theologiegeschichtlich gesehen nicht ganz unbedeutende Versuch gemacht, der theologischen Diskussionswut und der intellektualistischen Zersetzung und Verkehrung der Theologie zu widerstreiten, die sie jeder philosophischen oder wissenschaftlichen Zeiterscheinung auslieferte, vor allem aber auch das theologische Ethos der Diener der Kirche verdarb, weil sie die wissenschaftlich-theologische Meinung und Leistung des einzelnen Theologen überschätzt und so die theologische Originalitäts-Sucht befördert, damit aber zugleich dem Kommen und Gehen theologischer Schulen und Lehrmeinungen eine viel zu große Bedeutung beilegt, was freilich erst dann klar wird, wenn man die Kirche und die Funktion der Theologie in dieser von dem Geheimnis des Christusleibes aus versteht.

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LeerSo hatte „Berneuchen” immer ein höchst kritisches Verhältnis zu den überlieferten Formen und Traditionen der theologischen Bildung und Diskussion in unserer Kirche, und wir hoffen; diese Distanz werde bewahrt bleiben, weil sie um der geistlichen Gesundheit der ganzen Kirche wie einer einzelnen Bruderschaft um dieser willen heilsam und notwendig ist, Auf der anderen Seite war uns die Erkenntnis Karl Barths ständig lebendig gegenwärtig, daß die Theologie eine Funktion der Kirche sei, und zwar eine notwendige, eine unentbehrliche. Wir können der jüngst aufgestellten Behauptung, diese Erkenntnis sei zu einem Gemeinplatz geworden, nicht zustimmen. Wenn das richtig wäre, müßte das Verhältnis der Theologie zum Leben der Kirche im Gottesdienst, im Sakrament, im Gebet, in der Beichte ganz anders aussehen, als es heute in den deutschen evangelischen Kirchen der Fall ist, müßte auch der theologische Ausbildungsgang junger Diener der Kirche eine andere Form gewonnen haben als die heute noch übliche.

LeerTheologie als Funktion der Kirche, dies bedeutete eine wichtige Erkenntnis hinsichtlich des Ursprunges der Theologie: Je weiter wir eindrangen in die Probleme der Ordnung des Gottesdienstes oder des täglichen Gebetes des Einzelnen und der Gemeinschaft, desto deutlicher wurde, daß die Theologie ihren Ursprung im Zentrum des Gottesdienstes selbst hat, im lobpreisenden Bekennen der Herrlichkeit Gottes und der ganzen Geschichte des von ihm gewirkten und gegenwärtig gemachten Heils, in der Verkündigung des göttlichen Wortes, im Geschehen der sakramentalen Handlung, so daß der kerygmatische, der sakramentale und der „Confessio”-Ursprung der Theologie sich als ein einziger darstellen. Erst von hier aus wird es der Theologie möglich, „polemisch” zu werden, das heißt in den kritischen Dialog mit der Weisheit und den Geistern dieser Zeit und Welt einzutreten, „dogmatisch” zu lehren und Formen der christlichen Unterweisung zu bilden. Man mußte also eine primäre und eine sekundäre Gestalt der Theologie unterscheiden, zu welch letzterer auch ihre heutigen wissenschaftlichen Formen gehören. Das bedeutet nicht deren Unterschätzung, wohl aber ihre Gründung und Einstiftung in die Kirche als die durch Christus selber immer neu realisierte, pneumatische Realität seines Leibes, der Gemeinde.

LeerWir können hier nicht genaue chronologische Bestimmungen für das Hervortreten solcher Erkenntnisse treffen, zumal sie nicht die individuelle Leistung eines einzelnen waren. Sie sind auch selten in theologischen Monographien oder Abhandlungen hervorgetreten, obwohl hier die bedeutsame Schrift von Wilhelm Maurer „Bekenntnis und Sakrament” (Berlin 1939) und die Beiträge zu „Leiturgia” (Handbuch des Evangelischen Gottesdienstes) über die Geschichte und die Formen des evangelischen Gottesdienstes eine besondere Hervorhebung verdient haben, - vielmehr sind diese theologischen Grundeinsichten meistens indirekt ausgedrückt und ausgeformt worden, nämlich erstens in den Ordnungen des Gottesdienstes und des Gebetes oder der Schriftlesung, wie z.B. in der „Ordnung der Messe”, der „Lesung für das Jahr der Kirche”, den „Gebeten für das Jahr der Kirche” (Ritter), dem „Stundengebet” und unzähligen anderen liturgischen Veröffentlichungen, die von mancherlei Erläuterungen und Begründungen begleitet wurden, sodann zweitens in Schriften, die der „Oikodome”, dem geistlichen Aufbau der Kirche dienen sollten, unter denen vor allem Wilhelm Stählins Buch „Vom göttlichen Geheimnis” (Kassel 1938) noch heute hervorzuheben ist.

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LeerEs gehört zum theologischen Stil dieser Schriften, daß sie nicht „fach”-theologisch sein können, weil sie jedem Glied der Kirche dienen müssen, das dieselben Fragen aufwirft, die den Verfassern dieser Schriften und der Gemeinschaft, aus der sie denken und sprechen, entscheidend geworden sind. Alle diese Arbeiten beruhen auf Jahre hindurch gehenden theologischen Gesprächen, oft auch solchen, die noch immer nicht abgeschlossen worden sind. Jeder dieser Verfasser mußte sich der brüderlichen Zensur stellen, was keineswegs immer zu den Annehmlichkeiten des bruderschaftlichen Lebens gehört. Theologische Arbeitstage, ein theologischer Sekretär und Ausschuß sowie mannigfaltige Versuche, die theologische Arbeit im engeren Sinne unter den Pfarrbrüdern zu pflegen, sie aber auch ständig für die Nicht-Theologen fruchtbar zu machen, gehörten seit der Stiftung der Bruderschaft zu ihren selbstverständlichen Lebensäußerungen.

LeerEine theologische Entwicklung aufzuweisen, dazu ist es noch zu früh, dazu ist auch der Blick der Mitarbeitenden und Mitlebenden allzu begrenzt. Statt dessen soll offen gesagt werden, was wir der Theologie noch immer schuldig geblieben sind: nämlich die Zusammenfassung all der theologischen Einsichten, die in den genannten gottesdienstlichen Ordnungen enthalten sind oder zu diesen Formungen geführt haben; denn auch aus der Bekenntnisschrift „Credo Ecclesiam” ist nur ein Teil dieser Erkenntnisse zu ersehen. Auch könnte, wenn man das „Berneuchener Buch” mit seinem universalen Rahmen und seinen in die Weite der Welt hinausgreifenden Fragestellungen mit diesem letzten Bekenntnis von der Kirche vergleicht, ein großes Mißverständnis entstehen: Dies nämlich, als habe sich das theologische Denken der „Berneuchener” immer mehr verengt auf die Lehre von der Kirche und ihren Ordnungen, auf die Theologie des Gottesdienstes, des Amtes und des Sakramentes. So legte sich denn schon seit längerem den theologischen Kritikern der Schluß nahe, hier handle es sich nur um eine Abwandlung klerikaler Restaurationsversuche, verbunden mit rückwärts gewandter Liturgieforschung. Aber dieser Schein trügt.

LeerNicht allein deswegen, weil die jahrzehntelange Bemühung um die rechte Sprache des Gottesdienstes, der Predigt und des Gebetes immer von der Frage nach der Begegnung mit dem Menschen unserer Zeit ausgegangen war und daher auch immer wieder den höchst notwendigen Protest gegen den Archaismus und die rückwärts gerichtete Romantik wiederholt hat, gegen die Meinung, man könne einfach die Sprache des 16. Jahrhunderts nachahmen oder wiederholen, sondern weil die Zuwendung zur Welt, der Versuch, die Probleme und die Nöte des gegenwärtigen Menschen zu verstehen und das Zwiegespräch mit ihm zu führen, die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von Liturgie und Diakonie im weitesten Sinne zum theologischen Erbe Berneuchens und der Michaelsbruderschaft unlöslich hinzugehört. Das „Berneuchener Buch” hatte sowohl die Frage nach der Gestalt und Aufgabe der theologischen Erkenntnis wie auch die Krisis der Gesellschaft ins Auge gefaßt, indem es z. B. von der notwendigen, neuen „Heiligung der Arbeit” sprach. Es machte die Zerfallserscheinungen in den sozialen Ordnungen zu einer Frage und Aufgabe des priesterlichen, heilenden Dienstes der Kirche an der Welt. Es betonte das notwendige Anteilhaben der Kirche an aller Not der Welt, die ohne die Kirche so wenig existieren kann, wie die Kirche ihrerseits ohne die Welt, deren Schöpfer und Herrn sie glaubt und verkündigt.

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LeerFreilich ist das Erbe dieses Buches noch unausgeschöpft und in der Form theologischer Erkenntnis immer nur sehr unvollkommen und unvollständig realisiert worden. Man muß hier nicht nur die menschliche Begrenztheit und den Mangel an Kräften zur Entschuldigung anführen wollen, sondern vor allem begreifen, daß eine Bruderschaft etwas anderes ist als eine theologische Bildungsstätte oder Arbeitsgemeinschaft. Gleichwohl ging es immer, seit den Anfängen, um den Zusammenhang aller drei Artikel des Credo, also auch um das christliche Verständnis des Kosmos im Ganzen, der „Natur”, um die Frage nach dem Dienst und Amt der Kirche an der Welt, um die durch die heutige Auflösung aller Überlieferungen in Kultur und Gesellschaft neu gestellten Aufgaben christlicher Menschenbildung, um das Problem des Verhältnisses von Theologie, Seelsorge und Tiefenpsychologie (siehe dazu das bekannte Buch von Otto Haendler, „Die Predigt”, und das Schrifttum von Alfred Dedo Müller, seine „Ethik” und seine Darstellungen zur praktischen Theologie, die von verschiedenartiger und selbständiger Form theologische Motive „Berneuchens” ausgeformt haben), weil die Wiederentdeckung der Beichte und der Meditation ganz neue Erwägungen notwendig machten, und um viele verwandte Fragen, die nun freilich von diesem zahlenmäßig wie geschichtlich und standortmäßig begrenzten Menschenkreis nicht allein bewältigt werden konnten.

LeerDarum isoliert er sich auch nicht von der theologischen Arbeit der Gegenwart; darum erhebt er nicht den Anspruch, eine neue Art von Theologie geschaffen zu haben, darum wußte er sich immer in seiner Vergangenheit von anderen Lebenskreisen in der Kirche begrenzt und ergänzt; darum wandte er sich in die Weite der Ökumene und suchte von der Theologie anderer Kirchen, von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte, von den Theologen der Ostkirche, der Kirche von England oder anderen Kirchen außerhalb Deutschlands zu lernen und immer die eigene Erkenntnis an dem zu prüfen, was die Brüder und die Väter sagen. Denn nur so konnten und können wir die Gemeinschaft in der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche theologisch nach- und mitdenkend vollziehen.

LeerImmerhin ergibt sich hieraus doch ein echter Fortschritt des theologischen Denkens: Auch die „Berneuchener” haben in ihrer Entwicklung mit dem idealistischen und dem romantischen Erbe in der deutschen Theologiegeschichte zu ringen gehabt, wie es teils durch Philosophie und Theologie, teils durch die Jugendbewegung ihren Anfängen mitgegeben war. Der theologische Reinigungsprozeß hat sich auch an ihnen vollzogen, und in dieser Hinsicht sind sie vielen theologischen Zeit- und Kampfgenossen zu Dank verpflichtet. Sie gingen sodann aber an vielen Punkten über, die überlieferten Inhalte und Denkformen der Theologie, auch diejenigen der Reformatoren des 16. Jahrhunderts hinaus. Sie mußten dies tun; denn sowohl die Begegnung mit den anderen Kirchen und ihrer Theologie wie die Nöte und die Mangelkrankheiten der eigenen Kirche zwangen sie dazu. Was dem von außen her kommenden Blick als „katholisierend” erscheint, ist in Wirklichkeit der Gehorsam gegenüber der Aufgabe der Kirche in dieser Zeit, gegenüber der göttlichen Wirklichkeit des Christusleibes in der Kirche, in ihren Ämtern, Sakramenten und dem ganzen gottesdienstlich-geistlichen Leben der Kirche, wobei sicher der theologische Ausdruck dieser Verantwortung oft noch fehlerhaft und unausgereift ist.

LeerAber auch in einem solchen, - so sehr wir nach dem sachgemäßen theologischen Begriff zu streben haben, - kann die Erkenntnis eines neuen Problems oder die Annäherung an eine der Kirche eingestiftete heilige Realität und Ordnung liegen. Eine vollkommene Theologie gibt es zudem in diesem Aion überhaupt nicht, und das theologische Überlegenheitsgefühl, aus dem wir so gern gegeneinander argumentieren, dürfte nur allzu oft aus dem Vergessen jener eschatologischen Grenze stammen, die allem theologischen Denken gesetzt ist, wie 1. Kor. 13, 8 ff. zu lesen steht. Darum gelangte „Berneuchen” zu der Erkenntnis, es sei für alles theologische Denken heilsam, fruchtbar und vertreibe den bösen Geist der Besserwisserei und der wissenschaftlichen Werkgerechtigkeit, wenn das theologische Denken immer wieder in die andächtige Betrachtung und den anbetenden Lobpreis der großen Wunder der Versöhnung und Erlösung übergehe, in dem Hymnus zu Ehren Christi, in welchem alle Schätze der wahren Erkenntnis und Weisheit beschlossen sind.

Quatember 1956, S. 152-155

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-25
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