Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1956
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Kommunität aus der Buße
von Mutter Basilea Schlink

LeerDie Ökumenische Marienschwesternschaft wurde 1947 in Darmstadt gegründet. Sie ist aus einer Bußbewegung hervorgegangen. Nach langer Vorarbeit brachte das Erleben der Gerichtsnacht im September 1944, in der Darmstadt durch einen Luftangriff fast völlig vernichtet wurde, das ausgestreute Wort Gottes zum Aufgehen. Unter dem Reden Gottes in solchem Gericht erwachten Reue und Buße über das laue Christsein. Man erkannte als große Schuld die Unterlassungssünde, daß man in den Jahren der Gerichte Gottes über unser Volk so wenig gebetet und sich unter eigene und fremde Schuld nicht gebeugt hatte, weil man nicht oder wenig in der Liebe zu Gott und den Brüdern geglüht, die Nachfolge Jesu nicht ernst genommen hatte. Das Trauern über die Sünde trieb in die Arme Jesu und ließ Ihn anders denn je erkennen als den Erlöser, der Sünde vergibt, als den Seligmacher und als das triumphierende Lamm über Sünde und alle Mächte der Hölle.

LeerKonnte es anders sein, als daß nun Anbetungsfreude aufbrach, weil man dem Dank und Ehre geben wollte, der uns also liebt, der unsere Sünden vergeben und uns ein neues Leben geschenkt hat? Und konnte die Reue zu etwas anderem führen als zu einer neuen radikalen Hingabe und dem Ernstnehmen der Worte Jesu für unsere Lebensgestaltung, nämlich, Ihm nachzufolgen auf Seinen Wegen der Armut, Niedrigkeit, Schmach und des Gehorsams und damit sein Kreuz auf sich zu nehmen? Konnte der Schmerz über die erkannte Sünde eine andere Folge haben, als daß man nun gerade das tun wollte, was man vorher unterlassen hatte, nämlich jetzt den Auftrag des Gebetes ausführen? Darum trieb es die Jugendkreise und dann später die Marienschwesternschaft aus der Buße über die Unterlassungssünde des versäumten Gebetes heraus ganz besonders zum Gebetsdienst, einerseits in der Fürbitte für unser Volk und unsere Kirche, andererseits in der Anbetung des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. So wurde es ein entscheidender Wesenszug der Marienschwesternschaft, daß sie vor allem eine Schwesternschaft des Gebetes ist. Dies fand seinen Ausdruck in verschiedenen Formen des Gebets, im freien Gebet, im liturgischen Gebet, und zwar im Psalmengebet sowie in anderen unter uns entstandenen liturgischen Formen.

LeerNeben dem Gebetsdienst steht als zweiter Auftrag der Marienschwesternschaft der der Wortverkündigung. Es geschieht durch die Rüstzeiten im Gästehaus, durch Verkündigungsspiele, durch Schriften (eigene Druckerei und Verlag) und auch durch Jugend- und Frauenarbeit in den Stadtrandsiedlungen mit dem Missionsomnibus „Jesu Bote”. Auch dieser Auftrag hat dieselbe Quelle: Es ist die Reue und Buße, die ja immer in die Liebe zu Jesus führen, dem man dann aus Liebe zu Diensten stehen und darum Seinen Namen künden will, um Ihm viele herbeizuführen, daß sie das gleiche tun.

LeerDoch Reue und Buße, die dann in die Liebe führen, sollten ja in einem Christenleben nie etwas Einmaliges sein, sondern unser Leben soll eine tägliche Reue und Buße sein. Darum konnte es nicht anders sein, als daß der Herr uns immer weiter auf anderen und neuen Gebieten über Versäumnisse und Verschuldungen zur Reue führte. Dies geschieht im Kleinen durch unsere Kapitelsitzungen, die wir jede Woche einige Male haben und wo wir uns gegenseitig den schwesterlichen Dienst des Mahnens und Sichvergebens beim Offenbarwerden unserer Sünden und Versäumnisse unter dem Lichte Gottes tun. Doch wenn der Herr im Kleinen so in sein Licht stellt, redet und richtet, wieviel mehr tut Er es dann auch im Großen. Und so geschah es im vorigen Jahr, daß der Herr uns über unser Verhältnis zu Seinem Volk Israel in die Wahrheit führte und uns unsere Schuld an diesem tiefer erfassen ließ. Gott ließ uns die Größe dieser Schuld erkennen, daß wir ausgerechnet das Volk angetastet hatten, dem Seine besondere Liebe gilt und das er Seinen Augapfel nennt. Der Herr stellte uns vor Augen, daß wir Blut an den Händen haben, da wir, das deutsche Volk, ja sechs Millionen Juden auf grauenhafteste Weise umgebracht haben.

Linie

LeerWir als Christen sind in besonderer Weise mitschuldig an dem, was in unserem Volk geschehen ist, woran wir insofern alle beteiligt waren, daß wir dem Greuel nicht gewehrt hatten, fast keiner von uns aufgestanden war, als die Synagogen niederbrannten und wir nicht bereit waren, unser Leben einzusetzen für unsere Freunde. Sollte nicht das Gericht am Hause Gottes anfangen? Doch wer unter uns Christen hat sich darüber durchrichten lassen? Ja, wir haben zu dieser Schuld noch weitere hinzugefügt, indem wir uns nach 1945 nicht zu unserer Schuld stellten und nicht Wege suchten, denen wohlzutun, die wir gequält und deren Angehörige wir gemordet hatten. Der Staat hat es wenigstens insoweit getan, daß das Wiedergutmachungsgesetz anerkannt und durchgeführt wird. Wir haben wahrlich die Juden nach 1945 nicht mit Liebe überschüttet, denn sonst könnten nicht so viele von ihnen heute noch stellungslos oder in anderer Art von Elend sein. Nein, wir hatten nicht gewehrt, daß Israel damals unter die Mörder fiel, die ihn zerrissen haben, und nachdem er zerrissen dalag, haben wir auch nichts getan, seine Wunden zu heilen. Wir haben alle dem Volk Israel nicht viel Liebes getan, wie zum Beispiel nicht Geld nach Palästina geschickt, auf daß die dahin geflüchteten Juden sich nun eine neue Existenz aufbauen könnten; wir haben nicht Wege gesucht, ihnen die Hand zu reichen und Liebesbande anzuknüpfen. Wenn wir nur etwas Reue über die große Schuld hätten, müßten die Juden sich nicht helfen können vor einem Überschüttetwerden mit Liebe von unserer Seite.

LeerDaß dies alles nicht geschehen ist, richtete uns sehr, und wir erkannten unsere große Heuchelei, daß wir als Christen beten, daß Israel heimfände zu Jesus, aber mit Händen, die voll Blut sind, zu beten wagen. Und so zeigte uns der Herr, daß es hier darauf ankam, sich schonungslos zu seiner Schuld zu stellen, das heißt, sie vor den Juden und sonst zuzugeben, daß es jetzt darum ging, da ja von einem wirklichen Wiedergutmachen nicht zu reden ist, Liebe zu erweisen, wo wir nur konnten.

LeerWo ein Bächlein entspringt, findet es auch ein Bett, dahinein es sich ergießt, und so war es selbstverständlich, daß, nachdem durch Gottes Geist die Reue unsere Herzen erfaßt hatte, sie sich Bahn brach. Das geschah etwa im Pflegen der Gräber solcher Juden, bei denen sämtliche Glieder der Familie umgebracht waren, im Ersparen von Beträgen zum Mitaufbau einer neuen Existenz von Juden in Palästina durch kleine Entbehrungen an Wärme und Essen, wozu es uns trieb aus der tiefen Scham heraus, was wir als deutsches Volk jüdischen Alten, Kranken und Kindern an Unentbehrlichem entzogen hatten. Ein Bedürfnis war und ist es uns, bei dem schweigend eingenommenen Steh-Morgenkaffee im Gedenken an die Steh-Appelle der Juden in den Schreckenslagern Gebete für Israel, für seine bestimmten äußeren und inneren Nöte im Herzen zu bewegen. Gott schenkte große Gnade, daß manch neues Band der Liebe mit jüdischen Familien geknüpft wurde. Es wurde uns weiter ein Israel-Spiel zu gestalten geschenkt im Rahmen der Verkündigungsspiele in unserer Kapelle, durch das wir Menschen mit aufwecken dürfen, unsere Schuld an Israel zu erkennen und es als Gottes Volk zu lieben. Das führt dann zum liebenden Mithelfen durch Opfer und Spenden, die wir an die Israel-Aktion weiterleiten zum Aufbau Israels und zur Hilfe, daß die verfolgten Juden aus Marokko nach Israel heimkehren können.

Linie

LeerIm letzten Jahr durften dann die beiden Oberinnen eine Reise nach Israel unternehmen. Es ging nicht in erster Linie um eine Reise zu den heiligen Stätten, sondern es war mehr eine Bußreise in den Staat Israel, dessen Menschen nach den schweren Leiden der Verfolgungszeit sich dort unter unsagbaren Opfern eine Existenz aufbauen. Es ging uns darum, Juden aufzusuchen, um uns vor ihnen zu beugen und das Bekenntnis unserer Schuld dort klar auszusprechen. Welche Begegnungen waren das in diesem Lande! Kaum auszusprechen sind der Jammer und das Elend, wie sie uns aus den einzelnen Schicksalen, die wir erfuhren, entgegensprangen. Beinahe in jeder Familie, die wir besuchten, waren nur Übriggebliebene einer zahlreichen Familie und konnten nur von einem großen Morden und entsetzlichen Schicksalen berichten. Oft waren gebildete und bedeutende Menschen nun in großer Armut und in primitivsten Arbeiten eingespannt. Welch ein Gericht war es uns, daß wir kaum wagen konnten, diesen Menschen etwas von Jesus zu sagen, weil wir Ihn ja durch unser ganzes Verhalten unglaubwürdig gemacht hatten. Wir spürten immer mehr: Was wir Gottes auserwähltem Volk angetan hatten, das hatten wir Gott selbst angetan. Und wir sahen klar: Die Schuld an Israel liegt noch auf unserem Volk.

LeerWir wunderten uns nun nicht mehr, daß genau entsprechend dem, was wir Israel angetan hatten, das war, was uns Deutschen dann auch widerfahren ist. Auch unsere Kirchen brannten 1943-1945 in den Städten nieder, auch unsere Leute zogen als Flüchtlinge in Scharen durchs Land, auch die Deutschen wurden zu großen Mengen im Osten in Lager gebracht, und der Eiserne Vorhang redet noch heute von der Antwort Gottes darauf, daß wir jüdische Familien auseinanderrissen. Ja, Schuld muß gesühnt werden, das wurde uns Tag für Tag klarer, und Vergebung ist nur da, wo das Bekenntnis der Schuld ausgesprochen wird. So wissen wir, daß wir unseren Auftrag des Gebets nicht ausüben können, solange wir Blut an den Händen haben, das nicht unter die Vergebung Jesu gebracht ist. So , wissen wir, daß wir Missionsdienst und Verkündigungsdienst nicht tun können, es sei denn, unsere Schuld ist durch Buße und Vergebung getilgt. In den Gebetsauftrag unserer Schwestemschaft ist also der Auftrag an Israel mitbestimmend hineingekommen. Wir halten zum Beispiel jeden Freitag Abend in unserer Kapelle ein Israel-Gebet, in dem wir uns unter unsere Schuld beugen, aber auch fürbittend und segnend für Gottes Volk eintreten.

LeerIn dem allem rühmen wir, die wir durch viel Schuld und Sünde zum Leben und zur Marienschwesternschaft erweckt wurden, das eine: Reue bringt Vergebung - Vergebung führt zur Liebe. So machte uns der Herr seit der Erweckung in den Jugendkreisen immer wieder Schuld zur seligen Schuld, die uns auf dem Weg der Reue und Buße in den ganzen Reichtum der Liebe Gottes und damit in die Liebe zu Seinen Menschenkindern führen darf.

Quatember 1956, S. 162-164
© M. Basilea Schlink

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
Haftungsausschluss
TOP