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Religion und bildende Kunst
von Paul Tillich

LeerReligion bedeutet: letztlich betroffen sein, die Frage nach Sein oder Nicht-Sein auf den Sinn der eigenen Existenz beziehen und Symbole haben, in denen diese Frage beantwortet wird. Dies ist der weiteste und grundlegendste Begriff der Religion. Und die ganze Entwicklung nicht nur der modernen Kunst, sondern auch des Existentialismus in all seinen Bereichen - und das heißt der Kultur des 20. Jahrhunderts - ist nur zu verstehen, wenn wir begreifen, daß Religion im Grunde bedeutet: aufs äußerste besorgt zu sein um das eigene Sein, um sein Selbst und seine Welt, um deren Sinn, Entfremdung und Begrenztheit. Wenn das Religion ist, dann müssen wir davon Religion in einem engeren Sinn unterscheiden, nämlich Religion, die eine Reihe von Symbolen hat, für gewöhnlich göttlicher Wesen oder einer göttlichen Person, die symbolische Darstellungen besitzt von den Tätigkeiten dieser Götter oder dieses Gottes, die rituelle Tätigkeiten kennt und dogmatische Formulierungen über ihr Verhältnis zu uns. Das ist Religion im engeren Sinn, wobei Religion zunächst gleichgesetzt wird mit einem Glauben an die Existenz eines Gottes und dann mit den aus diesem Glauben abgeleiteten geistigen und praktischen Tätigkeiten. Wir müssen, wenn wir über Religion und Kunst sprechen, in den Begriffen beider Konzeptionen reden.

LeerWenn wir die Bezeichnung „religiöse Kunst” hören, glauben wir meistens, sie beziehe sich auf bestimmte religiöse Symbole wie Bilder von Christus, Bilder der Heiligen Jungfrau und des Kindes, Gemälde der Heiligen und ihrer Geschichten und vieler anderer religiöser Sinnbilder. Das ist die eine Bedeutung religiöser Kunst, aber es gibt eine andere, aus der weiteren Religionsauffassung sich ergebende, nämlich Kunst als Ausdruck einer letzten Betroffenheit. Natürlich wird es ein ästhetischer Ausdruck sein, ein künstlerischer, aber es wird ein Ausdruck tiefster Beunruhigung sein. Und wenn wir diese beiden Weisen unterscheiden, in denen Kunst Religion ausdrücken und Religion in der Kunst erscheinen kann, dann ist es vielleicht ratsam, vier Stufen der Beziehung zwischen Religion und Kunst zu kennzeichnen.

LeerDie erste Stufe ist ein Stil, in dem die letzte Betroffenheit nicht direkt, sondern nur indirekt ausgedrückt wird. Sie ist das, was wir für gewöhnlich weltliche Kunst nennen und hat keinen religiösen Inhalt. Sie beschäftigt sich nicht mit religiösen Symbolen und Riten irgendeiner bestimmten Religion. Diese erste Ebene behandelt Landschaften, menschliche Szenen, Porträts, Ereignisse, alle Arten von Dingen innerhalb der säkularen menschlichen Existenz.

LeerDie zweite Stufe ist gleichfalls ohne religiösen Inhalt. Es gibt hier weder Heiligenbilder noch solche von Christus oder der Heiligen Jungfrau. Es gibt auch keine geistlichen Szenen, aber Stil, und Stil ist die Form, die den Sinn einer Epoche ausdrückt. Wenn wir wissen wollen, was das elementare Selbstverständnis eines historischen Zeitabschnitts ist, müssen wir fragen: Was für ein Stil herrscht in dem künstlerischen Schaffen dieser Periode? Stil ist die allgemeine Form, die in den Sonderformen jedes einzelnen Künstlers und jeder individuellen Schule noch als umgreifende Ordnung sichtbar ist. Und diese Grundform ist der Ausdruck dessen, was in dieser Zeit unbewußt als ihre Selbst-Interpretation gegenwärtig ist, als Antwort auf die Frage nach dem letzten Sinn ihrer Existenz. Das Charakteristikum eines religiösen Stils ist nun das, daß da etwas aus den Tiefen an die Oberfläche durchbricht. Wo auch immer das geschieht, haben wir einen religiösen Stil, selbst wenn überhaupt kein religiöser Inhalt dargestellt wird. Das wird im Mittelpunkt unserer Betrachtung stehen. Die dritte Stufe ist die eines nicht-religiösen Stils, der dennoch religiöse Inhalte behandelt. Das sind Christusbilder, Bilder der Heiligen, der Heiligen Jungfrau und des Heiligen Kindes. Wir denken sofort an die Kunst der Hochrenaissance, wenn wir an diesen dritten Bereich denken. Das ist nicht-religiöser Stil, der sich mit religiösen Inhalten befaßt.

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LeerDie vierte Stufe ist hauptsächlich die, in der religiöser Stil und religiöser Inhalt vereint sind. Das ist eine Kunst, die im konkretesten Sinn religiöse Kunst genannt werden kann. Sie kann zu liturgischen Zwecken oder privater Andacht verwandt werden. Stil und Inhalt stimmen in ihr überein. Aber ich muß diese Beschreibung der vierten Stufe mit einer Frage schließen: „Ist solch eine religiöse Kunst heute möglich?” Und mit dieser Frage kehre ich zu den vier Stufen zurück und gebe einige Beispiele.

LeerFür die erste Stufe nenne ich ein Bild von Jan Steen „Die Welt auf der Düne”. Ich sah jenes Bild vor zwei oder drei Jahren in der National Gallery, als ich zum ersten Mal anfing, über eine Vorlesung über Religion und Kunst nachzudenken. Ich wollte mir religiöse Bilder ansehen oder wenigstens Bilder, auf denen religiöser Stil sichtbar wird. Aber es kam so, daß ich von einem Bild nicht wegsehen konnte, das diesem von Steen sehr ähnlich war. Ich stellte mir eine Frage: „Was drückt dieses Bild in den Begriffen einer Grundinterpretation menschlicher Existenz aus?” Und meine Antwort lautete: „Es drückt auch die Macht des Seins aus, die Macht des Seins in der Sprache einer uneingeschränkten Vitalität, in der die Selbst-Bestätigung des Lebens fast ekstatisch wird.”

LeerIch komme zur zweiten Stufe, die ich die existentialistische nennen möchte. Es gibt ein Bild von Cezanne, ein Stilleben. Die Bewegung des modernen Existentialismus beginnt mit Cezanne in Frankreich. Ich erinnere mich einer Erfahrung, die ich vor zwei Jahren machte, als ich in Paris war. Dort war eine Ausstellung von Stilleben aus der Zeit des 16. oder 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Je näher wir unserer heutigen Situation kommen, um so mehr beherrscht das Stilleben alles. Man kann in etwa sagen, daß die meiste moderne Kunst alle Realität in die Formen eines Stillebens verwandelt hat. Was heißt das? Es bedeutet, daß die organischen Formen verschwunden sind und mit ihnen der Idealismus, der immer mit der Beschreibung organischer Formen verknüpft ist. Die Erscheinungsweisen unserer Existenz sind nicht mehr organisch. Sie sind atomistisch. Sie sind zerrissen. Diese auseinandergesprengten Formen unserer Existenz werden als solche von den modernen Künstlern als die wahren Elemente der Wirklichkeit genommen, und dann reduzieren diese Künstler die farbenfreudige Welt des Impressionisten und der verschönernden Idealisten der Vergangenheit auf mehr und mehr kubische Formen. Dieses Verfahren fängt genau mit Cezanne an. Kubische Figuren sind anorganische Formen, aus denen die Welt gebildet ist. Aber die Künstler nehmen die Behauptung nicht an, daß diese Figuren nur nicht-organisch sind. In gerade dieser nichtorganischen Gestalt ist die Macht des Seins selbst verkörpert. Die Zerrissenheit des expressionistischen und surrealistischen und all der anderen neueren Stilarten wie Kubisten und Futuristen ist nichts anderes als der Versuch, auf den Grund der Realität zu sehen, unter jede Oberfläche und jede Ausschmückung der Oberfläche und jede organische Einheit. Es ist der Versuch, die Elemente der Realität als gründende Kräfte des Seins zu sehen, aus denen die Wirklichkeit errichtet ist.

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LeerWir kommen nun zu einem anderen Künstler, zu van Gogh. Hier haben wir wieder den Charakter des Unter-die-Oberfläche-Gehens. Wenn wir solch ein Bild als eine niedliche Beschreibung unseres Apfelgartens zu verstehen suchen, dann ist es das nicht ganz. Er nennt es „Sternennacht”. Es ist eine Schilderung der schöpferischen Kräfte der Natur. Es geht in die Tiefen der Wirklichkeit, wo Gestalten dynamisch geschaffen werden. Er nimmt den äußeren Schein nicht mehr hin. Keiner von diesen Leuten tut das. Darum geht er in jene Gebiete, in denen das Spannungsverhältnis der Kräfte - das bedeutet Dynamik tatsächlich - in sichtbarer Gestalt ausgedrückt wird. Das haben wir hier. Und wir haben das gleiche in bezug auf die menschliche Gesellschaft, wie sie im Bild „Nachtcafe” gesehen ist. Was wir hier sehen, ist die Leere der späten Stunde, nur eine Gestalt ist da. Der Kellner ist weggegangen, und ein Mann sitzt allein da. Er verkörpert inmitten all der schönen Farben, die wir sehen, das Grauen der Leere.

LeerDer Norweger Munch könnte hier angefügt werden. Er hat nicht so sehr Bilder der Leere gemalt - obgleich das auch in ihnen ist - sondern des Schauders, eines Schocks vor dem, was unheimlich ist, was wir nicht fassen können. So wurde dieser nordische Mann auch einer der Existentialisten, zur gleichen Zeit, in der Strindberg seine großen existentialistischen Dramen schrieb mit all ihren Spannungen, Schmerz, Leid und Ängsten.

LeerNun komme ich zu Picassos „Guernica”. Es ist eins der Hauptwerke Picassos. Guernica war eine kleine Stadt im Land der Basken, die während des spanischen Bürgerkriegs durch einen kombinierten Luftangriff der Italiener und Deutschen vollständig zerstört wurde. Picasso hat diesen ungeheuren Schrecken gemalt - Stücke der Wirklichkeit, ineinander fallende Menschen, Tiere und unorganische Stücke von Häusern - in einer Art, in der der „Stück”-Charakter unserer Wirklichkeit, der Charakter des In-Stücke-Gerissen-Werdens vielleicht noch sichtbarer wird als auf irgendeinem anderen modernen Bild. Während einer meiner Vorlesungen wurde ich gefragt: „Welches wäre Ihrer Meinung nach das gegenwärtig beste protestantische religiöse Bild?” Ich antwortete fast ohne Zögern: „Guernica”. Ich nannte dieses Bild, weil es die menschliche Situation ohne jede Verhüllung zeigt. Es zeigt das, was in den meisten europäischen Ländern sehr bald in den Formen des Zweiten Weltkriegs folgte, und es zeigt, was jetzt in den Seelen vieler Amerikaner an Gespaltenheit, existentiellem Zweifel, Leere und Sinnlosigkeit vorhanden ist. Und wenn Protestantismus bedeutet, daß wir zunächst einmal nichts verdecken sollen, sondern die menschliche Situation in den Tiefen ihrer Entfremdung und Verzweiflung sehen müssen, dann ist dies eins der stärksten protestantischen Bilder. Und obwohl es keinen religiösen Inhalt, sondern einen religiösen Stil hat, hat es genau diese Wirkung auf all jene gehabt, die fähig sind, es von einem künstlerischen Standpunkt aus zu würdigen.

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LeerBraque in Frankreich folgt Picasso. Das Bild, auf das ich mich beziehe, heißt „Tisch”. Hier haben wir die Auflösung der organischen Realitäten, die wir in der Regel meinen, wenn wir von einem Tisch mit Gegenständen darauf sprechen. Es gibt Flächen, Linien und Farben, Elemente der Realität, aber nicht die Realität selbst. Wir nennen das „Kubismus”. Was bedeutet Kubismus? Es bedeutet, daß die Essenz der Wirklichkeit in diesen Urformen enthalten ist. Und was die moderne Kunst zu tun versucht, ist das: sich von der äußeren Form, die den Menschen des 20. Jahrhunderts nichts mehr zu sagen hatte, weg auf die Urelemente zuzubewegen, jene Grundstoffe der Wirklichkeit, die auf physikalischem Gebiet Kuben, Flächen, Farben, Lichter und Schatten sind. Von diesem Standpunkt aus kann solch ein Bild eine erschütternde religiöse Gewalt haben. In Deutschland wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in Amerika mit dem Bau der Riverside Church in New York von zwei Männern, Uhde und Hofmann, viele Bilder geschaffen, die Jesus porträtieren, entweder als empfindsamen Gläubigen wie Hofmanns Arbeit in der Riverside Church es tut, oder als neurotischen oder sonstwie kranken, düsteren Schullehrer, der durch kleine Ortschaften wandert. In jener Zeit galt diese Art Bilder als sehr religiös. Ich würde sagen, daß religiöse Kunst für mich doch etwas aufweisen muß von Gott und den Grundstrukturen, aus denen er seine Wirklichkeit gemacht hat.

LeerZur weiteren Illustrierung der zweiten Stufe verweise ich auf Chagalls Bild „Fluß ohne Grenzen”. Es ist stark symbolistisch, und das ist vielleicht die Grenze des Bildes. Dennoch fühlt hier jeder das Metaphysische der Zeit in der wild pendelnden Uhr und dem Tier über ihr und der ganzen Konstellation von Farben und Formen. Der Künstler versucht hier, irgendein Element der vorfindlichen Welt zu benutzen, um über das Äußere der begegnenden Welt hinaus zu gehen und in die Tiefen des Phänomens der Zeit einzutreten. Die Zeit ist ein Fluß ohne Grenzen.

LeerLassen Sie mich nun noch ein wenig systematischer über dieses ganze zweite Gebiet sprechen, das im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Ich möchte es, im Sinne meiner Grunddefinition, religiöser Stil nennen, obgleich es kein Bild gab, das einen religiösen Inhalt hatte. Und warum ist es religiöser Stil? Weil es die religiöse Frage radikal stellt und die Kraft und den Mut besitzt, der Situation ins Angesicht zu sehen, aus der diese Frage kommt, nämlich dem menschlichen Dilemma. In früheren Jahrhunderten haben wir Maler, die sehr ähnliches taten. Wir finden das in der manieristischen Periode, nach Michelangelo. In einigen Barockbildern haben wir es. Wir haben es bei Leuten wie Goya. Wir haben es in jenen großen dämonischen Gemälden von Breughel und Bosch, wo sowohl Elemente der psychologischen als auch der physischen Realität ohne naturalistischen Zusammenhang miteinander in das Bild einbezogen werden, ohne ein System von Kategorien, in das sie eingefügt sind. Das ist das ausschlaggebende Element im ganzen Existentialismus. Die essentiellen Kategorien der Zeit, des Raums, der Kausalität, der Substanz haben ihre elementare Macht verloren. Sie geben unserer Welt keinen Sinn. Man erwartet von ihnen, daß sie es täten. Wir können verstehen, daß ein Ding dem andern folgt, das eine das andere verursacht, eines vom anderen unterschieden ist, jedes seinen Raum und seine Zeit hat und so weiter. Aber all das stimmt nicht mehr. Die Menschheit fühlt sich in dieser Welt nicht mehr zu Hause. Die Kategorien haben ihre umfassende, überwältigende und ansprechende Kraft verloren. Es gibt keine Sicherheit in der Welt. Wir haben Psalmen wie den im Alten Testament und Worte im Buch Hiob, die vom Menschen sagen: „Und seine Welt kennt ihn nicht mehr”. Das wird im neunzigsten Psalm wiederholt. Die Verhältnisse sind verschoben. Verschleppte Menschen sind das Symbol unserer Zeit, und unbehauste Seelen sind die Wirklichkeit in allen Ländern. Diese umfassende gestaffelte Verrückung unserer Existenz wird in diesen Bildern ausgedrückt.

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LeerIch möchte einige Beispiele für die beiden anderen Ebenen zeigen, damit wir ein vollständiges Bild der ganzen Situation haben. Wir haben ein Bild von Raffael, das außerordentlich schön ist, das ein religiöses Thema „Madonna mit Kind” behandelt und das doch in Gehalt und Stil nicht religiös ist. Das ist der Unterschied zwischen den Bildern von Raffael und Chirico. Auf dem einen wird die Gespaltenheit der Wirklichkeit sichtbar, auf dem anderen haben wir eine harmonische Humanität, die indirekt religiös, aber im Stil nicht religiös ist. Oder nehmen wir den französischen Maler Fouquet. Wieder eine Madonna mit Kind. Die Frau ist eine Hofdame von nicht allzu gutem Ruf. Wir wissen, wer sie war, doch hier ist sie die Madonna. Das beweist, daß das religiöse Symbol in der Madonna und dem Kind hier nicht mit dem religiösen Stil verbunden ist, sondern auf die Mutter-Kind-Beziehung einer großen Frau am französischen Hof reduziert wird. Oder etwas anderes, einen Rubens. Da haben wir das gleiche. Es ist ein anderer Typ einer schönen Frau und ein anderer Kindertypus. Es ist wunderbar anzusehen, aber niemand würde meinen, daß dies die Mutter Gottes in der katholischen Symbolik dieser Beziehung sei. Das genügt um zu wissen, daß ein religiöser Inhalt an sich noch kein religiöses Bild ergibt, und viele von den Bildern, die Sie in den kirchlichen Zeitschriften finden, in den kleinen Sonntagsblättern innerhalb der Kirchen, in kirchlichen Versammlungsräumen und Pfarrbüros, haben genau diesen Charakter. Sie haben religiösen Inhalt, aber keinen religiösen Stil. In diesem Sinne sind sie gefährlich gottlos und etwas, gegen das jeder, der die Situation unserer Zeit versteht, kämpfen muß.

LeerNun komme ich zur vierten Stufe, nämlich zu Bildern, in denen die religiöse Gestalt mit dem religiösen Inhalt verbunden ist. Diese Form wird im allgemeinen expressionistisch genannt, weil es eine Form ist, in der das Äußere auseinandergesprengt wird, um etwas auszusagen. Ich habe schon erzählt, daß es solche Bilder lange vor der Neuzeit gab. Nehmen wir das Beispiel von Grecos „Kreuzigung”. Wir haben hier die absolut widernatürliche Gestalt des Körpers. Die Ordnungen sind gesprengt. Das ist keine natürliche Möglichkeit. Aber es ist ein Ausdruck der Gegenreformation, in der eine kleine zarte Linie zum Göttlichen hin aufsteigt in ekstatischer Selbst-Erhebung, mit Asketik und häufig in Selbstzerstörung. Oder ein noch früheres Bild des spät-gotischen Malers Matthias Grünewald, seine berühmte Kreuzigung am Isenheimer Altar. Ich glaube, es ist das größte deutsche Bild, das je gemalt wurde, allen Bildern von Dürer und allen anderen überlegen. Und es zeigt, daß der Expressionismus keinesfalls eine moderne Erfindung ist. Dann gibt es die moderne „Kreuzigung” von Sutherland. Da haben wir sehr ähnliche Ausdrucksweisen, aber in modernen Formen. Das ist nun ein neuer Expressionismus, der sehr ähnlich Figuren benutzt wie Grünewald und dazu alle Elemente des zerrissenen Stils, den die moderne Kunst geschaffen hat. Und ich stelle jetzt eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Jeder von uns muß sie für sich selbst beantworten. Ist es möglich, heute diese vierte Stufe zu erreichen? Ist es möglich, diese Elemente expressionistischer bildender Kunst zu verwenden, wenn man die traditionellen Symbole der Christenheit darstellt? Manchmal, zum Beispiel bei diesem Sutherland'schen Werk, bin ich bereit zu sagen: es ist möglich. Manchmal bin ich dazu nicht bereit. Am nächsten kommt Emil Nolde, ein deutscher Expressionist jener Schule, die 1905 begann. Einige versuchten damals mit den von ihnen geschaffenen expressionistischen Mitteln die Symbole der Vergangenheit zu erneuern.

LeerMitunter bin ich überzeugt, aber zuweilen fürchte ich, daß es nicht völlig gelingt. Um das zu erläutern, verweise ich auf Rouaults Arbeit „Christus von den Soldaten verspottet” als auf einen Versuch, seine expressionistischen Formen dazu zu gebrauchen, uns Christi Geschichte auf der vierten Ebene der Kunst gegenwärtig und zeitnahe zu machen. Das letzte meiner Beispiele ist eine „Kreuzigung” von Rouault. Ich muß jetzt wiederholen: mitunter habe ich das Gefühl, das sei eine Lösung, zum mindesten würde ich sagen: es ist die bessere Lösung, besser als irgendetwas, was wir in unserm traditionellen „Krimskram” heutiger religiöser Kunst haben. Aber andererseits frage ich mich: Ist der heutige Mensch wirklich imstande, die Fragc zu beantworten, die uns allen auf sämtlichen Gebieten des Lebens vom Existentialismus gestellt wird? Können wir konkrete religiöse Symbole schaffen?

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Nachwort des Herausgebers
Wir freuen uns, in diesem Heft, in dem wir des siebzigsten Geburtstages unseres verehrten Freundes Paul Tillich gedenken, unseren Lesern an einem Beispiel auch einen unmittelbaren Einblick in seine Denk- und Redeweise geben zu können. Freilich bereitet ein solches Stück aus einer Vorlesung dem Leser einige Schwierigkeit, weil er die ganze Betrachtungsweise und Terminologie kaum kennen kann, mit denen die Hörer des lebendigen Vortrages mehr oder weniger vertraut sind. Auch ist zu beachten, daß - um das Verhältnis zur Kunst deutlich zu machen - die beiden Begriffe „Religion” und „Protestantismus” in einem weiten und allgemeinen Sinn gebraucht werden, wo sie eigentlich mehr die formalen Voraussetzungen, als den eigentlichen Inhalt beider Begriffe bezeichnen: die Fähigkeit und Bereitschaft, „letztlich betroffen zu sein”, ist die Voraussetzung jedes echt religiösen Verhaltens, und die Bereitschaft, die menschliche Situation ohne jede Verhüllung zu sehen und sie durch nichts verdecken zu lassen, in gleicher Weise die Voraussetzung für das, was der Protestantismus unter Gnade und Glaube versteht. Auch darf das, was der Verfasser zur Beschreibung und Erklärung bestimmter heutiger Stilformen in der Kunst anführt, gewiß nicht immer als die letzte eigene Meinung des Verfassers verstanden werden, denn es wäre sehr ernstlich zu fragen, ob wirklich „die Lebensformen unserer Existenz” nicht mehr organisch, sondern atomistisch sind, und ob wirklich die Welt aus anorganischen Formen wie Würfeln, Kurven usw. gebildet ist. Aber solche Formulierungen können einen wesentlichen Dienst tun, um Dinge zu deuten, die vielen von uns fremd und unverständlich sind, und um zugleich einen Eindruck von der umfassenden Weitschaft der Gedanken von Paul Tillich zu vermitteln.
Wilhelm Stählin

Quatember 1955/56 S. 198-204

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 19-05-10
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