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Eine Hühnerfarm - und eine Frage
von Karl Knoch

LeerAuf der Hochfläche der Schwäbischen Alb besuchte ich eine vor kurzem angelegte moderne Hühnerfarm. Inmitten einer herben, aber sonst unberührten, weiten Landschaft liegt das niedrige, langgestreckte Stallgebäude - weit genug weg vom Wohnhaus, um dieses nicht zu beeinträchtigen. Kärglicher Grasboden umgibt den Hühnerstall; aber es ist ein Boden, auf dem Enziane und Skabiosen mit besonders tiefen Farben blühen, ein Boden, ganz durchsetzt mit Kalksteinen.

LeerAber die Hühner empfangen nichts von dieser Landschaft, nichts von der klaren Luft und von der intensiven Sonnenbestrahlung. Denn sie wohnen ganz und gar nur im Stall; nur im Sommer, wenn es warm und windstill ist, dürfen sie, selten genug, für kurze Zeit einmal aus ihrem Gefängnis heraus. Im Winter und im Frühjahr würden sie draußen krank werden. Denn, seit sie aus dem Ei ausgeschlüpft sind, kennen sie nur ihre Umwelt im Stall: die langen Gestänge, auf denen sie sitzen, auf dem Boden die Streu, in der sie ein wenig scharren können, und die die ganz feinen Kalksteine mit enthält, die die Tiere für die Vorverdauung im Kropf brauchen. Dreimal täglich werden sie gefüttert; darunter ist das Leg-Mehl besonders wichtig, das aus über zwanzig, sorgfältig ausgewogenen Bestandteilen zusammengesetzt ist. An den Schmalwänden stehen, wie große Schränke, die Leg-Ställe, kleine, mit Stroh ausgelegte Fächer, in die die Hennen sich verkriechen, wenn sie ein Ei legen wollen. Im Winter wird morgens, wenn es draußen noch dunkel ist, selbsttätig, künstliche Beleuchtung durch Philips-Röhren eingeschaltet, damit die Tiere aufwachen; der Tag wäre sonst für sie zu kurz; sie würden nicht genug fressen und nicht genügend legen.

LeerUnd nun müssen wir uns doch ernsthaft fragen: darf man so mit Tieren, mit lebendigen Geschöpfen Gottes umgehen? Darf man aus Tieren eine Eier-Lege-Fabrik machen?

LeerDazu wird gesagt: diese Tiere, die schon seit Generationen kein anderes Dasein kennen, empfinden gewiß keinen Mangel. Und doch: auch sie haben das, was wir heute beim Menschen die „Seele” nennen! Als diese über 300 Hühner nämlich aus ihrem bisherigen Stall in den jetzt neu gebauten verbracht wurden, haben sie etwa drei Wochen lang kein Ei gelegt. Die Umsiedelung hat für sie offenbar das bedeutet, was wir beim Menschen einen ‚Schock’ nennen. Sie haben also doch sehr tief empfunden, daß da etwas Grundlegendes an ihrem Dasein geändert wurde. Was mögen diese Tiere sonst noch empfinden? Das wissen wir nicht. Ganz gewiß aber viel mehr, als wir Menschen uns vorstellen. Dürfen wir aus ihnen Eier-Lege-Maschinen machen? Überschreiten wir damit nicht eine Grenze, die uns der Schöpfer gesetzt hat? Mißbrauchen wir damit nicht andere Lebewesen, lediglich, um einen höheren Ertrag zu erzielen, um mehr zu verdienen?

LeerUnd liegt diese Grenz-Überschreitung nicht auch an vielen anderen Stellen vor? Im Allgäu hat man festgestellt, daß die Milch von solchen Kühen, die auf künstlich gedüngten Wiesen gefressen haben, sich so verändert hat, daß der Schweizer Käse nicht mehr geraten ist. Auch sonst wissen wir von der Fragwürdigkeit der künstlichen Düngung.

LeerWo liegt die Grenze, die wir nicht überschreiten sollten, etwa bei der Atom-Forschung?

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Nachbemerkung
LeerKann man diesen Bericht über die Hühnerfarm auf der Schwäbischen Alb lesen, ohne das Schwergewicht der Fragen zu spüren, die Karl Knoch daran geknüpft hat? Es scheint, daß die Furcht der Menschheit vor der nicht mehr kontrollierbaren Entfesselung atomarer Kräfte den einen positiven Sinn hat, daß, vielleicht zum erstenmal, die Frage nach den Grenzen aufgebrochen ist, welche ebenso der wissenschaftlichen Erforschung wie der technischen Beherrschung der lebendigen Wirklichkeit gezogen sind. Wer aus diesem Bericht nur Mitleid mit den armen Hühnern herauslesen wollte (das man als eine unsachliche Sentimentalität wegwischen dürfte), der hätte die Sorge nicht verstanden, die sich hier anmeldet. Ich will auch nicht sagen, es gehe ja nicht um Hühner, sondern um den Menschen; denn die Hühner sind wie alle lebendige Wesen, ja selbst wie die „toten” Stoffe, ein Stück der geschaffenen Welt, die dem Menschen wohl zu seinem Nutzen, aber zugleich zu seiner Pflege und Fürsorge anvertraut ist. Die Märchen, in denen einem Menschen verboten wird, die letzte verschlossene Tür zu öffnen, drücken in der Bildersprache des Märchens aus, daß der Neugier des Menschen eine Grenze gesetzt ist, die er nicht ohne schwerste Gefährdung überschreiten kann, daß ein letztes Geheimnis des Lebendigen als ein unantastbares tabu zu wahren ist.

LeerDie Dinge werden am deutlichsten an der Gefährdung des Menschen durch eine alles aufdeckende und sezierende psychologische Analyse. Hans Asmussen hat in einem (meines Wissens nie veröffentlichten) Akademie-Vertrag davon gesprochen, daß es Dinge gibt, welche weder der Untersuchungsrichter, noch der Psychologe, sondern höchstens der priesterliche Seelsorger erfragen darf, wenn nicht der Mensch in dem Kern seines Person-Seins verwundet und aufgespalten werden soll. Die Grenzüberschreitungen der technischen Naturbeherrschung machen nur offenbarer, was auf dem Gebiet der Forschung schon geschehen ist, ohne daß die Folgen so sichtbar zutage treten. Romano Guardini hat in seiner Schrift über das Ende der Neuzeit als eines der Merkmale des „nachneuzeitlichen Menschen” dieses beschrieben, daß dieser Mensch keinen Wert mehr auf Weltgestaltung, sondern nur noch auf Weltbeherrschung lege. Aber ist das noch echte Herrschaft, die keinen Wert mehr auf sinnvolle Gestaltung legt?

LeerAnders ausgedrückt: Während wir uns im Bereich der Moral über den Grundsatz entrüsten, daß der Zweck das Mittel heilige, haben wir längst die Bahn freigegeben, bei der der Sinn, nämlich der Sinn der menschlichen Existenz im Gefüge der geschaffenen Welt, dem Nutzeffekt preisgegeben und zerstört wird. Damit aber wird nicht nur die äußere Natur, das lebende Wesen, Boden und Pflanze, Tier und Strom in seinem sinnerfüllten Sein, sondern ebenso zugleich der Mensch in seiner gottbildlichen Würde mit Zerstörung bedroht; auch darum, weil die Tyrannei der herrschsüchtigen Zwecke nicht halt macht vor dem Menschen selbst und der Mensch selber dann in seiner Weise wie durch einen bösen Zauber in ein bloßes Instrument verwandelt wird; der Funktionär einer Kolchosen-Wirtschaft oder irgend einer staatlichen oder „sozialen” Apparatur ist die menschliche Form der „Eier-Lege-Fabrik”, die uns jener Bericht schildert. Aber vielleicht merken manche Menschen an den Hühnern eher, was längst an ihnen selbst geschieht und womit sie sich in selbstmörderischer Resignation schon abgefunden haben.
Wilhelm Stählin


Quatember 1956, S. 223-224

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-25
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