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Quartal eines Jahrhunderts
Nach einem Menschenalter XVII
von Gerhard Hage

LeerDas diesjährige Michaelsfest der Evangelischen Michaelsbruderschaft hatte eine besondere Note durch zwei Dinge. Der Ring eines Vierteljahrhunderts schloß sich, und die Bruderschaft kam wieder am Ort ihrer Stiftung, in Marburg, zusammen. Aus den zweiundzwanzig Brüdern, die sich am 1. Oktober 1931 in der Kreuzkapelle der Universitätskirche zur Stiftung der Bruderschaft verbunden hatten, ist eine große Schar von vielen hundert Brüdern geworden, von denen fast vierhundert das Marburger Fest mitfeierten. Das Fest hatte seine besondere Prägung durch eine tiefgreifende Rechenschaft über den bisherigen Weg. Die Bruderschaft würde sich selber und ihrer Sendung untreu, wenn sie die Tatsache eines fünfundzwanzigjährigen Bestehens und Wachstums zum Anlaß eines Jubiläums nähme. Deshalb stand an der Spitze aller Vorträge und Gespräche in Marburg das Thema: „Credo ecclesiam - ein Bußruf an uns selbst”, über das Professor Heinz-Dietrich Wendland sprach. Es kann darum auch nicht der Sinn dieser kurzen Rückschau sein, Erfolge und Leistungen eines Vierteljahrhunderts aufzuzählen. Wir wissen uns vielmehr gerufen zu einer Selbstbesinnung über den Weg, den wir gegangen sind, und über den Ort, an dem wir jetzt stehen.

LeerEs wäre unnatürlich und ein Zeichen von Sterilität, wenn sich fünfundzwanzig Jahre nicht in das Leben einer Gemeinschaft eingeprägt und keine Wandlungen hervorgerufen hätten. Manch einer mag vielleicht jetzt die strenge, militante Form der Anfangszeit vermissen. Mit welcher Entschlossenheit hat die Bruderschaft einst ihr Leben vor jedem Einblick Außenstehender gehütet! Die Jahre des Anfangs waren ganz geprägt von einer starken Abgeschlossenheit derer, die das Mysterium der Fleischwerdung des Wortes und damit des Leibes Christi entdeckten und neu erfuhren, die einen besonderen Ruf zur Kirche mitten in ihrer verbürgerlichten, sich selbst genügenden und in ihren historischen Formen beharrenden Kirche vernahmen. Infolgedessen hat die Problematik des Ordens als einer Erscheinungsform des Leibes Christi die Bruderschaft lange Zeit hindurch nicht nur gedanklich, sondern sehr praktisch bewegt. Diese Wege waren notwendig, um zu dem Eigenen zu kommen, zu dem besonderen Auftrag der Bruderschaft, der sich nicht ohne weiteres mit einer historischen Form des gemeinsamen Lebens in der Kirche deckt und schon gar nicht deren Kopie sein kann. Die Bruderschaft kennt keine vita communis im engeren Sinne, keine Kontinuität des Ortes und der Zeit und ist dennoch ganz und gar eine geistliche Gemeinschaft mit einem starken gemeinsamen Leben.

LeerSie weiß sich mitten in die Welt gestellt und hat daher den Charakter der Diaspora in sich, einer Diaspora sowohl in der offiziellen Kirche wie in der Welt. Und dazu sagt sie Ja. Um so wichtiger sind ihr die Lebensordnungen geworden, die sie braucht, um diese Diaspora durchzuhalten, ohne sich nach der einen oder nach der ändern Seite zu verirren. Dazu gehört vor allem das Amt des Helfers, des Bruders also, der neben jedem Bruder steht und ihm in allen inneren und äußeren Nöten Rat und Beistand gewährt. Hier ist die Einsamkeit des Christen überwunden und damit eine sehr schwerwiegende Entartungserscheinung des Protestantismus, gemessen an der aus der Heiligen Schrift gewonnenen Existenz des Jüngers. Christus bindet seinen Jünger immer an seinen Bruder und sendet ihn mit diesem zusammen in die Welt. Hier ist aber auch die Beichte des Einzelnen wieder gewonnen und praktisch in der Kirche von heute wiederaufgerichtet. Mit welcher Selbstverständlichkeit ist gerade die Einzelbeichte etwa auf dem Frankfurter Kirchentag nicht nur behandelt, sondern geübt worden!

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LeerAuf dem Wege der fünfundzwanzig Jahre hat sich auch in der Form der Gottesdienste innerhalb der Bruderschaft manches gewandelt. Aber unverlierbar und keiner Wandlung unterworfen steht in ihrer Mitte das Aufbrechen der Quelle alles geistlichen Lebens und aller Liturgie: der Gegenwart des lebendigen Christus in der Eucharistie im umfassendsten Sinne des Wortes. Es wundert uns nicht, daß dieses ganz tiefe Ergriffensein von der Gegenwart Christi die Bruderschaft in den Ruf einer liturgischen Spezialtruppe gebracht hat. Das mag getrost geschehen! Denn inzwischen lebt die ganze Kirche weithin, oftmals ohne es wissen oder wahrhaben zu wollen, von dem, was die Bruderschaft stellvertretend als betende und feiernde Gemeinschaft getan und gelebt hat. Heute sehen wir mit Sorge den Versuch, das Gebet der Kirche behördlich verordnen zu wollen, ohne vorher an sich selbst geschehen zu lassen, was notwendig ist: die Ordnung des eigenen Betens und geistlichen Lebens durch das Gebet der Kirche.

LeerUnmittelbar damit hängt zusammen, was die Bruderschaft auf ihrem Wege an Meditation und geistlicher Übung erfahren hat. In beidem hat sich uns ein Raum aufgetan, in dem sich die Öffnung des Menschen für die Begegnung mit Gott und seinem Worte vollzieht, gleich weit entfernt von intellektuellem Verstehen und von mystischer Versenkung. Der Mensch läßt darin an sich geschehen, was Gott an ihm tun will, ehe er mit seinem Tun auf Gottes Tun antwortet. Über diese geistlichen Erfahrungen läßt sich freilich am schwersten sprechen. Wir können nur bezeugen, daß sich das Wort der Heiligen Schrift in ganz neuen Perspektiven öffnete. Es bewährt sich als Speise, die bis ins Leibliche hinein das Leben nährt und wandelt. Es mag ein Zeichen für die prägende Kraft dieser geistlichen Erfahrungen sein, daß Außenstehende öfters einen Michaelsbruder daran erkannten, wie er in einer besonderen - sagen wir: meditativen - Art geistlich lebt und handelt.

LeerAuf allen diesen Wegstrecken hat die Bruderschaft gewiß mancherlei Wandlungen durchgemacht. Geblieben ist das Ziel einer bewußten und alle Lebensbereiche erfassenden Hingabe für den Dienst Gottes in der Kirche, an der Kirche und an der Welt. Von Anfang an ist der Bruderschaft diese doppelte Sendung mitgegeben: für die Kirche und für die Welt da zu sein. Wenn das Zeichen des Erzengels Michael über ihrem Wege steht, so ist das kein romantisch-mythologisches Leitbild, sondern der bildhafte Ausdruck ihrer Sendung und ihres Auftrages: des geistlichen Kampfes, wie er eigentlich jedem Christen aufgetragen ist. Das gilt für den einzelnen Bruder und seine Lebensführung bis hin zu einer bewußten Bejahung der Askese und der zuchtvollen Wachsamkeit, wie auch für die Bruderschaft im Ganzen. Da die Bruderschaft diesen geistlichen Kampf nicht vorschnell mit irgendwelchen kirchlichen oder kirchenpolitischen Frontstellungen identifizieren durfte, sind manche Scheidungen daraus erwachsen. Das konnte nicht anders sein. Denn hier ist die tiefgreifende Krankheit des Protestantismus angepackt, nämlich die unverbindliche Allgemeinheit und die intellektuelle Gestaltlosigkeit. Wir meinen, kein Recht dazu zu haben, uns durch irgendetwas an dem immer neuen Versuch hindern zu lassen, diese Krankheit zu überwinden. Wir wissen uns einer konkreten, leibhaften Verwirklichung geistlichen Erkennens und Lebens verpflichtet,

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LeerWenn dir Bruderschaft nach fünfundzwanzig Jahren ihres Weges ihren heutigen Standort in der Schrift: „Credo ecclesiam” kennzeichnet, so ist das kein Bruch in ihrer Entwicklung. Es ging in Marburg 1931 und in Marburg 1956 immer um die Kirche in ihrer damaligen und heutigen Bedrohung durch falsche Beharrung und falsche Selbstsicherung, durch ihre fortschreitende Isolierung von dem Gesamtzusammenhang des Leibes Christi. Es ging und geht der Bruderschaft um ein Leben und Dienen für den Leib Christi und um die Offenheit für die kommende Kirche. Was in „Credo ecclesiam” als besonderer und neuer Ton hörbar wird, ist nichts anderes als das Anpacken der Ordnungsfrage in der Kirche, nichts anderes als das Bewußtwerden und Bewußtmachen der bruderschaftlichen Erfahrungen in ihrer eigenen Ordnung. Denn auch die rechtliche Gestalt der Kirche kann nur vom geistlichen Geschehen her geordnet werden und das heißt eben von ihrem Gottesdienst, vom Altar her.

LeerDie Kirche hat die Erkenntnisse dieser Zusammenhänge bereits vor zwanzig Jahren leidvoll gewonnen im Kirchenkampf des Drittes Reiches. Aber sie hat keine Folgerungen daraus gezogen oder höchstens falsche Folgerungen. Die Bruderschaft hat den Versuch gemacht, ihre eigene Gestalt vom Gottesdienst her zu ordnen, in ihrem Ältestenamt, im Helferamt, in der Ordnung ihrer Konvente. Darin kommt die konkrete Verwirklichung des apostolischen und katholischen Charakters der Kirche zum Ausdruck. Es geht dabei um die Überwindung der unheilvollen Trennung von Verkündigung und Verfassung der Kirche. Mag sein, daß die Zeit dafür noch nicht reif ist. Das kann aber eine geistliche Gemeinschaft nicht hindern, ihren Auftrag weiter zu verfolgen.

LeerEs erfüllt uns bei diesem Rückblick mit Unruhe, daß die Bruderschaft durch ihre intensive Hinwendung an die innerkirchlichen Aufgaben in die Gefahr kommt, ihren andern Auftrag zu vernachlässigen, nämlich den Menschen, die in der Welt von heute leben und vielfach von ihr angeschlagen sind, geistliche Lebensmöglichkeiten und Lebensformen zu geben. Die Bedrohung durch die moderne Zivilisation und das Massendasein enthält eine ganz große Aufgabe für die Kirche und ihren Dienst, zu dem die Bruderschaft sich besonders gerufen glaubt. Sie hat ihre Aufgabe von Anfang an da gesehen, wo der Mensch dieser Zeit nach geistlicher Hilfe ruft. Wir haben immer gemeint, daß darin mit gestrigen und vorgestrigen Lösungen und Formen nichts geholfen ist.

LeerAls eine Bruderschaft in der Kirche können wir keine Selbstbesinnung üben, die sich nur an unsern eigenen Zielen und unserer eigenen Sendung mißt. Wir erkennen schon darin, wieviel wir schuldig geblieben sind. Mehr noch wird uns das deutlich, wenn wir uns unter das Gericht des Herrn der Kirche stellen. Seine Augen sehen tiefer als unsere, und seine Waage kennt ganz andere Gewichte als unsere. Das macht uns erst recht bescheiden und demütig. Das treibt uns aber auch, noch eifriger und mutiger uns hinzugeben zum Dienst an unserer bedrohten und geliebten Kirche.

Quatember 1957, S. 25-27

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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