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Tradition
von Hans-Carl von Haebler

LeerDie traditionelle Geringschätzung der Tradition in unserer Kirche und die Meinung, als wären Tradition und Heilige Schrift Gegensätze, zwischen denen man sich zu entscheiden hätte, haben historische Gründe. Bekanntlich sind es gewisse schriftwidrige Traditionen der Papstkirche gewesen, die den Anstoß zur Reformation gaben. Es fragt sich aber - und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kirche der Renaissance, sondern auch im Hinblick auf die evangelischen Landeskirchen der Gegenwart -, ob die Tradition der Kirche in ihren Traditionen aufgeht. Vielleicht kann uns der Sprachgebrauch weiterhelfen. Man sagt: Die Menschen haben Traditionen, aber sie stehen in der Tradition. Das sind zwei völlig verschiedene, miteinander nicht vergleichbare Aussagen, welche die Möglichkeit offen lassen, daß man Traditionen haben kann, ohne in der Tradition zu stehen. Über Traditionen kann man verfügen, man kann sie zum Gegenstand der Geschichtsforschung machen, kontrollieren und ablehnen. Die Tradition, in der wir stehen, ist dagegen etwas Vorgegebenes, eine Daseinsweise des Menschen, die wir vorfinden und hinnehmen müssen.

LeerOffenbar hat es die Tradition mit der Geschichtlichkeit des Menschen zu tun. Trotzdem ist ihr mit den Methoden der Geschichtswissenschaft nicht beizukommen. Denn alle Wissenschaft muß zergliedern und objektivieren. So wie der Anatom eine Leiche seziert, nimmt der Historiker Quer- und Längsschnitte durch die Geschichte vor. Er zergliedert und beschreibt, was er vorfindet. Indem er die Geschichte auf diese Weise gegenständlich macht, kann er sie, unter Verzicht auf den Gesamtzusammenhang, in einzelnen Abschnitten und Ausschnitten betrachten. Er braucht nichts von russischer Geschichte zu wissen, wenn er über die Azteken schreibt, und nichts von Kunstgeschichte, wenn er sich mit Kriegsgeschichte befaßt. Charakteristisch für das wissenschaftliche Verfahren ist seine Sachlichkeit. So wenig wie der Anatom, der einen Menschenleib seziert, daran denkt, daß er selbst in einem solchen Leibe lebt und zu Hause ist, denkt der Historiker daran, daß er selbst ein geschichtliches Wesen ist und aus der Geschichte heraus lebt. Solche Selbstbesinnung gehört nun aber zum Phänomen der Tradition.

LeerFür den Historiker liefert die Geschichte den Stoff, in der Tradition wird sie zu einer gestaltenden Kraft. Eben darin unterscheidet sie sich von den Traditionen. Eben deshalb laßt sie sich nicht objektivieren und in Gestalt von Sitte, Brauchtum, Trachten, Volkstänzen und dergleichen vererben oder gar neu beleben. Wenn von der Tradition einer Familie oder eines Regiments die Rede ist, so wird dabei nicht nur an die Leistungen gedacht, die sie einmal vollbracht haben. Wo es bei dieser Rückschau bleibt, liegt eben keine Tradition vor, sondern Standesdünkel, Vergreisung, Reaktion. Die Tradition weist vielmehr in die Zukunft und enthält eine Verpflichtung.

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LeerDiese Verpflichtung beruht auf einer Gabe: Der Traditionsträger hat ein Zuhause. In dem Wald, den seine Vorfahren aufgeforstet, in dem Haus, das sie gebaut haben, in dem Menschenkreis, in den er hineingeboren, in den Grundsätzen, in denen er erzogen ist, hat er etwas empfangen, was ihm die Außenwelt zur Umwelt und zur Heimat macht. Er spürt eine Entsprechung zwischen dieser Außenwelt und seiner Seele und findet sich in ihr zurecht. Er ist bei sich Zuhause. Wer in der Tradition steht, fühlt sich nicht „geworfen”, wie die Existentialisten sagen. Jedenfalls unterscheidet sich der Mensch, der in der Tradition steht, von dem Menschen, der „geworfen” ist, dadurch, daß er nicht direktionslos von einem Augenblick zum ändern lebt, daß er nicht das Leben an sich vorüberziehen läßt wie einen Filmstreifen, ohne Aufgabe und Verantwortung, sondern daß er aus der Tiefendimension der Geschichte heraus in eine bestimmte Richtung gewiesen ist. Wenn es anders wäre, wenn die Tradition die Kräfte der Vergangenheit nicht für die Zukunft mobilisieren würde, hätte der Revolutionär keinen Anlaß, sie zu bekämpfen, Schlösser abzubrechen, Bücher einzustampfen, Namen zu ändern. Er will aber die Macht der Tradition brechen, indem er dem Traditionsträger die geistige Heimat nimmt.

LeerIn seinem Buche „Psychologische Weisheit der Bibel” spricht Wolfgang Kretschmar davon, daß „der Mensch vegetatives und animalisches Leben in sich trägt” und daß „die Strukturen dieser Naturbereiche einen Einfluß auf die in Zeit und Raum lebende Persönlichkeit haben”. Es will mir scheinen, daß die Tradition eine dem vegetativen Bereich entsprechende Struktur hat und daß es den Kern der Sache trifft, wenn wir von einem „Stammbaum”, von „Volksstämmen” und ähnlichem sprechen. Im Stamm des Baumes steigt der Saft empor. der den Ästen und Zweigen Leben zuführt. Der Saftstrom selbst ist das Leben, das sich weitergibt und im Wachstum des Baumes verausgabt. Gabe und Akt des Gebens sind identisch.

LeerWas solche Lebensvorgänge undefinierbar macht, daß nämlich Subjekt, Objekt und Prädikat in ihnen zusammenfallen, das ist auch für das Phänomen der Tradition charakteristisch. So wie der Baum im Saft steht, steht der Mensch in der Tradition, auch dann. wenn er nichts davon wissen will. Lebensvorgänge kann man ignorieren, aber nicht abstreiten. Nur der Tod setzt ihnen ein Ziel. Die Tradition kann abbrechen oder absterben, so wie ein Baum abbrechen oder absterben kann. Dann verkümmert der Mensch, der in der Tradition stand. Err erkrankt an Heimweh nach der guten alten Zeit - Heimweh ist bekanntlich eine echte Krankheit, die lebensgefährlich werden kann - oder er wird direktionslos und verfällt dem Nihilismus.

LeerWenn die Tradition nur ein Lebensvorgang wäre, so könnten wir nicht darüber reden. Es gehört dazu, daß wir sie ins Bewußtsein holen. Ein Beispiel: Dem jungen Parsifal steckt der Ritter im Blute. Seine Mutter will aber nicht, daß er Ritter wird, und verbietet ihrem Gefolge, in seiner Gegenwart, das Wort Ritter in den Mund zu nehmen. So wächst der Knabe auf voller Unruhe im Herzen, weil ihm das Leitbild vorenthalten wird, an dem er sich ausrichten könnte. Erst die Begegnung mit einem Ritter bringt ihm zum Bewußtsein, worauf sein ganzes Wesen angelegt ist, und gibt seinem Leben fortan Gestalt und Richtung.

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LeerEs genügt nicht, daß das Blut der Väter „in unseren Adern rollt”, daß uns der Bauer, der Soldat, der Kaufmann „im Blute steckt”. Wir müssen dem Bauern, dem Soldaten, dem Kaufmann in der Welt begegnen, damit die „Stimme des Blutes” sich meldet und damit wir wissen, was wir mit uns anzufangen haben. Mit dem Erlebnis, daß es in der Außenwelt etwas gibt, was unserem Inneren entspricht, stellt sich das Traditionsbewußtsein ein. Nun fühlen wir uns in der Welt zuhause, nun kann der dunkle Drang, der uns umtrieb, für eine Lebensaufgabe fruchtbar gemacht werden. Die Schwierigkeiten, mit denen die Jugend heute fertig werden muß, sind wohl zum Teil darauf zurückzuführen, daß es ihr an Leitbildern fehlt, welche eine vielleicht in ihr schlummernde Tradition zu wecken vermöchten.

LeerIm allgemeinen gebraucht man das Wort Tradition im positiven Sinn. Das kommt daher, daß man nur von den Vätern zu sprechen pflegt, deren man gern gedenkt. Beschämendes wird verschwiegen, vergessen und ins Unbewußte verdrängt. Wir haben uns früher an den Befreiungskriegen begeistert, als hätten wir sie selbst gewonnen, aber von den Kriegen und Untaten Hitlers wollen wir nichts wissen. Wir betrachten das Unheil, das über uns kam, als eine von außen hereingebrochene Katastrophe, der wir zum Opfer gefallen sind, und sehen nicht, daß dieses Unheil den Charakter eines Fluchs hat.

LeerDer Fluch ist die negative Form der Tradition. Alles, was wir von der Tradition gesagt haben, läßt sich mutatis mutandis vom Fluch sagen. Wir können uns dem Fluch nicht widersetzen. „Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortlaufend Böses muß gebären” - auch gegen unseren Willen. Die paradoxe Feststellung des Paulus „Das Böse, das ich nicht will, das tue ich” ist nur so zu erklären, daß wir in der Tradition des Bösen stehen. Die Vergangenheit belastet und vergiftet die Zukunft. Nur der Tod, der insofern ein Gnadenerweis Gottes ist, kann uns von dem Fluch erlösen, der seit dem Sündenfall auf uns lastet. Der Fluch bedrückt uns auch dann, wenn wir nichts von ihm wissen. Zur Selbstbesinnung kann er aber nur führen, wenn er uns zum Bewußtsein kommt. Man denke an den Ödipus des Sophokles. Es liegt im Charakter des Fluchs als negativer Tradition, daß er im Menschen nicht als gestaltende, sondern als zerstörende Kraft wirksam wird und daß er uns die Außenwelt nicht zur Heimat macht, sondern zur Hölle. Genauer gesagt: wo ein Fluch auf dem Menschen lastet, wird gerade die Heimat zur Hölle. Da befindet er sich, wie Kain, ständig auf der Flucht vor sich selbst.

LeerWir haben gesagt, daß der Mensch in der Tradition steht wie der Baum im Saft. Christus nimmt dieses Bild in Anspruch, indem er sich als den Weinstock, seine Jünger als die Reben bezeichnet. Wenn Christus Bilder gebraucht, so tut er das nicht wie einer, der nach einem poetischen Vergleich sucht, um seine Rede zu schmücken, sondern als der Herr des Kosmos, der seine Struktur kennt und auf den Menschen zu beziehen vermag. Wo er eine Analogie enthüllt, sollte diese auch für den Theologen unverdächtig sein. Die Tradition der Kirche hat es mit dem Lebenssaft dieses Weinstocks zu tun, mit dem Blute Christi. Im ersten Korintherbrief gebraucht der Apostel Paulus das Wort „tradieren” im Zusammenhang mit dem Mahl des Herrn. „Ich habe es von dem Herrn empfangen, was ich euch tradiere” sagt er zu Beginn seines Abendmahlsberichts (11, 23). Was hat er empfangen, und was hat er tradiert? Doch nicht die Einsetzungsworte.

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LeerIn den vorangegangenen Zeilen hat Paulus den Korinthern den Vorwurf gemacht, daß sie gar nicht das Abendmahl des Herrn feiern, sondern daß jeder verzehrt, was er selbst mitgebracht hat. Es geht also ums Essen und Trinken, um Fleisch und Blut Christi, die unter den Gestalten von Brot und Wein an die Gläubigen Ausgeteilt werden sollen, „bis daß Er kommt”. Diese traditio kann nicht absterben. Als die Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen können die Gläubigen ihre Heimat nicht verlieren. Sie werden immer zu Hause sein. Nicht das Wort ist die Abendmahlsspeise, aber das Wort muß gesagt, der Vorgang muß ins Bewußtsein gebracht werden, damit die wunderbare Speise als solche empfangen wird und damit wir wissen, daß Christus nun in uns ist und wir in ihm. Wir müssen ferner wissen, wer dieser Christus ist, der sich uns einverleibt. Deshalb gehört auch die Verkündigung zur Tradition der Kirche, in ihrer mündlichen Form und im Niederschlag des Kanon. Ohne Verkündigung könnte die Kraft Christi in uns nicht Gestalt annehmen und zu einem Leben in Christus führen.

LeerAm Bilde des Weinstocks hat Christus klar gemacht, daß er sich in seinem Wort und Sakrament weitergibt. Er ist Subjekt und Objekt der traditio. Träger in der Traditio aber ist die Kirche mit Beistand des Heiligen Geistes. Sie ist, wenn wir dem Bilde des Weinstocks nachsinnen, der Stamm, in dem der Leben spendende Saft emporsteigt, um über das Astwerk auch den letzten Zweig zu versorgen. Im Stamm wird die Apostolizität der Kirche, ihre Geschichtlichkeit und Kontinuität anschaulich, im Astwerk ihr katholischer, weltweiter Charakter. Stamm und Astwerk spenden kein Leben, aber sie dienen der Zufuhr des Lebens. Zuweilen verrichten sie diesen Dienst schlecht. Sie sind nicht gefeit gegen Umwelteinflüsse. Sie zeigen Auswüchse in Form von schlechten Traditionen und Mangelerscheinungen infolge einseitiger Verkündigung. Es ist auch möglich, daß einzelne Äste absterben. Trotzdem steht der Baum noch immer im Saft, und wir wissen, daß er darin stehen wird bis an der Welt Ende.

Quatember 1957, S. 27-30

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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