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Nach einem Menschenalter XVIII von Karl Bernhard Ritter |
Vor nunmehr drei Jahrzehnten, anno 1926, erschien „Das Berneuchener Buch” mit dem Untertitel „Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation”. Das Buch ist der Gutsherrschaft von Berneuchen, dem Hause von Viebahn-von dem Borne, gewidmet, das uns durch Jahre hindurch mit größter Gastfreundschaft aufgenommen und unsere Arbeit auch da mit herzlicher Anteilnahme begleitet hatte, wo ihm die uns bewegende Problematik fremd bleiben mußte. Schon die Erscheinungsweise des Buches war ungewöhnlich. Statt eines einzelnen Verfassers wurde die „Berneuchener Konferenz” genannt, mit gutem Grunde; war doch dies Buch wirklich aus den Beratungen der Konferenz hervorgegangen, zu denen Wilhelm Thomas durch die Aufstellung von Leitsätzen entscheidende Vorarbeit leistete, während die endgültige Niederschrift Ludwig Heitmann, Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Stählin übertragen wurde. Aber diese gemeinsame Arbeit wurde darüber hinaus auch ausdrücklich von einem größeren Kreis aufgenommen und „in seiner Grundhaltung bestätigt”. 70 Namen stehen so, als Ausdruck einer gemeinsamen Verantwortung, am Anfang des Buches, Namen von solchen, die seitdem ohne Unterbrechung in vertrauensvoller Arbeitsgemeinschaft mit uns geblieben sind, und Namen anderer, die uns ferner gerückt oder gar in entschiedenen Gegensatz zu uns geraten sind. Einige dieser Namen seien genannt, um die Spannweite des Kreises aufzuzeigen, der sich damals dem leidenschaftlichen Anruf dieser Schrift und ihrer Hoffnung verbunden und verpflichtet fühlte: Adolf Allwohn, Gottfried v. Bismarck, Leopold Cordier, Hans Gerber, Christian Geyer, Max Habermann, Gerhard Jacobi, Wilhelm Menn, Anna Paulsen, Gerhard Ritter, Hermann Schafft, Friedrich Karl Schumann, Carl Schweitzer, Paul Tillich. Das Buch berührt auch den heutigen Leser noch unmittelbar durch den Klang tiefer Besorgnis, heißer Liebe und großer Hoffnung! „Das Erschrecken vor dem Abgrund, in dem wir zu versinken drohen, schloß die Männer zusammen, die sich in ihm verbunden haben.” Gewiß kam der äußere Anstoß zu diesem Bekenntnis unserer Not und Hoffnung aus der Erfahrung von der tiefen Erschütterung einer jungen Generation, die sich, von der Frage nach dem Sinn des von ihrem Volk durchlittenen Schicksals bewegt, von der Kirche allein gelassen fühlte, von der Kirche, in der wir „die berufene Verkünderin letzter Wahrheit” ehren und lieben wollten und die sich doch als unfähig erwies, das erlösende Wort zu sprechen. Aber die gemeinsame Besinnung mußte über diesen ersten Anstoß hinausgreifen und versuchen, sich über die Krisis der ganzen Zeit und insbesondere die Lage der Kirche in dieser Zeit Rechenschaft zu geben. Die Herbsttagung 1924 „schenkte uns das kaum mehr erhoffte, beglückende Erlebnis, daß hinter der denkbar größten Verschiedenheit des Ausgangspunktes, der theologischen und kirchlichen Grundhaltung, der landschaftlichen Bestimmtheit, der sozialen und politischen Richtung eine Schau aufleuchtete”, die den gemeinsamen Versuch einer Bewältigung der uns bedrängenden Fragen und der Erkenntnis eines befreienden, nach vorwärts führenden Weges als aussichtsvoll erscheinen ließ. Dem aufmerksamen Leser des Berneuchener Buches wird es immer unbegreiflich sein, daß man der Berneuchener Arbeit restaurative Tendenzen vorwerfen zu können glaubte. „Nie kann sich eine Kirche durch ihre Vergangenheit rechtfertigen. Jede Gestalt und jede Stunde steht und fällt dem ewigen Richter. Darum gibt es auch keinen Augenblick des konkreten Geschehens, der für irgendeinen anderen absoluter Maßstab sein könnte. Der Strom der Geschichte kennt kein Zurück, sondern weist unerbittlich vorwärts - auf das letzte Ziel. Eben das erfahren wir heute in neuer Weise.” Deutlicher kann die Aussichtslosigkeit jeder bloßen Restauration nicht gut ausgesprochen werden. Von dieser Erkenntnis sind denn auch die Versuche im zweiten Teil des Buches bestimmt, der Kirche, die in ihrer Sendung, zu befreien, und in ihrer Sendung, zu gestalten versagt hat, die Aufgaben nachzuweisen, die ihr auf allen Gebieten ihres Lebens, in der Martyria, Leiturgia und Diakonia gestellt sind, in der Überwindung der Autonomie, des gegenständlichen Denkens, des Relativismus im Bereich der Erkenntnis, in der Ordnung des Gottesdienstes und im „Bau der Gemeinde”, in ihrem Verfassungsleben. Zum Schluß wird in drei großen Beispielen hingewiesen auf die Aufgabe einer „Heiligung” des Geschlechts, des Volkes und der Arbeit. Dabei wird unter Heiligung gerade nicht die Heiligsprechung irgendwelcher natürlicher Ordnungen und Gegebenheiten verstanden: „Die Welt ist nicht heilig; aber sie wird geheiligt, wo der Glaube sie unter das Wort Gottes stellt. Nur wo das Gericht, das über jedes irdische Werk ergeht, angenommen und dieses Werk unter die Verheißung gestellt wird, nur da wird das irdische Werk geheiligt.” Auf der Grundlage dieser Erkenntnis bedeutet die Aufgabe der Heiligung, daß wir den Schöpfungsglauben ernst nehmen und anerkennen, daß Gott in der leibhaftigen Wirklichkeit, in diesem Leben, durch das wir mit allen Kreaturen verbunden sind, geehrt sein will. Gewiß, wir müßten und wir könnten heute vieles anders sagen, als wir es damals in einem ersten, fast überkühnen Anlauf vermochten. Die theologische Arbeit ist seitdem ja nicht stehengeblieben, und wir selbst haben an dieser theologischen Arbeit und ihren Wandlungen Anteil genommen. Aber deshalb sind doch die, wie wir glauben, für die Zukunft der Kirche auch heute noch lebensnotwendigen kritischen Erkenntnisse und Aufgabenstellungen des Berneuchener Buches keineswegs mit einer geschichtlichen Erinnerung abzutun. Es gehört aber zu den ärgsten und schmerzlichsten Erfahrungen unseres Lebens, wie gering die Fähigkeit vor allem der Theologen unserer Kirche gewesen ist, das lebendige Anliegen, das in diesem Buche auch heute noch vernehmbar wird, zu verstehen und aufzunehmen, wie gerne man sich damit begnügt hat, es auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu dieser oder jener theologischen Schule zu untersuchen und das in ihm gebrauchte Begriffsmaterial einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Das Buch geriet, soweit es nicht einfach totgeschwiegen wurde, in die Schrotmühle theologischer „Kritik”, worin sich der leidenschaftliche Notschrei in eine Summe fragwürdiger oder verwerflicher Behauptungen und Formulierungen verwandelte. Mit einer bemerkenswerten Einseitigkeit stürzte sich diese Kritik auf denjenigen Teil des Buches (umfangmäßig kaum ein Sechstel des Ganzen), der sich mit liturgischen Fragen befaßte, und brachte damit die unausrottbare Falschmeldung von „Berneuchen” als einer liturgischen Reformbewegung auf den Weg, von dem sie seither nicht mehr zu vertreiben ist. Die Fähigkeit, sich durch irgendwelche Erkenntnisse, seien sie mit noch so viel Dynamis geladen, nicht anfechten und nicht befruchten zu lassen und statt dessen den nun einmal bestehenden Zustand theologisch zu rechtfertigen, ist zu einem hohen Grad von Vollendung gediehen. Das durfte und darf uns freilich nicht hindern, den Weg, auf dem wir uns nicht in Willkür zusammengefunden hatten, weiterzugehen. Vielleicht ist die Schrift „Credo ecclesiam”, die von der Evangelischen Michaelsbruderschaft genau dreißig Jahre nach dem Berneuchener Buch herausgegeben wurde, nur die Vorbereitung für eine neue Fassung des Berneuchener Buches mit seinem Mut, den ganzen Kreis der Fragen anzugehen, von denen mit uns alle die bedrängt werden, die erkannt haben, daß unserer Zeit nur von der Kirche her geholfen werden kann, daß aber die Kirche so, wie sie ist, selbst eine tiefgreifende Wandlung erfahren muß, um die Antwort geben zu können, auf die diese Zeit im Grunde wartet. Quatember 1957, S. 93-95 |
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