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Israelische Reise
von Hans Faust

Leer„Wie schön sind Deine Zelte, Jakob, Deine Wohnungen, Israel!” ruft der Nichtjude Bileam aus, den der König von Moab eigens aus dem Zweistromlande hatte kommen lassen, um das israelische Volk zu verfluchen (4. Mose 24,5). In visionärer Schau sieht er die fruchtbaren Täler, die reichlich bewässerten Felder und Gärten, die ich auf meiner Fahrt durch das Land erleben durfte. So will ich versuchen, die Eindrücke zu schildern, die ein Besucher, der ohne vorgefaßte Meinung nach Israel kommt, dort empfangen kann.

LeerBereits an Bord eines israelischen Schiffes wird es fühlbar, daß dieser junge Staat vor ganz neuen und ganz außerordentlichen Problemen steht, deren Lösung teilweise erst tastend und allmählich gefunden werden kann. Fast die Hälfte seiner Einwohner ist erst nach dem Mai des Jahres 1948 eingewandert und bei dieser Einwanderung hatten die Juden afrikanischer und asiatischer Herkunft den weitaus größten Anteil, so daß heute nur noch knapp die Hälfte der Gesamteinwohner von Einwanderern abstammt, die aus europäischen Ländern nach Israel gekommen sind.

LeerHierdurch erklärt sich das Sprach- und Völkergemisch, das überall, wo man nicht direkt auf Gruppensiedlungen stößt, ins Ohr und Auge fällt. Zwar ist die Landessprache offiziell „Iwrith”, die für den modernen Gebrauch hergerichtete alte Sprache der Bibel, aber nicht jeder Einwanderer ist gewillt und in der Lage, diese Sprache zu erlernen, und so hört man neben Deutsch, Englisch, Französisch, Tschechisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, vor allen Dingen immer wieder „Jiddisch”, diese Mischung aus Mittelhochdeutsch und eingestreuten polnischen und hebräischen Worten, die zur internationalen Verständigung dient.

LeerIch habe bisher noch in keinem europäischen oder vorderasiatischen Lande eine in ihren äußeren Merkmalen so stark von einander abweichende Bevölkerung gesehen. Kaffeebraune, blauschwarzhaarige Jemeniten neben rotblonden, zarthäutigen Typen mitteleuropäischer Herkunft, negroide Gesichter neben schmalen und rassigen Ovalen mediterraner oder persischer Prägung. Ähnlich starke Unterschiede zeigen ihre Charakteranlagen, ihre Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen. Man kann dieses Land genau so wenig schematisieren wie seine Bevölkerung. Es ist alles ganz anders als irgendwo in der Welt. Wo gibt es sonst noch einen Staat, der bereits sechzehn Stunden nach der Begründung von den verbündeten Nachbarn überfallen, sich ein Jahr lang siegreich gegen eine Übermacht verteidigen konnte? Wo einen solchen, dessen Bevölkerung sich innerhalb von acht Jahren verdoppelt hat, der nicht dem Chaos oder dem Hungertode bei den gegebenen landwirtschaftlichen und industriellen Verhältnissen zum Opfer gefallen wäre?

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LeerBedenkt man dabei, daß fast 65 Prozent der Einwohner nicht voll arbeitsfähig - Strandgut hitlerischer Verfolgungsmaßnahmen - und auf die Unterstützung karitativer Organisationen angewiesen sind, so fragt man sich immer und immer wieder: wie ist es möglich, daß unter diesen Umständen Straßen gebaut, Felder bewässert und bestellt, Weinberge und Bananenhaine gepflanzt, Industrien, Kultur- und Wohnbauten errichtet werden können? Es ist die unbändige und nie versiegende Sehnsucht dieses Volkes nach seiner alten Heimat und der Glaube an die verheißene Heimführung Israels, die diese Wunder trotz aller äußeren Widerstände zu Wege gebracht haben. Gewiß haben die Juden aus aller Welt seit Jahren und Jahrzehnten Geldmittel für diese „Heimstätte” des jüdischen Volkes bereitgestellt und tun es heute noch, aber ohne die Hingabe jüdischer Menschen an dieses Land und für dieses Ziel wären sie ein totes Kapital.

LeerWird der Besucher nach Erledigung der Paß- und Zollformalitäten aus der riesigen Zollhalle von Haifa in das Hafengelände entlassen, so begegnet er sofort jener eigenartigen Mischung von Orient und Okzident, die für Israel so symptomatisch ist. Aufgeregtes Hin und Her, Gerufe und Geschrei - moderne amerikanische Wagen, deren Besitzer, Taxi-Chauffeure, sie zu Fahrten im Land anbieten und die zu den Großverdienern im Lande gehören, schmucke Verkehrspolizisten, deren Uniformen den englischen stark angeglichen sind (wenn sie nicht überhaupt noch aus Mandatsbeständen stammen), das ist der erste Eindruck, den man im Lande hat.

LeerHaifa besteht, gleichmäßig am Hang des Carmel aufsteigend, aus drei Stadtteilen: der Unterstadt mit dem Hafen, Autobus-und Eisenbahn-Bahnhof, den Banken, Verwaltungs- und Lagerhäusern, sowie den Industrieanlagen (Ölraffinerien, Automobil-und Zementfabrik), der Mittelstadt, in der sich vor allem die Geschäftsstraßen, Kinos, technische Universität und ein Teil der Wohnviertel befinden, und der Oberstadt, die mit ihren Cafés, Speiselokalen, Etablissements geselliger Natur, weit und großzügig angelegten Parkanlagen, Sanatorien und Altersheimen, wunderbaren Ausblicken über die Haifabucht und das Mittelmeer mit zu dem schönsten gehört, was der Vordere Orient zu bieten hat.

LeerIn Akko, dessen Bevölkerung zu 80 Prozent aus christlichen Arabern besteht, hat die Religiöse Gesellschaft der Freunde (Quäker) ein Nachbarschaftsheim errichtet, in dem Christen, Juden und Muslim sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Nach einem Bummel durch die winkligen alten Gäßchen der Stadt und über die Befestigungsanlagen aus der Zeit der Kreuzritter stieß ich auf eine Moschee aus dem 15. Jahrhundert, die auf Kosten des Israelischen Staates renoviert wird.

LeerDie Straße nach Süden führt durch kahle Berge und Gegenden, die wie Mondgebirgslandschaften aussehen, so hat die Verwitterung hier am Gestein gearbeitet. An Safed vorbei geht es dem See Genezareth zu. In Schleifen und Kehren windet sich die Straße von den etwa 600 Meter hohen Bergen an deren Hängen zu dem etwa 200 Meter unter dem Meeresspiegel gelegenen lichtblauen See hinab. Jede Biegung gibt einen neuen Ausblick frei, so daß man kaum schnell genug alles erfassen kann, weil der Wagen mit ziemlicher Geschwindigkeit auf den abschüssigen Wegen fährt. Im Angesicht des Sees Genezareth weisen die Hügel auch wieder Pflanzenwuchs auf und dienen dem Vieh als Weide. Die Hirten sind Juden, die aus Amerika eingewandert sind, und hüten ihre Rinder nach Cowboyart, indem sie sie zu Pferde vor sich hertreiben.

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LeerÜbrigens gibt es in Israel die fetteste Milch und den besten Honig! Die Bibel hat schon recht, wenn sie von dem Land, wo Milch und Honig fließt, spricht. Nur von allein fließen beide nicht, denn es steht geschrieben: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen!” Das ist mir in Israel oft deutlich geworden. Die Sommer sind lang und heiß, von Ausgang April bis Ende Oktober fällt kaum ein Tropfen Regen. Wäre nicht der reichliche Tau und die Feuchtigkeit der vorwiegenden Westwinde, dann wüchse auf dem kargen Boden kein Halm. Die Landwirtschaft ist weitgehend von der künstlichen Bewässerung durch Berieseler abhängig. An anderen Stellen muß gebohrt und notfalls das Wasser über viele Kilometer in Leitungen an die zu bebauenden Felder herangebracht werden. Selbstverständlich versucht man, den Wasserüberschuß der Regenzeit (von Anfang November bis Ende Februar) zu speichern und nicht einfach ins Meer ablaufen zu lassen.

LeerÜberquert man den fischreichen, für den Schwimmer, wie für den Fischer, wegen seinen Unterströmungen nicht ganz ungefährlichen See, so gelangt man nach Tiberias, einer vorwiegend von christlichen Arabern bewohnten, kleinen alten Stadt, die heute vor allen Dingen den Kurgästen der in unmittelbarer Nähe der Stadt am Ufer des Sees gelegenen heißen Schwefelquellen als Aufenthalt dient. Die Heilung suchenden Rheumakranken kommen aus allen Teilen des Landes, sogar aus dem Ausland. Außerdem befinden sich in Tiberias die Gräber der Rabbinen Ben Akiba und Maimonides, die die Stadt zu einem Anziehungspunkt für die frommen Juden machen.

LeerDie „Frommen”, wie die orthodoxen Juden in Israel genannt werden, setzen sich vorwiegend aus Einwanderern aus Osteuropa und Vorderasien zusammen und unterscheiden sich auch rein äußerlich durch ihre Kleidung, Haar- und Barttracht von den übrigen Einwohnern des Landes. Ihre starke Verwurzelung in der Tradition bringt es mit sich, daß sie heute noch den gleichen äußeren Habitus zur Schau tragen wie vor Jahrhunderten, obwohl die Völkerschaften, denen er entnommen ist, sich längst davon abgewandt haben. So ist der Kaftan, der lange, schwarze mantelartige Überrock der Ostjuden, ein Stück alter polnischer Nationaltracht, so stammen die Pelzbesätze an ihren Mützen - eigenartiger Anblick bei über 30 Grad im Schatten - und ihre Juchtenstiefel aus Rußland, so die gestreiften Seidenmäntel, Kordeln und turbanähnlichen Kopfbedeckungen aus Persien und so fort. Eine besondere Zierde des Mannes sind der Vollbart und bei den Ostjuden und Jemeniten (selbst bei den Knaben) die lang herabhängenden Schläfenlocken. Diese Frommen versuchen, durch möglichst peinliche Einhaltung der Gesetze (wobei jede der vielen Gruppen in der Auslegung der Thora ihre eigene Ansicht vertritt und sich in Lebenshaltung und Gottesdienst von den anderen unterscheidet) die Ankunft des Messias, den Beginn des Tausendjährigen Gottesreiches, herbeizuführen.

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LeerBei dieser Grundeinstellung ist es in einem Staate, der jede Arbeitskraft für seinen Aufbau, seine Erhaltung und seine Verteidigung dringend gebraucht, nicht verwunderlich, daß es zwischen der sozialistischen Regierung und der frommen Minderheit oft zu erregten Auseinandersetzungen kommt. Immerhin hat es die Minderheit durchsetzen können, daß an den Sonnabenden und gesetzlichen Feiertagen Omnibusse und Eisenbahnen nicht verkehren. Will also die werktätige Bevölkerung, die ja sonst kaum anderweitig dazu Gelegenheit hat, Bekannte oder Verwandte besuchen, muß sie laufen oder sich einen Wagen mieten. Würde sie es aber wagen, mit einem Mietwagen nach Jerusalem, dem Hauptsitz der Frommen, an einem solchen Tage heraufzukommen, empfinge sie ein Steinhagel. Verschiedentlich mußte die Polizei eingreifen, um die von jugendlichen Fanatikern errichteten Barrikaden und Straßensperren zu beseitigen, wobei es wieder zu Steinwürfen und Zusammenstößen mit den Frommen gekommen ist.

LeerVon Tiberias führt eine Straße in südwestlicher Richtung durch die galiläischen Berge über Kana nach Nazareth. Kana liegt ebenso wie Nazareth an einem Bergabhang gelehnt. Beides sind kleine Städtchen, deren Bevölkerung überwiegend aus christlichen Arabern besteht. Sie geben dem Stadtbild das Gepräge. Der Hausbau der Araber unterscheidet sich, wo er in der althergebrachten Form auftritt, von dem der Israeli, indem er den Kubus als Grundriß und Aufriß bevorzugt. Die würfelförmigen Häuser zeigen nach außen nur wenige und meist vergitterte Öffnungen. Typisch für sie sind die Innenhöfe mit Wandelgängen und Gartenanlagen oder Springbrunnen. Natürlich sind in Nazareth die christlichen Konfessionen mit ihren Gotteshäusern und Kirchen, Priestern und Geistlichen (neben den Baptisten und Mennoniten auch die katholische Kirche) vertreten.

LeerDie israelische Regierung ist bemüht, die arabische Bevölkerung in den Aufbau des Landes einzubeziehen. Sie erhält die gleichen Siedlungshäuser zu den gleichen Bedingungen wie die jüdischen Bevölkerungsteile. In der Landwirtschaft kann sich der arabische Bauer nur langsam auf die modernen Bearbeitungsgeräte umstellen, bringt aber (insbesondere beim Anbau von Tabak) eine größere Erfahrung in der Behandlung des Bodens mit.

LeerIn südlicher Richtung führt eine Straße in die Kornkammer des Landes, das Jesreeltal, jetzt Emek genannt. Das Land wird hier hauptsächlich von Kibbuzim bearbeitet, das sind Siedlungen auf genossenschaftlicher Grundlage.

LeerAußer diesen gibt es im Lande eine ganze Reihe anderer landwirtschaftlicher Genossenschaften, die lockerer organisiert sind, aber Ein- und Verkauf sowie den Besitz der landwirtschaftlichen Produktionsmittel vergesellschaftet haben. Da die meisten Neueinwanderer mittellos sind, stellen ihnen die Gewerkschaften oder Banken langfristige Kredite bei geringen Zinsen zur Verfügung. Diese Kredite reichen aus, um ein 2-2 ½ Zimmer-Siedlerhaus und die dazugehörigen Stallungen zu errichten, die notwendigsten Einrichtungsgegenstände, Vieh und Futter zu beschaffen. Für die weitere Entwicklung ist die Verwaltung der Genossenschaft mitverantwortlich. Die Böden einer Neuansiedlung werden ausgelost, um Bevorzugungen zu verhindern. Nach Möglichkeit wird versucht, die Neuansiedlungen im Kontakt mit den kleineren Städten und den dortigen industriellen und kulturellen Anlagen zu halten. In vielen Fällen ist aber eine Umschulungsarbeit der Neuankömmlinge vor ihrer Ansiedlung nicht zu umgehen. Die kostspielige Umschulung zahlt sich später aber wieder aus, denn wo der Boden unter vieler Mühe und unter Zuhilfenahme modernster technischer und wirtschaftlicher Methoden erst einmal urbar gemacht worden ist, trägt er auch Frucht.

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LeerDie männliche Jugend des Landes muß für zweieinhalb und die weibliche für zwei Jahre zum Militär. Die Jugendlichen werden im Alter von 16 Jahren dienstpflichtig, können jedoch bis zum Abschluß ihrer Schul- oder Berufsausbildung von der Ableistung des Wehrdienstes zurückgestellt werden. Die militärische Ausbildung ist hart und stellt hohe Anforderungen an die jungen Menschen. Indessen wird neben der Ausbildung mit der Waffe eine weitgehende Allgemeinbildung vermittelt und in Spezialkursen Berufs- und Fachwissen erweitert. Die Mädchen kommen nach der obligaten Grundausbildung in die Krankenpflege, Verwaltung oder in den Nachrichtendienst, während den Jungen der Eintritt in besondere Waffengattungen offen steht. Die militärische Haltung dieser jungen Leute macht einen guten Eindruck. Sie sind zurückhaltend und diszipliniert. Es besteht ein kleines Berufsheer, das nach Schweizer Muster etwa innerhalb kürzester Zeit mit sämtlichen Reserven vereinigt und voll einsatzfähig sein kann. So erübrigt sich auch ein großes Kasernement. Die Soldaten leben größtenteils in gut getarnten Zelt-Camps, die schnell aufgeschlagen und ebenso schnell wieder abgebrochen und transportiert werden können.

LeerVon Afule, dem Zentrum des Emek, führt eine Straße durch die Ausläufer des Carmelgebirges nach Caesarea. Es ist die alte Heeresstraße, die schon die Assyrer und Babyloner, Griechen, Römer und Perser benutzt haben. Nur ihre Oberfläche und ihre Benutzer haben sich gewandelt. Das Band der Straße windet sich wie in alten Zeiten durch die Schluchten, in deren Gründen Tabak angebaut wird. Auch auf den sie umgebenden Hängen sind Terrassenkulturen angelegt, die Höhen aber sind meist noch kahl oder zeigen nur schüchterne Versuche von Aufforstung. Bei der Vorstellung, daß dieses Land früher einmal dicht bewaldet war, taucht die Frage auf, wie war es möglich, es derartig zu verändern. Jahrhunderte langer Raubbau an den Wäldern hat durch rücksichtslosen Kahlschlag das Gesicht der Landschaft gewandelt. Eiserner Fleiß und viel Geduld werden erforderlich sein, um es einigermaßen wiederherzustellen. Von ferne sieht man ein zerfallenes Gemäuer. Hier, sagt man, haben die Marställe des Königs Salomo gestanden.

LeerDas Meer, das „Mare nostrum”, fast immer in Sichtweite, so läuft die Autostraße in südlicher Richtung nach Tel Aviv. Sie ist von Eukalyptusbäumen umstanden und führt an einer Stelle vorbei, wo das israelische Territorium bis zum Mittelmeer nur 15 Kilometer breit ist. Hühnerfarmen und Ansiedlungen zu beiden Seiten der Straße wechseln mit Feldern und Zypressen ab.

LeerTel-Aviv ist mit etwa 400.000 Einwohnern die größte Stadt in Israel, Sitz zahlreicher Verwaltungen, Banken und Einrichtungen des öffentlichen Rechts. Hier steht die große Synagoge, haben die diplomatischen Vertretungen ihre Büros - soweit sie sich nicht schon in Haifa niedergelassen haben -, hier steht das weltberühmte Theater der Habima und die große Tonhalle, aber die Hauptstadt des Landes, der Sitz der Volksvertretung, ist Jerusalem. - Geschäfte und Verträge macht man in Tel-Aviv, Gesetze in der althergebrachten Metropole des Landes seit Davids Zeiten.

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LeerIn den Hauptstraßen der Stadt Tel-Aviv herrscht das gleiche rege Leben und Treiben wie in den Großstädten in aller Welt. Es ist europäisch zugeschnitten mit einem leichten Hang zum Amerikanismus. Nur die Bettler und Straßenhändler in der Nähe der großen Synagoge bezeugen den Orient. Erstaunlich groß ist die Zahl der Bücherläden, in denen auch deutsche Bücher neben englischen und französischen Titeln unter der ausländischen Literatur keine Seltenheit sind. So sieht man neben deutschen Klassikern und deren Interpreten auch Abhandlungen über Philosophie, Psychologie, Medizin und Technik in deutscher Sprache. Eigenartig mutet es an, plötzlich vor der Iwrith-Ausgabe von Kästners „Pünktchen und Anton” zu stehen. Er ist nicht der einzige deutsche Autor, der übersetzt wurde. Heine wird ein besonderes Interesse entgegengebracht, aber auch Hölderlin und Rilke versucht man dem israelischen Leser nahe zu bringen. Diese Stadt, die erst vor 25 Jahren entstand und sich ständig ausbreitet, dankt ihre aufgeschlossene Geisteshaltung der Initiative ihrer Gründer, die vorwiegend deutsche und österreichische Juden waren. Viele ehemalige Berliner und ehemalige Bewohner der Mark Brandenburg haben sich an dem Aufbau Tel-Avivs beteiligt.

LeerUnter den aus osteuropäischen Ländern stammenden Juden waren die deutschen Einwanderer nicht sehr beliebt. Diese deutschen Juden haben es aber im Laufe der zwei Jahrzehnte, die viele von ihnen jetzt schon im Lande sind, verstanden, durch Zähigkeit und Fleiß zu einem solchen Ansehen zu kommen, daß der alte Spottname „jeckisch” heute zu einem Ehrennamen geworden ist. „Jeckes” nannte man die assimilierten deutschen Juden, weil sie im Gegensatz zu ihren östlichen Glaubensbrüdern, statt in langen schwarzen Überröcken in kurzen Jacken (Jeckes) gingen. Wenn heute in Israel die Ausführung einer Arbeit als „jeckisch” bezeichnet wird, so will man damit zum Ausdruck bringen, daß sie besonders sauber und korrekt gemacht worden ist. So wirken deutsche Gründlichkeit und deutsches Verantwortungsbewußtsein in der Stadtverwaltung und Stadtplanung noch heute fort. Vielfach wird auch noch Deutsch gesprochen, und auf den Banken, der Post sowie auf den Verkehrsmitteln kann man sich getrost der deutschen Sprache bedienen, ohne auf große Verständigungsschwierigkeiten zu stoßen.

LeerNur der Ortskundige kennt die „Nahtstellen” zwischen Jaffa und Tel-Aviv. Es sind jene Holzhäuser im Bungalow-Stil, die im nördlichen Teil von Jaffa stehen. Von hier aus hat sich die Stadt Tel-Aviv nach Norden ausgebreitet und die alte Hafenstadt des Landes hinter sich gelassen. Obwohl Jaffa in Tel-Aviv eingemeindet ist, sind hier zwei von einander völlig verschiedene Welten. Die alte ehrwürdige Kleinstadt steht der aufstrebenden und sich ausbreitenden Großstadt gegenüber. Romantik und Mittelalter blühen in Jaffa noch in verborgenen Gassen. Einst wohnten hier die reichsten arabischen Händler. Unermeßliche Schätze hatten die Kaufherren des Vorderen Orients zusammengetragen und in mittelalterlichen Gewölben gelagert. Eine fleißige Schar von Handwerkern hatte eine kleine Industrie entstehen lassen, von der heute noch Reste vorhanden und in Betrieb sind. Dann kam der arabisch-israelische Krieg, dessen Spuren man noch überall im Lande sieht, und zerstörte dieses Zentrum arabischen Lebens in Israel. Die Araber, die jetzt hier wohnen, sind Flickschuster, Land- und Fabrikarbeiter, die ein sehr bescheidenes, nach europäischen Verhältnissen kärgliches Leben fristen. Die stolzen Kaufherren und jene kleinen Unternehmer sind auf Anraten ihrer Stammesgenossen bei Ausbruch des Krieges geflohen.

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LeerGlocken ertönen am Sonntag in Jaffa, und während in Tel-Aviv am Sonntag das Leben wie an jedem anderen Tag der Woche zwischen Montag und Freitag läuft, ruht hier bei den christlichen Arabern und Europäern die Arbeit. Der Tag des Herrn wird gefeiert, und die christlichen Gotteshäuser erfreuen sich lebhaften Besuches.

LeerDer Hafen von Jaffa hat die christlichen Pilger gesehen, die nach Jerusalem kamen, um das Heilige Grab zu befreien; er hat auch die jüdischen Einwanderer gesehen, die kamen um die Verheißung zu erfüllen, nach der dieses Land den Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs zugesagt war. Heute ist er nur noch ein unbedeutender Umschlagplatz für Waren, die geleichtert und über die Reede ausgeladen werden können. Das alte trutzige Hafengebäude dient jetzt zum Teil als Gefängnis. Die Stadt steht am Rande des Geschehens, ein Zeichen vergangener Zeit.

LeerDer Wagen bog in das „Tal von Emmaus” ein, auf dessen Sohle ein Kloster liegt, das an die Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern erinnert. Über dem Tal jedoch, weithin sichtbar, steht eine überlebensgroße Madonna mit dem Kinde auf einer schlanken großen Säule, deren Schaft von Rosen umschlungen wird, und blickt nach Jerusalem, der Hoffnung aller Frommen.

LeerWenn der Wagen mit einer kühnen Wendung aus dem Waldstück auf dem Höhenrücken hinausgelangt, öffnet sich dem Blick eine zauberhafte Fernsicht über das judäische Hochland. Hier liegt der Märtyrerwald, in dem für jeden der durch Nazis ermordeten sechs Millionen Juden ein Baum gepflanzt wurde.

LeerNoch ein letzter Aufstieg der Straße ist zu bewältigen, dann taucht auf der Höhe zwischen zwei uralten Tamarisken die Montefiore-Mühle und in ihrem Hintergrund der Zionsberg auf. Das also ist die „goldene Stadt”, dachte ich, als ich vor mir die ersten massiven, meist zweistöckigen Häuser Jerusalems sah, die aus jenem rötlichen Sandstein erbaut sind, der in der Sonne golden glänzt. An Universität, Gymnasium und Lehrhäusern vorüber kam ich durch die Hauptgeschäftsstraßen auch in jenen Stadtteil, der von den „Frommen” bewohnt wird. Wenn bereits in den Hauptstraßen auffallend viele orthodox gekleidete Menschen ins Auge fielen, so hatte man in diesen engen Gassen des Mea Shearim genannten Teiles der Stadt den Eindruck, als wolle eine große Filmgesellschaft einen Streifen aus den Ghettos des Mittelalters drehen und hätte zu diesem Zweck den gesamten, diesbezüglichen Kostümfundus an die Statisterie verteilt. Unbeschreiblich dieses Neben- und Durcheinander polnischer, russischer, persischer und levantinischer Juden in ihren traditionellen Trachten.

LeerEs war ein Halbfeiertag in der Woche des Erntedankfestes, an dem ich Mea Shearim, was Hundert Tore bedeutet (gemeint ist: hundert Tore zur Seligkeit), besuchte. Neben einer Gasse, in der mit Lebensmitteln, Gemüsen und Geflügel gehandelt wurde, liegt eine andere, in der ein Bethaus, eine Versammlung der Frommen neben der anderen war. Jeder Beter sang und betete auf seine Weise, oft auch mißtönend und schrill, ohne sich anscheinend viel um die übrigen zu kümmern. Alles spielte sich bei offenen Türen ab. Die „Frommen” kamen und gingen während des Gottesdienstes, sprachen miteinander anscheinend über Dinge, die nicht zur Liturgie gehörten, und wendeten sich an einer anderen Stelle der Versammlung wieder zu. Ein verwirrendes und erschütterndes Bild; für einen Außenstehenden unbegreiflich.

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LeerVom Herzlberg aus, auf dem sich sein Grab befindet, schweift der Blick über das neue Jerusalem. Die neue Stadt unterscheidet sich in ihrem Baustil nicht wesentlich von dem in Tel-Aviv und Haifa angewandten. Ich sah die Neubauten einer neuen israelischen Universität und des Knesseth, des Gebäudes der Volksversammlung, die bislang in einem Hotel der Stadt untergebracht ist. Die eigentliche, moderne Universität von Jerusalem liegt auf dem Mount Skopus im arabisch besetzten Teil der Stadt und ist damit, genau so wie das moderne Krankenhaus an gleicher Stelle, für die Israeli unbenutzbar geworden. Das Mandelbaumtor ist die einzige Stelle, an der das durch Mauern und Schutzwälle von beiden Seiten gegeneinander abgeschirmte Niemandsland zwischen dem israelischen und dem jordanischen Teil der Stadt passierbar ist. Jedoch ist der Zugang nur Touristen mit Genehmigung und Christen zu den Prozessionen an den christlichen Feiertagen gestattet.

LeerAußer den der Christenheit heiligen Stätten, der Grabeskirche, der Via Dolorosa, dem Garten Gethsemane und anderen liegt auch die Klagemauer, jener Teil der restlichen Mauer der alten Tempelburg der Juden, im jordanischen Teil der Stadt. - Auf dem Zionsberg sah ich ein Gesteinsstück unter Glas, das dieser Mauer entstammt. Die Bauwerke, die heute über den Ruinen der Jebusiterfeste stehen, die David vor rund 3000 Jahren erobert hat, stammen zum größten Teil aus der Kreuzritterzeit. So ist auch nicht ausgeschlossen, daß die als Grab Davids bezeichnete und verehrte Stätte der letzte Ruheplatz eines Kreuzfahrers gewesen ist. Der Katafalk, der von einer schweren Samtdecke verhangen und mit goldenen Kronen und Zierat bestanden ist, macht in der mit Dutzenden von brennenden Kerzen erleuchteten Grabnische einen starken Eindruck.

LeerIn diesen Räumen hat aber auch die christliche Kirche ihre Gedenkstätten. Den Durchgangsraum zum Davidsgrab verehren die Christen als die Stelle der Fußwaschung Christi. Eine Treppe führt in ein Obergemach. Hier wird der Raum des letzten Mahles Christi vor der Kreuzigung heilig gehalten.

Dem Zionsberg gegenüber, jedoch durch einen tiefen Taleinschnitt mit den Resten einer römischen Wasserleitung von diesem getrennt, liegt auf dem westlichen Hügelrücken das Gebäude der YMCA mit seinem imposanten Turm und das Hotel „König David”. Vom Turm des YMCA-Hauses aus sieht man weit in das judäische Hochland hinein und übersieht die ganze Stadt Jerusalem. Man ermißt aber auch die Tragik dieser zweigeteilten Stadt, die drei Konfessionen heilig ist und auf den Tag wartet, wo sie ihren Namen „Friedensstadt” ohne Einschränkung führen kann.

LeerAuf einer schmalen Straße gelangt man an den südlichsten Punkt des israelisch besetzten Teils des Stadtgebietes. Hier verteidigten die Juden erbittert die Stadt gegen die Angriffe der Gegner. Noch steht ein Haus zerschossen über dem Abhang, in dessen Tiefe die Straße nach Bethlehem führt. In der Ferne sah ich die Geburtsstadt Jesu sich gegen den gleißenden Himmel abzeichnen - unerreichbar für mich.

Quatember 1957, S. 171-177

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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