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von Wilhelm Flückiger |
Es ist nicht gleichgültig, unter welchen Sinngestalten ein Volk seine Existenz und seine Geschichte betrachtet. Und es ist noch weniger gleichgültig, wie dies im Volke Gottes geschieht. Der Erzengel Michael war über Jahrtausende hinweg der Engel des Gottesvolkes, er war zum mindesten für Jahrhunderte auch der Engel des Abendlandes zwischen Monte Gargano und dem Mont Saint Michel. Er war der Engel des Reiches, in dem die Christenheit jener Zeit ihrem Weltauftrag diente. Daher ist am Eingang dieses Heftes, das in mancherlei Abwandlung von Michael und dem Mittelalter handelt, der Engel nach einer altrussischen Ikone als Hüter der Welt dargestellt, die er in Kugelgestalt schützend in seinem Arm hält und über die er den einen der beiden gewaltigen Flügel breitet. „Reichsgeschichte und Heilsgeschichte”, von denen in einem früheren Michaelishefte gehandelt wurde, kommen in dieser Gestalt überein, die im Westwerk der Dome ihren liturgischen Ort hatte, im Westwerk, das von der karolingischen bis in die salische Zeit grundsätzlich dem Laien vorbehalten war. So ist Michael zugleich Sinnfigur für ein „Geistliches Laientum”, dem die Durchdringung und Verwandlung der Welt besonders anbefohlen war, das daher von der Schlacht auf dem Lechfeld bis zum Siegen und Sterben des Mädchens von Orleans im Zeichen des kämpfenden und behütenden Erzengels stand. Gruber glaubt, den Ansatz für die Entstehung des Westwerkes im Bekanntwerden und in der Übernahme der Lehre des Dionysius Areopagita über die beiden Hierarchien durch die karolingischen Theologen und Baumeister gefunden zu haben. Das Auftauchen des Areopagiten im Abendland kann zeitlich einigermaßen genau fixiert werden: zwischen 757 und 767 kam das Werk ins Frankenreich. 827 schenkte der oströmische Kaiser Michael II. Kaiser Ludwig dem Frommen ein griechisches Exemplar der himmlischen und kirchlichen Hierarchie - doch wohl ein Zeichen dafür, wie hoch es um die Zeit nicht nur im Osten, sondern auch bereits im Westen im Kurse stand! Da Dionysius Areopagita als unmittelbarer Schüler des Apostels Paulus galt, genoß er beinah kanonisches Ansehen. Was hat er mit dem karolingisch-ottonischen Westwerk zu tun? Der mystische Verfasser gliedert die himmlischen Wesen nach neuplatonischem Vorbilde in drei mal drei Chöre, von denen in unserem Zusammenhang vor allem der unterste, der die „Fürstentümer”, die „Erzengel” und die „Engel” in sich begreift, interessiert, da diesem Chor die Aufgabe zugewiesen ist, die stufenweise von obenher empfangene Offenbarung an die Menschenwelt weiterzugeben. Die kirchliche Hierarchie aber ist berufen, zum Abbild der himmlischen zu werden und so den Menschen stufenweise zur Erkenntnis Gottes emporzuführen. Dazu kommt ein zweites. Nach uralter Vorstellung befindet sich im Westen die Behausung der dunklen Mächte, die den Aufstieg des Menschen zu Gott zu hindern und ihn schließlich so zu verschlingen trachten wie der Ozean die sinkende Sonne verschlingt. Deshalb wird etwa die Abrenuntiatio, die Absage des Täuflings an den Teufel, im Westen des Gotteshauses und nach Westen hin vollzogen. Die Kirche selber, in der das himmlische Jerusalem realpräsent wird, ist geostet. Das die Eucharistie feiernde Volk ist also auf dem Weg von Westen nach Osten begriffen und bedarf in seinem Rücken des Schutzes gegen den Ansturm der „Fürsten und Gewaltigen, der Herren der Welt, die in der Finsternis der Welt herrschen, der bösen Geister unter dem Himmel” (Epheser 6, 11). Gleich wie es eine „Dreifaltigkeit des Bösen” zu geben scheint als diabolisches Widerspiel des dreieinigen Gottes, so kennt offenbar das Gegenreich auch so etwas wie eine hierarchische Stufung seiner dunklen Engelscharen, die ihrerseits abermals die himmlischen Chöre nachäffen. Wie kommt es nun aber, daß der Michaelskult, der ja viel weiter zurückreicht, gerade in der karolingisch-ottonischen Architektur sichtbare Gestalt annimmt? Das Westwerk ist die Frucht des Zusammentreffens der Schau des Areopagiten mit dem durch Karl den Großen erneuerten Römischen Reich als Sacrum Imperium. Der himmlischen wird die irdische Hierarchie eingefügt. Gewiß hat es den Kult St. Michaels schon vor Karl dem Großen im Morgen- und Abendland gegeben. Justinian hat in Konstantinopel dem Erzengel auf eben dem Platze eine Kirche weihen lassen, auf dem zuvor Apollo einen Tempel besaß. Schon im fünften Jahrhundert läßt sich der Michaelskult auch in Rom nachweisen, 490 bis 493 kommt es zu den drei Erscheinungen des Erzengels auf dem Monte Gargano, und im Anschluß daran mehren sich die Michaelsheiligtümer im fränkischen und germanischen Raum. Das Neue in der karolingischen Epoche ist also nicht die ganz besondere Vorliebe, die der Kaiser für den Erzengel hegt, sondern die Zuordnung, in die man im Westen das Amt des Kaisers zu dem des Engelsfürsten bringt: gleichwie im Kampf der überirdischen Mächte Michael gegen den Drachen steht, so führt auf Erden der Kaiser das Schwert gegen die Mächte des Antichristen. Das Amt des Kaisers wird sozusagen als michaelisches Amt begriffen und der Erzengel als der prädestinierte Reichspatron erkannt. Karl der Große hat denn auch das Bild St. Michaels auf den Bannern seinem Heere vorantragen lassen. Dieser Zug aber fügt sich dem Bilde, das wir sonst von Karl als Kaiser haben, sehr wohl ein. Im Buche Daniel erscheint Michael bekanntlich als Schutzengel Israels, der für das Gottes- und Reichsvolk einsteht. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sich Karl der Große im Kreise seiner Paladine David nennen ließ, daß er sein König- und Kaisertum also theokratisch im Sinne der Könige Israels verstand - ist es dann so verwunderlich, wenn er sich St. Michael als dem Reichsengel auch des neuen Gottesvolkes bewußt unterstellte? Noch kurz vor seinem Tode, auf der Mainzer Synode von 813, ließ der alte Kaiser den 29. September durch den Papst zum Reichsfest erheben. Die vielleicht schönste Ausprägung der mittelalterlich-universalen Schau finden wir im Münster zu Mittelzell auf der Reichenau. Da ist nämlich die Kaiserempore überhöht von der Kapelle des himmlischen Heerführers und beidseitig flankiert von den Kapellen, für die übrigen himmlischen Chöre. Damit aber sind wir aus der karolingischen bereits in die ottonische und salische Zeit gekommen. Schon Heinrich I. versteht 933 seinen Kampf gegen die noch heidnischen Ungarn an der Unstrut als einen Michaelskampf und seinen Sieg als einen Sieg des Reichsengels. Ebenso sein Sohn Otto I. 955 auf dem Lechfeld: mit dem Michaelsbanner zieht Bischof Ulrich von Augsburg dem Heere voran, so daß die geschlagenen Ungarn zu Hause zu berichten wissen, ein Gott mit goldenen Flügeln habe dem Christenheer geholfen, den Sieg wider sie zu erringen. Wie bald sollten die Ungarn selber zu Rittern unter seinem Fähnlein und nach seinem Bilde geprägt werden! Von der Michaelsverehrung Heinrichs II. berichtet nicht nur die Legende, sondern heute noch das von ihm gestiftete Benediktinerkloster St. Michael zu Bamberg. Einen Umschwung in der Bewertung und Ausgestaltung des Westwerkes bringt nun aber die von Cluny und Hirsau ausgehende Reform. Zunächst scheint es sich zwar lediglich um eine Vereinfachung zu handeln, wird doch das Westwerk noch beibehalten. Durch die zunehmende Verehrung der eucharistischen Elemente extra usum verlegt sich der Schwerpunkt einseitig in den Ostchor. Der Michaelsaltar im Westen wird zwar noch beibehalten, wird aber geostet. Das ist rational gewiß einleuchtend, wenn die Realpräsenz Christi nicht mehr primär im Vollzug des eucharistischen Mysteriums, sondern statisch in den aufbewahrten und kultisch verehrten Elementen gesehen wird. Nun scheint aber das Zurückdrängen des Michaelskultes und die dadurch bedingte Veränderung und der schließliche Verfall des Westwerkes noch in einem weiteren, höchst bedeutsamen kirchenpolitischen Zusammenhang zu stehen. Leopold Ziegler führt in seiner „Menschwerdung” die seltsame Notiz aus einer Brandnachricht des cluniazensisch geprägten Benediktinerklosters Deutz aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts an, in der die dem Michaelskult vorbehaltenen Türme als „verhaßt” bezeichnet werden. Turres enlm circumstantes odiosas nobis ... flamma comprehendit... totumque istud castellum . . . quasi unum effecit caminum (S. 360: Die beidseitigen, uns verhaßten Türme... ergriff die Flamme... und verwandelte dieses ganze Castell... in einen einzigen Feuerherd). Unweit der aargauischen Kantonshauptstadt Aarau, aber noch auf solothurnischem Boden gelegen, befindet sich die ehemalige Stiftskirche Schönenwerd, die heute der christkatholischen Gemeinde als Pfarrkirche dient. Hoch über dem Dorf, auf dem „Bühl” gelegen, grüßt sie den Reisenden, der die Bahnstrecke Olten-Zürich fährt. Ähnlich wie die bekanntere, allerdings wesentlich kleinere Kirche St. Peter und Paul zu Niederzell auf der Reichenau ist die dreischiffige romanische Basilika zu Schönenwerd in der Zeit des Rokoko mit Stukkaturen ausgeschmückt worden. Dennoch ist die strenge romanische Grundstruktur deutlich erkennbar geblieben. Weniger leicht wird der Besucher in der heutigen Gestalt das romanische Westwerk erkennen, denn auch hier haben die ehemaligen Türme - auch von den Stiftsherren zu Schönenwerd als „turres odiosae” empfunden? - weichen müssen. Nicht die Flammen haben sie zerstört, sondern der Konvent hat sie im Jahre 1663 abbrechen und durch einen einzigen, über dem Hauptportal aufsteigenden Mittelturm ersetzen lassen. Auch hier war es freilich so, daß damit äußerlich nur geschah, was inwendig schon lange vorbereitet war: das Westwerk diente bereits nicht mehr dem Michaelskult, sondern barg, wie das Protokoll des Turmabbruches bezeugt, „U. L. Frauen Capell”. Nach einer Legende soll die heute noch in der Emporenkapelle befindliche spätgotische Muttergottesstatue, die nach spanischer Manier in kostbare Gewänder gekleidet ist, während des Bildersturmes in Bern in die Aare geworfen und in Schönenwerd wieder herausgefischt worden sein, nach anderer Version aber aus dem Benediktinerkloster Trüb im Emmenthal stammen und von einem vor der Reformation fliehenden Laienbruder nach Schönenwerd gebracht worden sein. Nun hat neuerdings Alfons Rosenberg (Michael und der Drache) darauf aufmerksam gemacht, daß der Übergang vom Michaels- zum Marienkult eine auch sonst nachzuweisende Tatsache ist. Sollte also so etwas konstatiert werden können wie eine liturgische Rivalität zwischen Michael und Maria? Das wäre um so erstaunlicher, als ja das michaelische und das marianische Zeugnis im Neuen Testament vereint erscheinen (Apocalypse 12). Dabei gilt es gerade im Hinblick auf dieses Kapitel zu bedenken, daß die neutestamentliche und altkirchliche Mariologie immer nur ecclesiologisch verstanden werden kann: Maria ist Typus Ecclesiae. So versteht es auch noch die abendländische Theologie des frühen Mittelalters, ein Rupert von Deutz etwa und manche andere. Aber auch noch Martin Luther in seinem „Sie ist mir lieb, die werte Magd.” Michael dagegen vertritt das Reich, das Imperium. Nicht zufällig barg ja das Westwerk, in dem das Michaelsdromenon gefeiert wurde, wie wir gesehen haben, die Empore des Kaisers. Wenn nun im Zuge der cluniazensischen Reform Maria anhebt Michael zu verdrängen, so dürfen wir doch wohl darin den folgerichtigen liturgischen Ausdruck der verhängnisvollen Auseinanderentwicklung zwischen Imperium und Sacerdotium erblicken, die seit der Herrschaft der Cluniazenserpäpste immer weiter voranschritt. Der Sieg der Maria-Ecclesia über Michael, der ja erst in unseren Tagen seinen letzten dogmatischen Ausdruck gefunden hat, hat als Gegenwirkung den säkularen Staat erzeugt. Neben einer absolutistischen Kirche hat das Reich nicht mehr Raum, sondern nur noch der Staat. So haben es die Päpste unmittelbar nach ihrem Pyrrhussieg über das Kaisertum in der Vergewaltigung durch den französischen Nationalstaat, dessen sie sich bedient hatten, das Imperium zu schwächen, bitter erfahren. Michael kann sich offenbar zurückziehen und kann warten, bis seine Stunde wieder heraufkommt. Sollte sie heute gekommen sein? Sollte heute von neuem der Ruf ergangen sein, das unterbrochene Michaelsdromenon des Westwerkes neu aufzunehmen? Sollte hier der Ansatz gegeben sein, den dämonisierten Staat zugunsten des Imperiums zu überwinden? Leopold Ziegler meint, „daß uns die nahe Zukunft schon ein Michaelsdromenon aus Geist und Wahrheit johanneischer Prophetie schuldet”. Und weiter: „Es wäre dasselbe Dromenon zwar, welches im „verhaßten” Westwerk frühromanischer Kirchen angelegt, dort vorzeitig unterdrückt und abgebrochen wurde zugunsten des dem Ostwerk vorbehaltenen Mysteriums der Eucharistie, ein neues ‚Spiel vom Antichrist’, an welchem wir selbst ja nicht mehr nur als Zuschauer beteiligt sind.” Dafür zeugen sowohl der nachtridentinische römische Katholizismus als auch der genferische Calvinismus. In beiden Bereichen kommt es zunächst zu einem Triumph des mariologisch-ecclesiologischen Elementes. Für den römisch-katholischen Raum brauchen wir dafür keine Belege anzuführen; es ist eine allbekannte Tatsache, daß die römisch-katholische Frömmigkeit seit dem späten Mittelalter zunehmend marianisch bestimmt ist. Alfons Rosenberg schreibt dazu (a. a. O. pg. 296, Anm. 9): „Die Ablösung Michaels durch Maria seit der Renaissance gehört zu den erregendsten Wandlungen des ‚christlichen Mythos’. Schon im Mittelalter erhält Maria das kaiserliche Szepter, das sie dann in der Ikonographie der Renaissance als Waffe gegen den Satan gebraucht..., und schließlich erscheint sie gewappnet als Ritter... Die Kirche, deren Symbol Maria ist, erscheint hier nicht mehr als ‚Magd Gottes’, des Schutzes bedürftig, sondern als ‚Herrin’, die selber Macht ausübt. Zweifellos gehen hierzu dogmatische und theologische Entwicklungen parallel.” Aber auch im Calvinismus siegt das ecclesiologische Denken und stößt das michaelische ab. Calvins Staat hat im Grunde keine eigenständige Bedeutung mehr, sondern ist beherrscht - genau wie in der Schau der Cluniazenserpäpste - von der Kirche. Aber sowohl im römisch-katholischen als auch im calvinischen Raume ließ der Umschlag nicht auf sich warten: es entsteht - in Frankreich und in Genf - der laizistische Staat. Maria-Ecclesia bleibt nur unter dem Fähnlein St. Michaels vor dem Drachen bewahrt. Darum haben Leopold Ziegler und der Ghibelline Dante recht, wenn sie dem Imperium den Vorrang vor dem Sacerdotium zubilligen, ist doch das Ziel der Geschichte das Reich Gottes, nicht die Priester- und Pastorenherrschaft. Das Imperium aber bleibt nur solange michaelisch, das heißt dem künftigen Reiche zugeordnet, als es den Schutz des verfolgten „Weibes” als seine Berufung erkennt und willig ausübt. Es scheint also heute schon darum zu gehen, das seinerzeit allzufrüh abgebrochene michaelische Dromenon des Westwerkes neu aufzunehmen. Dazu aber werden wir nur als Kinder der Maria-Ecclesia, der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche in der Lage sein. Quatember 1957, S. 193-197 |
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