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Anekdoten um Berneuchen
Nach einem Menschenalter XXII
von Jürgen Boeckh

LeerWenn Michaelsbrüder beisammen sind, pflegt es nicht halb so steif oder feierlich zuzugehen, wie es sich die Außenstehenden auf Grund gewisser Klischeevorstellungen von „Berneuchen” ausmalen. Liturgischer Ernst schließt Witz und Humor, Heiterkeit und selbst Ausgelassenheit nicht aus. Es ist schon manchem, der als Gast zu uns kam, gar merkwürdig ergangen: er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, daß das schallende Gelächter gar kein Ende nehmen wollte, wenn Anekdote um Anekdote aus der über dreißigjährigen Berneuchener Geschichte erzählt wurde.

LeerMan könnte mit einiger Umsicht wahrscheinlich ein ganzes Büchlein von Berneuchener Anekdoten zusammenstellen, das in manchem sogar aussagekräftiger als diese oder jene Programmschrift wäre, nicht zuletzt auch im Blick auf allerlei Selbstironie nach dem Goetheschen Motto: „Wer sich nicht selbst zum besten haben kann, der ist gewiß nicht von den Besten.” Das Fastnachtsheft schien der gegebene Anlaß zu einer solchen Sammlung, die der Verfasser, durch die Schriftleitung angeregt, in Gestalt einer Umfrage bei einigen älteren Brüdern unternahm.

LeerAls Bruder Wilhelm Stählin von dem Plan hörte, erinnerte er sich sogleich an ein Erlebnis aus seiner Vikarzeit in einer mittelfränkischen Kleinstadt:

LeerIch hatte damals den „Jünglingsverein” zu leiten, und machte es ziemlich anders, als die guten Leute es unter diesem Namen gewohnt waren. Ich veranstaltete einen lustigen Abend, bei dem viel gesungen und die zahlreich erschienenen Väter und Mütter mit allerlei Späßen gut unterhalten wurden. Natürlich veranstalteten wir zum Schluß eine Sammlung - wahrscheinlich wollten wir irgend ein Sportgerät kaufen, für das das Geld noch fehlte. Eine Bauernfrau drückte mir ein Fünf-Markstück in die Hand - eine damals sehr bemerkenswerte Sache - mit der klassischen Begründung: So was habe sie „meidag” (alle meine Tage) noch nicht erlebt: „so vergnügt und doch anständig!”

LeerDamals hatte Berneuchen noch nicht das Licht der Welt erblickt. Als es aber soweit war, bemerkte der Herr von Berneuchen einen ähnlichen Widerspruch - jugendbewegt und doch geistlich:

LeerSeine Exzellenz, General von Viebahn, Herr des Hauses Berneuchen, war von seinem Neffen vor unserer ersten Arbeitswoche in Berneuchen dahingehend beschieden worden, daß ein Kreis von Theologen, die um die Zukunft der Evangelischen Kirche besorgt seien, von seiner freundlichen Einladung Gebrauch machen würde. Zur festgesetzten Stunde erwartete daher Seine Exzellenz, umgeben von den Damen, flankiert von der Dienerschaft seines Hauses, auf der Rampe des Schlosses die hochwürdigen geistlichen Herren. Die Wagen fahren vor, und es entsteigen ihnen junge Leute in verwegener Fahrtenkluft, mit Schillerkragen und bloßen Knien. Seine Exzellenz ist sichtlich bemüht, Haltung zu bewahren. Zum Glück hat Bruder Ritter in Vorahnung dieser Szene sich in geistliche Uniform geworfen, er trägt Lutherrock, schwarz-seidene Kniehosen, lange schwarze Strümpfe, Halbschuhe - wie ein anglikanischer Bischof, bemerkt Hermann Schafft -und kann bei der Vorstellung der Gäste mit allen geistlichen und akademischen Titeln beruhigend versichern, es liege kein Irrtum vor. Allgemeine Erleichterung, Aufatmen. Immerhin, erst die Erfahrung, daß diese Gäste sich bei der festlichen Abendtafel, die zu unserer Begrüßung gegeben wurde, ganz gesittet zu benehmen wußten, schafft die vertrauensvolle und offene Atmosphäre, die uns dann bei allen Wochen in Berneuchen so wohltat.

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LeerSchon fünf Jahre haben dann offenbar genügt, einen „Berneuchener Typus” entstehen zu lassen, wie die folgende Begebenheit erkennen läßt:

LeerEs war im Herbst 1928. Der Tod des alten Generals von Viebahn in Berneuchen hatte eine plötzliche Verlegung der Berneuchener Konferenz auf das Gut unseres Freundes Hans von Wedemeyer notwendig gemacht. Um dorthin zu gelangen, mußte man von Küstrin aus eine andere Bahnstrecke benützen. Eine Benachrichtigung der Teilnehmer, die zumeist schon unterwegs waren, war nicht mehr möglich. Da baten wir den Bahnhofsvorsteher von Küstrin, er mochte doch solche Leute, die so aussahen, als ob sie nach Berneuchen reisen wollten, auf die andere Bahnstrecke umdirigieren. Der kühne Versuch gelang vortrefflich; sie wurden alle auf dem Bahnhof Küstrin richtig erkannt, und sie waren alle rechtzeitig zur Stelle; es kam auch kein ungebetener Gast, den man auf der Bahn fälschlich für einen Berneuchener gehalten hätte.

LeerBis heute ist wohl die Frage noch nicht geklärt, ob es eigentlich für einen „Berneuchener” ein gutes Zeichen ist, wenn er als solcher von anderen erkannt wird oder nicht (dabei wäre allerdings auch immer zu berücksichtigen, ob die anderen wissen, was eigentlich Berneuchen und die Michaels-Bruderschaft ist). Es soll einen Bruder gegeben haben, der gesagt hat: „Jetzt bin ich bereits zehn Jahre an meiner Gemeinde, und bis heute hat noch niemand gemerkt, daß ich Michaelsbruder bin.” So etwas kommt vor, auch nachdem die Zeit der Arkandisziplin vorüber ist! Aber wenn zwei dasselbe erleben, ist es nicht immer dasselbe:

LeerDem derzeitigen Ältesten der Bruderschaft, Pastor Erwin Schmidt, wurde einmal in einem Gespräch von einem Amtsbruder das gutgemeinte Kompliment gemacht: „Ich könnte mir zum Beispiel nie vorstellen, daß ein Mann wie Sie dieser Bruderschaft angehörte.”

LeerEs wäre merkwürdig, wenn es unter Berneuchenern nicht auch liturgische Anekdoten gäbe:

LeerUnser Bruder Wilhelm Stählin war in seiner Jugend Vikar bei dem damals berühmten Prediger Geyer in Nürnberg. Als nun einmal der junge Vikar seinen Vikarsvater nach seinen Ansichten über eine Reform des evangelischen Gottesdienstes fragte, erwiderte dieser: „Der Evangelische Gottesdienst kann ruhig so bleiben wie er ist. Er nutzt nichts, schadet aber auch nichts.”

LeerWilhelm Stählin und Christian Geyer sitzen zusammen in der Sebalduskirche während einer sehr ausgedehnten kirchlichen Versammlung, in der sich eine Reihe von Rednern bei langen, wortreichen Ausführungen ablöst. Als die Orgel endlich das Ende anzeigt, meint Geyer zu Stählin: „Weißt', Stählin, ich habe die Gabe, bei so etwas tief zu schlafen, und das Wunderbare ist, wenn was Wichtiges gesagt wird, wache ich von selber auf - heut' bin ich nicht aufgewacht.”
LeerKarl Bernhard Ritter äußert dazu den Verdacht, daß Wilhelm Stählin diese Geschichte deshalb so gerne erzählt, weil er selber in hohem Maße dieser Gabe teilhaftig ist. Er konnte sogar während eines Rundgesprächs tief schlafen. Aber, zu unserem Trost sei gesagt: er ist dann fast jedesmal aufgewacht.

LeerBei der Einweihung einer neuerbauten Kirche trägt der assistierende Vertreter der Bruderschaft liturgische Tracht. Ein Gemeindeglied wendet sich an den neben ihm sitzenden Baumeister: „Sagen Se mal, da ist doch so'n hoher ausländischer geistlicher Herr, kenn' Se den?”

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LeerAls ausländisch angesehen zu werden, ist heute bei uns im allgemeinen nicht mehr so gefährlich, als wenn man in den Verdacht gerät, katholisch zu sein:

LeerEiner unserer Brüder hatte in seiner Gemeinde die evangelische Messe gefeiert. Ein Gemeindeglied bekundete nach der Messe sein Einverständnis mit dieser Form des Gottesdienstes - bis auf einen Punkt: „Ich verstehe gar nicht, daß Sie solche katholischen Worte im Gottesdienst sprechen wie: ,Der gesegnete Kelch . . .'”

LeerDieser Bruder konnte immerhin den Vorwurf des Krypto-Katholizismus ohne große Mühe auf den Apostel Paulus (1. Kor. 10, 16) abwälzen. Schwieriger hatte es da schon Bruder Stählin, als er einmal in einem schwäbischen Landpfarrhaus zu Besuch war.

LeerEin Mann aus der Nachbargemeinde wollte den Pfarrer sprechen, und als er erfuhr, daß gerade ein Professor zu Gaste sei, ließ er sich erst recht nicht abhalten, sondern wollte unbedingt mich sprechen. (Man muß die Geschichte schwäbisch hören, die geschriebene Mundart ist ein kümmerlicher Ersatz.) „l muß Sie ebbes frage, Herr Professor. Wisset Se, mir hent bei uns seit a paar Johr so an Pfarrer, der führt alleweil so domms Zeugs ein; und mir Schwabe hent gar kei Freud an soer Liturgie. Mir möge scho gar nimmer in d' Kirche gehe. Etz hat er sich a ganz saudumme neu Mod' a'gwöhnt, etz stellt er sich an Altar na' und streckt uns d'n Hintern na'; descht o'anständig,” Ich fragte ihn: „Soll er dem Herrgott den Hintern na'streckn?” - „Descht au wieder wahr; warum secht er uns des net?”

LeerWilhelm Stählin bemerkt dazu, daß der hochkirchliche Pfarrer, über den sich der gute Mann aufregte, kein Berneuchener war. „Trotzdem würde ich es nicht wagen, diese nicht sehr vornehme Geschichte hier zu erzählen, wenn mir nicht glaubwürdig berichtet worden wäre, daß in einer reformierten Kirchenordnung die Wendung des Pfarrers zum Altar mit wörtlich genau der gleichen Begründung verboten ist. Hoffentlich behauptet nun nicht ein theologischer Leser, ich hätte den Altar mit Gott verwechselt.”

LeerVon der Theologischen Arbeitstagung in Lüneburg 1937 wird eine kleine Geschichte erzählt, in der ein katholischer Gast der Gesprächspartner war:

LeerDa unser theologischer Arbeitsausschuß Fragen der Ökumene bearbeiten sollte, war ein katholischer Studentenpfarrer zu Gast. Während der Verhandlungen fragte dieser, woher es komme, daß die überwiegend lutherisch geprägte Michaelsbruderschaft einen so starken Konvent in der reformierten Schweiz besitze. Karl Bernhard Ritter berichtete wahrheitsgetreu, daß der erste der Schweizer Michaelsbrüder sich einmal zu einer Sitzung in den kleinsten Raum seines Hauses zurückgezogen habe, wo er an der Wand hängend eine Einladung zu einer unserer Freizeiten gefunden habe, und aus dem Studium dieser Einladung sei der Entschluß gereift, die Tagung zu besuchen. Darauf erwiderte der Katholik: „Da sieht man doch, daß die Gnade nicht an die Sakramente gebunden ist.”

LeerAus Marburg, dem Ursprungsort der Bruderschaft, wird die folgende Geschichte berichtet:

LeerWir stehen in dem Ruf, als Liturgiker steif und sehr feierlich zu sein. Aber das ist nur ein Übergang, bei Anfängern unvermeidlich, bis die Verlegung des Schwerpunktes vom Kopf zum Herzen gelungen ist. Ein junger Bruder dient zum erstenmal als Diakon. Er will zum Altar schreiten, aber, ganz benommen von seiner Aufgabe, tritt er rückwärts und nähert sich bedenklich den Chorstufen. Gleich muß es zur Katastrophe kommen. Wir alle halten entsetzt den Atem an. Da flüstert einer vernehmlich: „Nicht rückwärts, vorwärts, Don Rodrigo!” Diese Beschwörung gelingt. Zur allgemeinen Erleichterung verläßt der Diakon der hohen liturgischen Kothurn und gelangt fröhlich zum Ziel.

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LeerVon einer der letzten Tagungen des Berneuchener Arbeitskreises im Haus unseres Bruders Hans von Wedemeyer in Pätzig wird die folgende Geschichte über Paul Tillich erzählt.

LeerWir sitzen um den großen Tisch im Gartenzimmer. Draußen spielt die Sonne in den Zweigen der Parkbäume. Aber im Raum ist dicke theologische Luft. Intensivste Aussprache, Thema: Das Sakrament. Paul Tillich kämpft um Anerkennung der These, daß die Natur in die Heilsgeschichte einbezogen sei. Die Verbalisten widerstehen. Das Gespräch droht zu erstarren. Da bemerkt die Tafelrunde, daß sich Tillich schon seit längerer Zeit liebevoll mit dem großen goldbraunen Jagdhund Wedemeyers beschäftigt. Das aus der Heilsgeschichte verbannte Tier hat sich mit metaphysischem Instinkt zu ihm geschlagen, und Frau von Wedemeyer bemerkt mitfühlend: „Sie haben es erkannt, er braucht selber Trost und will auch Sie trösten, Herr Doktorl”

LeerKarl Bernhard Ritter berichtet von einer geistlichen Woche im Kloster Urspring, die den Fragen der Askese und Dämonie gegolten hatte.

LeerDie Brüder Ritter und Dieterle wandern nach Abschluß der Tagung zur nächsten Bahnstation. Als ihr Pfad den Umlaufberg der alten Donauschleife erreicht und die Klostergebäude dem Blick entschwinden, greift Bruder Ritter in die Tasche, zieht eine Zigarre hervor und gibt sich dem lang entbehrten Genuß hin. Bruder Dieterle hat ihn mit schrägem Seitenblick beobachtet und bemerkte schließlich: „Ja, ja, kaum daß mer die ersten Schritte tut, zurück in die Welt, da hooke eim auch schon die Dämönle widder nauf.”

LeerDas erste gemeinsame Michaelsfest der Ostkonvente wurde 1949 in Dobrilugk gefeiert, dabei gewannen die Brüder bei der Bevölkerung den einmaligen Ruhm, eine trikonfessionelle Ökumene verwirklicht zu haben.

LeerDa einer der Brüder, der seinen Kragen auf anglikanische Weise trug, für einen römischen Priester gehalten, ein anderer aber, den ein tiefschwarzer Bart zierte, als jüdischer Rabbiner angesehen wurde, verbreitete sich mit Windeseile das Gerücht, hier sei von evangelischen Pfarrern die katholische Messe gehalten worden, bei der ein jüdischer Rabbiner zelebrierte - also „Una Sancta mit Israel” im Zeichen des heiligen Michael.

LeerDen Beschluß soll eine Geschichte bilden, die sich erst beim Zustandekommen dieses Fastnachtsheftes ereignete.

LeerDer Schriftleiter unterhielt sich mit Bruder Ritter über seinen Plan und erinnerte diesen an die Fastnachtshefte, die der mit vielen älteren Brüdern befreundete Wilhelm Stapel um 1930 herum im Rahmen seiner Zeitschrift „Deutsches Volkstum” herausbrachte. Ritter erinnerte sich wohl, meinte aber ein wenig mißbilligend, Stapel sei dabei hier und da auch übers Ziel geschossen. So habe er einmal einen Aufsatz über den „Allerwertesten” gebracht, dessen Motto (aus dem Grimmschen Wörterbuch) lautet: „Aus verzagtem Arsch fährt kein fröhlicher Furz.” Müller-Gangloff erinnert sich dieses Aufsatzes durchaus auch und tat es nicht ohne Schmunzeln. Er hatte ihn nämlich vor fast einem Menschenalter selber verfaßt.

Quatember 1958, S. 90-93

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-30
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