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von Wilhelm Stählin |
Die in Würzburg erscheinende „Deutsche Tagespost” hat von einer größeren Anzahl von Männern und Frauen des öffentlichen Lebens eine Stellungnahme erbeten zu der Frage „Christentum und Abendland, eine Allianz gestern - und morgen?”. In ihrer Osternummer hat die Zeitung eine Auswahl der eingegangenen Antworten veröffentlicht. Weil ich selbst gefragt worden war und auch geantwortet hatte, habe ich dieses Blatt erhalten und habe dieses interessante Dokument mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Es ist eine bunte Reihe sehr verschiedenartiger Namen, deren Träger hier zu Worte kommen. Ich nenne wenigstens einige von ihnen (in der vielleicht ganz zufälligen Reihenfolge, in der sie dort stehen): Gabriel Marcel, Wilhelm Stählin, Bundeskanzler Dr. Adenauer, Marianne Langewiesche, Otto von Österreich, Friedrich Heer, Helmut Thielicke, Josef Pieper, Richard Jaeger, Hans Asmussen, Reinhold Schneider, Kultusminister Maunz, Bischof Dr. Döpfner, Ministerpräsident Seidel, Kirchenpräsident Niemöller, Papst Pius XII., Waldemar von Knoeringen; die Alterspräsidentin des Bundestages, Frau Marie Elisabeth Lüders, macht den Beschluß. Es wäre unfruchtbar, aus den zum Teil sehr skizzenhaften (zum Teil aber auch sehr grundsätzlichen) Antworten ein paar charakteristische Sätze herauszugreifen und sie gegeneinander abzuwägen. Aber was mich überrascht und beeindruckt hat, ist dieses, daß aus dem Stimmengewirr dieses seltsamen Chors einige Stimmen in merkwürdiger Harmonie herauszuhören sind. Da ist zunächst eine unüberhörbare Kritik an der Fragestellung. Thielicke ist nicht der einzige, der bekennt, daß er das Wort „Christentum” nicht gerne gebrauche: „Denn es bedeutet weithin die Summe der Mißverständnisse, die sich um Jesus Christus gebildet haben.” Noch stärkerer Kritik ist der Begriff des Abendlandes ausgesetzt. Jedenfalls sei das Abendland nicht ein geographischer Begriff; die Grenzlinien zwischen West und Ost seien vielfach fließend geworden, sagt zum Beispiel Gabriel Marcel und bekennt sich dazu, in seinem Wesen auch vom Osten her entscheidend geprägt zu sein; so wie umgekehrt Menschen des Ostens, die Rom als den Mittelpunkt der Christenheit ehren, dadurch nicht etwa dem Westen verfallen seien. Zwar den Vorsprung (wie Dr. Asmussen das ausdrückt), daß Europa vom christlichen Erbe her geprägt ist, kann kein anderes Volk jemals aufholen; aber darin ist zugleich ein Vorsprung an Schuld begründet, und es kann durchaus sein, daß der Anspruch, sich auf Christus zu berufen, auf andere Kulturen übergehen wird, die, ohne sich Christen zu nennen, mehr vom Geist Christi haben und praktizieren (so Martin Niemöller). Sehr eindrucksvoll sind einige Andeutungen eines Chinamissionars von der Kritik, die der Osten am Abendland übt (darunter das erstaunliche Wort einer chinesischen Studentin: Der Westen habe zu viel Weiber, aber zu wenig Mütter). Es ist eigentlich nur eine einzige Stimme, die von Dr. Emil Franzel (dem Hauptschriftleiter der Zeitschrift „Neues Abendland”), die (in sehr hörbarem Unterschied von fast allen anderen) sich ein Christentum losgelöst von bestimmten abendländischen Traditionen nicht denken kann: „Ich könnte mir Kirche und Christentum nicht als Ideologie eines Zeitalters vorstellen, in dem die abendländischen Werte keine Gültigkeit mehr hätten, wobei ich zu den Werten auch die Bilder und das Wort zähle. Ohne die uralten Riten und Bräuche, ohne Rom und das Lateinische, ohne die überlieferte Form von Gotteshaus und Festen, endlich aber auch ohne einen Rest unberührter Natur, in der sich der Schöpfer offenbart, kann ich mir kein Leben, sondern wirklich nur ein Sein zum Tode, ein höllisches Dasein ohne Sinn denken.” Aber vielleicht ist dieser Satz doch zu interpretieren im Sinn des sehr viel bescheideneren vorangehenden Satzes: „Von meiner subjektiven Fähigkeit her muß ich gestehen, daß ich das Christentum, die unerschöpfliche Bilderwelt des Glaubens im Gefäß der Kirche nur so aufnehmen kann, wie sie, geschichtlich geworden und gewandelt, als abendländisches Christentum in mir lebt.” Aber gerade zu der notwendigen Phantasie bekennen sich eigentlich alle anderen Beiträge, daß wir über das hinaus, was wir kraft unserer subjektiven Fähigkeiten aufzunehmen vermögen, uns vorstellen müssen, daß das Christentum auch in ganz anderen Gestalten seine Wirklichkeit und Wirksamkeit in der Welt haben und gewinnen kann. Es sind im wesentlichen drei Dinge, die hier laut werden: Eine betonte Hinwendung zur Welt in Erkenntnis und Gestaltung; Josef Pieper hat dafür - in bewußtem Gegensatz zu der prinzipiell unweltlichen Religiosität des Ostens - den Ausdruck „theologisch begründete Weltlichkeit” geprägt; beide Elemente (die so sehr in Gefahr sind, sich voneinander zu lösen) zusammenzudenken und zusammenzuleben, das sei christliches Abendland. Es geht zweitens um die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen als Person. „Wenn der Mensch nicht mehr seine Würde in seiner Gottebenbildlichkeit hat, dann wird er verschrottet werden, sobald er leistungsunfähig geworden ist” (Thielicke). Und schließlich die Verantwortung für den konkreten Mitmenschen, also die in der Zuwendung zum Bruder praktisch geübte Liebe und Barmherzigkeit, „Großmut, Großzügigkeit, Geduld und Gelassenheit war in diesem alten Europa zu Hause, das sich, seit den Alten, als eine Urbs diis hominibusque communis, eine Hausgemeinschaft der ‚Götter’, der Heiligen und Unheiligen, aller Geschöpfe und Dinge verstand. Heute wirkt Europa auf seine Partner und Konkurrenten vor seinen Toren nicht mehr als ein offenes Haus, in dem Gott, Geist und alle guten Dinge beheimatet sind. Diese Hausgemeinschaft kann wiedergeboren, kann wiedergefunden werden, wenn Europäer es wagen, zu ihren eigenen Quellgründen einzukehren.” Die Frage nach dem christlichen Abendland bewegt viele Gemüter, sei es als Ausdruck einer Verpflichtung, der sie sich nicht entziehen können, sei es als Zeichen eines romantischen Ideals, das unserer Lage und unserer Verpflichtung nicht gemäß ist. Es will mir scheinen, daß die dankenswerte Umfrage einer Tageszeitung wesentliche Antworten zu dieser Frage zutage gefördert und einen ebenso wesentlichen Beitrag dazu geliefert hat, jene Parole ihrer Illusionen zu entkleiden und die Aufgabe sichtbar zu machen, die uns gestellt ist, uns, die wir abendländische Christen in weltweiter Verantwortung sind und bleiben wollen. Quatember 1958, S. 227-228 |
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