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von Jürgen Boeckh |
Die Erkenntnis, daß Freiheit und Bindung für den evangelischen Christen keine Gegensätze sein dürfen, ist längst nicht mehr auf besondere Kreise beschränkt. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Lebensordnung des evangelischen Mannes, die jetzt vom evangelischen Männerwerk in Hessen und Nassau herausgegeben worden ist (Zwingenberg an der Bergstraße, 1957. Mitarbeiter: Dr. Ernst zur Nieden, Herbert Fenske, Kurt Wolf, Erich Warmers, Karl Zeiß). Diese Lebensordnung ist nicht zu verwechseln mit den „Ordnungen des kirchlichen Lebens”, die in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und in der Evangelischen Kirche der Union offizielle Geltung erlangt haben. Da geht es etwa um Gottesdienst und Seelsorge, um die Zulassung zur Konfirmation, um die Trauung Geschiedener (die in der Regel nicht stattfinden soll), um die Aufnahme in die Kirche und die Folgen des Austritts. Schwieriger ist es, den einzelnen Christen zu einer geistlichen Lebensordnung zu führen, da die Annahme einer solchen Ordnung heute nur auf Grund der freien Entscheidung des Einzelnen geschehen kann - die eigentlich mit dem Christsein gegeben sein sollte. Wir wissen, daß dies bei uns nicht der Fall ist. Darum gilt es immer wieder, „das Christentum in der Christenheit einzuführen”, wie Kierkegaard es vor hundert Jahren formuliert hat. Das Leben nach einer geistlichen Ordnung ist von Anfang an ein Berneuchener Anliegen gewesen und wird nun seit einem Menschenalter von Gliedern der Evangelischen Michaelsbruderschaft und des Berneuchener Dienstes erprobt und praktiziert. In der ökumenischen Christenheit gibt es mittlerweile, wie besonders den Lesern von „Quatember” bekannt ist, Kommunitäten und Zusammenschlüsse verschiedenster Art, die in einer geschlossenen Gemeinschaft oder „in der Welt” nach einer Regel zu leben bereit sind. Nun ist also von einem Landesverband in einem „Werk” der Kirche eine Lebensordnung herausgegeben worden, die für den Einzelnen bestimmt ist. Sie ist allen Kirchengebieten empfohlen worden. Die Lebensordnung soll dem evangelischen Mann eine praktische Hilfe sein, „im Kämmerlein, in der Familie und in der Öffentlichkeit” als Christ zu leben. Während die Lebensordnung der evangelischen Kirche der Union im Vorspruch ausdrücklich als „Regel, der sich niemand ohne gewichtigen Grund entziehen soll” bezeichnet wird, ist in der Lebensordnung des evangelischen Mannes der Begriff Regel vermieden (es wird zwar vom regelmäßigen Gottesdienstbesuch, von der neuen Lebensregel und Grundregel gesprochen, aber nur in einem allgemeinen Sinn). Dennoch entspricht das Anliegen der Lebensordnung durchaus dem der „Regel des geistlichen Lebens” von Wilhelm Stählin, die den meisten unserer Leser bekannt sein wird.
Im Eingangswort schreibt Propst zur Nieden: „Möchten wir doch immer mehr aus einer Haltung herauskommen, die den Glauben nur in Gedanken vollzieht!” Dieses Grundanliegen wie auch die einzelnen Sätze können wir voll und ganz bejahen. Dadurch, daß hier eine besondere Ordnung für den evangelischen Mann vorgelegt ist, ergibt sich selbstverständlich die stärkere Ausrichtung auf den Dienst in der Öffentlichkeit und der Hinweis auf die Arbeit des Männerwerkes. Dennoch müssen wir einen entscheidenden Unterschied zwischen der Lebensordnung und der Regel des geistlichen Lebens feststellen. Diese wendet sich bewußt an Menschen, die sich auf die sechs Sätze verpflichtet haben oder durch ihre zukünftige Verpflichtung mit anderen Verpflichteten auf einen gemeinsamen Weg geführt werden - jene an Männer, die bereits in einem Werk der Kirche vereinigt sind, ohne eine konkrete Lebensordnung zu kennen und zu praktizieren (wenigstens nicht schon auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Männerwerk). Mit Recht wird betont, daß es um eine Sache geht, „die gar nichts besonderes sein will, sondern von jedem evangelischen Christen praktiziert werden sollte”. Und dennoch ist es etwas Besonderes, wenn sich ein evangelischer Christ an eine Lebensordnung oder Regel hält. Die Herausgeber der Schrift rechnen damit, daß hier etwas ausgesprochen wird, was für die meisten überraschend ist. Viele werden tatsächlich staunen, wenn ihnen gesagt wird: „Du mußt sie selber eingrenzen, die Freiheit, deine evangelische Freiheit.” Sollte man aber hier nicht lieber von der „protestantischen” Freiheit sprechen? Evangelische Freiheit besteht doch gerade in der Bindung an Jesus Christus - und an den anderen. Der Einleitung über den 10 Sätzen (wir wollen ... unser Leben gestalten, indem wir uns bemühen) entspricht der Untertitel der Schrift: Eine Einführung und ein Anruf. Und hier sehen wir einen Mangel - nicht der einzelnen Sätze der Ordnung, aber der Art, wie sie „angeboten” werden: in einem dauernden Appell. Wäre es nicht eine größere Hilfe für den Einzelnen, wenn ganz schlicht dargestellt würde, was ein Mensch, der mit Ernst Christ sein will tut - um ihm damit die Möglichkeit zu geben, einfach sich anzuschließen und vielleicht eine feste Verpflichtung einzugehen? Daß man unseren Männer-Kreisen eine solche Ordnung nicht einfach überstülpen kann, ist selbstverständlich. Dazu fehlen allermeist die Voraussetzungen. Eine Lebensordnung dieser Art kann nur freiwillig von Einzelnen übernommen werden. Die Möglichkeit einer besonderen Verpflichtung ist nicht ins Auge gefaßt, obwohl von einer „Mannschaft sich verpflichtender Männer” gesprochen wird. Sie wäre für den Einzelnen sicher eine praktische Hilfe. Leider wird in dieser Lebensordnung in dem Bemühen, „säkular” zu reden, oft über das Ziel hinausgeschossen. Kann man von Christus als dem „Chef” reden, von den Christen als „Kollegen”? Ganz eigentümlich wirkt es dann, wenn diese säkulare Sprache streckenweise verbunden wird mit der Sprache von „Neu-Kanaan.” In dem Abschnitt über die Sätze sieben, acht und neun wird besonders auf den Lektorendienst, den Besuchsdienst und Kindergottesdienst hingewiesen. Die Sätze, die sich mit dem geistlichen Leben im engeren Sinne befassen, stehen am Anfang. Nur der kann im Beruf, in der Öffentlichkeit und in der Kirchengemeinde wirken, der, wie wir sagen würden, mit der Kirche lebt. Das Heilige Abendmahl wird dargestellt als „Tischgemeinschaft mit Christus und untereinander”. Die Sätze zwei, drei und vier sind recht kurz behandelt. Der Zusammenhang zwischen dem Tisch in der Gemeinde und dem Tisch daheim wird besonders betont. Leider werden als mögliche Lesungen Jahreslosung, Monats- und Wochenspruch, Losung und Lesung einfach nebeneinandergestellt (auch Jörg Erb, „Wolke der Zeugen” wird empfohlen). Hier wäre ein Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der Lesesysteme angebracht. Es ist richtig: „Die Mutter bringt auch nicht immer dasselbe auf den Tisch”, und „nicht alle Mägen mögen alles” - aber für das geistliche Leben ist doch eine gewisse Stetigkeit notwendig. Für eine bestimmte Zeit sollten wir uns für diese oder jene Leseordnung entscheiden, wenn die Botschaft der Bibel wirklich von uns aufgenommen werden soll. In dem Absatz zu Satz drei „Zeit zum Gebet” ist nur vom Bittgebet und von der Fürbitte die Rede. Allerdings verstehen die meisten unserer evangelischen Mitchristen unter Gebet heute allein das Bittgebet (besonders die, die nicht regelmäßig beten). Für die Übung des täglichen Gebetes aber wäre es notwendig, auch auf das Lob- und Dankgebet und auf die Anbetung hinzuweisen. Gerade das könnte eine Hilfe für den Mann sein, der das Beten verlernt hat. Der einzelne Mann soll seinem Nächsten mit Rat und Tat helfen (Satz fünf), auch seinen Gemeindepfarrer mit Rat, Tat und Fürbitte unterstützen (Satz acht). Wenn damit auch geistliche Hilfe gemeint ist, dann müßte umgekehrt von dem einzelnen Mann erwartet werden, daß er selbst geistlichen Rat annimmt und sich brüderlicher Zucht stellt. Aber soweit sind wir eben im allgemeinen noch nicht - trotz des Frankfurter Kirchentags, auf dem über die Beichte gesprochen und - Beichte praktiziert wurde. All diese Einwände und kritischen Anmerkungen sollen unserer Freude darüber keinen Eintrag tun, daß eine derartige Lebensordnung des evangelischen Mannes im Männerwerk der Kirche Eingang gefunden hat. Quatember 1958, S. 231-233 |
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