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Ein Appell aus Manila
von Alfred Schmidt

LeerIm Juni dieses Jahres fand in Manila die erste Asien-Konferenz für Industrie-Evangelisation statt. Diese Konferenz wurde in Verantwortung vor dem Weltkirchen- und Weltmissionsrat von dem 1957 gegründeten Ost-Asiatischen Christenrat durchgeführt. Herz und Seele der Tagung war Henry Jones, der in jahrelangen vorbereitenden Arbeiten und Reisen die wesentlichen Fragen gesammelt und die geeigneten Persönlichkeiten gefunden hat. Diese Asienkonferenz hatte sich zur Aufgabe gestellt, die mit den Vokabeln: „Industrialisierung und Verstädterung” angedeuteten Fakten zu sichten und die Aufgabe der Kirche inmitten dieses unaufhaltsamen, stürmischen Umbruches zu beschreiben. Aus dreizehn asiatischen Ländern waren etwa 50 Pfarrer und Laien beisammen. Es waren nicht die „Großen”, sondern die, die in ihrer schlichten Arbeit praktisch durchleiden, was mit dem Terminus „sozialer Umbruch” gemeint ist. Vertreten waren die Länder Pakistan, Indien, Burma, Thailand, Malaya, Indonesien, Philippinen, Hongkong, Taiwan, Korea, Japan - Neuseeland und Australien, für uns eine Überraschung, daß Neuseeland und Australien sich zu den asiatischen Ländern gehörig fühlen.

LeerAls Mitarbeiter im Ökumenischen Laieninstitut Genf war Dr. Kitagawa zugegen und einige in Indien und auf den Philippinen arbeitende Vertreter amerikanischer Kirchen. Als einzige Europäer waren drei in Japan arbeitende deutsche Pfarrer anwesend, die Brüder Günter und Wendorf als Mitarbeiter in der Japanischen Industrieevangelisation, und ich als Ratgeber für die in Japan beginnende Akademiearbeit. Da die Frage der Laienarbeit innerhalb des künftigen Dienstes der asiatischen Kirchen besonders wichtig wird und der Weg der europäischen Laieninstitute und Akademien auch in Asien nicht unbekannt ist, bin ich zur Berichterstattung über diese Arbeit nach Manila eingeladen worden und hatte, dank der freundlichen Hilfe des Tagungsleiters, dazu mehrfach gute Gelegenheit. Die Konferenz hat das Studium und die Praxis der Akademiearbeit im Hinblick auf die Bewährung christlicher Verantwortung gerade der Laien den versammelten asiatischen Kirchenvertretern empfohlen.

LeerEinige Zahlen mögen den Hintergrund andeuten, vor dem sich in vielen oft kleinen Einzelaktionen das Hauptthema, die christliche Verantwortung, ereignet. Mit einiger Phantasie wird deutlich, daß die Zahlen nicht nur für Asien, sondern ebenso für Europa, Amerika und Afrika wichtig sind und in der Bewährung christlicher Verantwortung die gesamte Christenheit gemeinsam gefragt ist. In Asien leben 53 Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde. Von dem Bevölkerungsanteil leben 33,8 Prozent in Städten von über 20 000 Einwohnern. (In Europa sind es 27,5 und in Amerika 13,9 Prozent). Unsere Vorstellung, als wäre Asien das spezifisch bäuerliche Land, ist falsch. In Asien liegen die größte Stadt der Welt, Tokyo, und die viertgrößte Stadt, Kalkutta. Von 866 Großstädten über 100 000 Einwohner hat Asien 289, Europa 261 und Nord-Amerika nur 116 Städte. Während die Herstellung von Industrieerzeugnissen und die Kohlenproduktion im Jahre 1957 im Weltmaßstab um 3,5 Prozent gestiegen ist, betrug der Zuwachs für Asien gerechnet 11,4 Prozent. In die menschliche Ebene umgesetzt bedeuten diese Ziffern einen Wandel der sozialen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, der nicht nur die äußeren Erscheinungsformen bewegt, sondern die geistigen und religiösen Fundamente miterschüttert hat.

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LeerDer stürmische Umwandlungsprozeß Asiens ist nicht ein Problem für die Wirtschaftsreferenten und politischen Gestalter allein, sondern fordert die Soziologen, die Psychologen und Völkerkundler zur Beratung und Mitverantwortung. In einer aber fast untragbaren Verantwortung ist die Kirche gefordert, die mitten in dem Umbruch die Anstöße und Ideen geben soll, damit die Gabe der Technisierung und Industrialisierung dem Menschen zum Segen wird und durch alle menschliche Begabung auch in den Ländern Asiens Gottes Wille geschieht. Diese Verantwortung können die Brüder in den asiatischen Ländern nur in Gemeinsamkeit mit den Christen in anderen Ländern durchhalten. Die Aufgabe, die den asiatischen Kirchen gestellt ist, ist zugleich eine Bewährungsprobe für die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen.

LeerIn einer offiziellen Konferenzunterlage wurde an ein Wort von Professor Rosenkranz (Tübingen) erinnert, in dem die Mitverantwortung der Weltchristenheit bei der Begegnung Asiens mit der Technik beschrieben wird, in dem aber auch zur Bewährung dieser Mitverantwortung neue Wege empfohlen werden. Die Weltchristenheit steht sowohl in der kranken westlichen Welt, wie in der erwachenden Welt Asiens vor einer unerhörten Aufgabe. Viele Dinge, die die Christen in vergangener Zeit mit bester Absicht taten, wenn sie die Segnungen der Zivilisation mit der Predigt des Evangeliums verkoppelten, haben sich nicht nur als ein Fehlgriff, sondern geradezu als Sünde erwiesen!

LeerIn den Gesprächen der Konferenz, die sich über zwölf, vierzehn und sechzehn Tagesstunden erstreckten, ist spürbar geworden, wie sehr die Brüder in den asiatischen Kirchen die Gemeinschaft mit allen anderen Christen suchen, wie sehr sie aber auch wissen, daß die Antwort auf viele Fragen in Asien nur von den Christen Asiens selbst gegeben werden kann. Mit der Sehnsucht der Völker Asiens, auch die letzten Reste kolonialer Bindungen abzustreifen, geht der Wille auch der asiatischen Christen Hand in Hand, gleichberechtigter Partner im ökumenischen Gespräch zu sein. Mit Dankbarkeit erkennt man den Dienst der europäischen und amerikanischen Bruderkirchen und Missionen für die asiatischen Kirchen an, erwartet nunmehr aber, daß die Jungen Kirchen nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der Mission in Asien sind.

LeerDas sind nicht nur theoretische Feststellungen. Die japanische Kirche hat Missionsarbeit unter den etwa 500 000 Japanern in Brasilien, sie hat einen Versuch missionarischer Arbeit in der Türkei, die Koreanische Kirche betreut Landsleute in Okinawa und Japan, die Evangelische Kirche der Philippinen wirkt in Indonesien, Thailand, Hawaii, Iran und in Amerika. Was die Jungen Kirchen erbitten, sind Berater und Mitarbeiter aus den Ländern, die die geistigen Probleme des technischen Umwandlungsprozesses erkannt und zu einem Teil bewältigt haben.

LeerWo immer auch Menschen leben und wie auch ihre Lebensbedingungen sein mögen, so scheint es, als würden in der Begegnung mit der modernen Technik überall die gleichen Fragen akut. Der junge Pastor aus Bali beobachtet mit gleicher Besorgnis, daß der Vormarsch der Technik die gute, alte patriarchalische Ordnung seines Palmenparadieses auflöst, wie etwa der Pastor eines einsamen Schwarzwald- oder Spreewalddorfes, die indische Kirche sieht mit Sorge, wie die Anziehungskraft der modernen Industriezentren nicht nur die Familien auflöst und soziale Ordnungen zerbricht, sondern auch die Kirchengemeinden gefährdet.

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LeerAllein im Raum von Kalkutta sind etwa zehntausend meist junge Männer, die von ihren Familien weg in die städtische Industrie gingen, auch ihrer heimatlichen Kirche fremd geworden. In den völlig ungewohnten und zum Teil sehr primitiven und provisorischen Lebensverhältnissen der Arbeiterbaracken sind sie physisch und seelisch gefährdet und verdorben. In Japan stellt sich wiederum das Problem, wie man den jungen Menschen, die die Dörfer verlassen, in den städtischen Kirchengemeinden eine Heimat schafft, wenn es überhaupt gelingt, sich diesen jungen Menschen zu nähern. Das Problem ist so vielschichtig, daß es mit allgemeinen Leitsätzen nicht zu lösen ist. Die Tatsache, daß die moderne Industriegesellschaft über die ganze Welt hin gleiche oder ähnliche Situationen hervorruft, ist aber eine unerhörte Möglichkeit für die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen.

LeerDie westliche Welt, vor allem das alte Europa, hat noch viel zu geben. Mit einiger Bestürzung ist mir deutlich geworden, wie entscheidend wichtig es sein könnte, wenn die Einsichten der theologischen Arbeit von Basel bis Upsala, von Prag bis Oxford, den Jungen Kirchen Asiens nicht nur theoretisch, sondern mit allen praktischen Konsequenzen übermittelt werden könnten. Es hat mich fast beschämt, wie sehr die Theologen, etwa Dr. Fidel Galang, der einstige Feldkaplan der Philippinischen Untergrundbewegung, der die tägliche biblische Besinnung hielt, die Verbindung gerade mit der deutschen Theologie suchen. Er und Dr. C. C. Wu, der Leiter des Theologischen Seminars auf Taiwan, und mit ihm eine große Zahl von Theologen in den Jungen Kirchen Asiens, besonders in Japan, lesen die modernen theologischen Werke in deutscher Sprache. Sind wir es diesen Männern nicht schuldig, sie zu persönlichen Begegnungen einzuladen und mit ihnen das theologische Gespräch aufzunehmen? Vielleicht würden wir lernen, daß wir in den alten klassischen christlichen Ländern nicht nur die Gebenden, sondern oft vielmehr die Empfangenden sind. - Ich könnte mir sehr wohl denken, daß ein Evangelist aus Thailand oder Japan das Ohr und vielleicht das Herz unserer selbstverständlichen und trägen Christen daheim treffen würde.

LeerIch habe den Eindruck, daß zwei Aufgaben für das Gespräch und die gegenseitige Beratung unter den Kirchen im Westen und im Osten der Aufmerksamkeit bedürfen: 1. das Gespräch über das theologische Programm Dietrich Bonhoeffers im Blick auf die „mündige Welt” und 2. die Zurüstung verantwortlicher christlicher Laien für die Begegnung mit dem Marxismus.

LeerEs ist kein Zweifel, daß die sozialistischen Gestaltungsversuche in Asien Eindruck machen. Fast alle Christen, die sich in Japan politisch engagiert haben, sind Sozialisten. Die Jugend sieht im Sozialismus - und zwar sehr weit nach links orientiert - das einzige Feld der Bewährung. Da der Abstand zu den ehemals kolonialen Mächten noch nicht groß genug ist, um sachliche Urteile zu ermöglichen, hat nicht nur der Marxismus als Weltanschauung und Religionsersatz, sondern auch die kommunistische Staatsordnung eine Chance. Das Wort „Gleichheit” - will sagen, der Völker, der Rassen, der sozialen Gruppen - und das Wort „Frieden” - will sagen, die Sehnsucht nach den besseren Lebensbedingungen für alle im Gefolge der technischen Errungenschaft - sind magische Zauberworte und geben dem, der sie am glaubwürdigsten propagiert, den eigentlichen Einfluß.

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LeerDie Aufgabe der Christen im asiatischen Raum könnte sein, zur Nüchternheit und Sachlichkeit zurückzuführen und mitten in der propagandistischen Verneblung Klarheit zu verschaffen. Gleichzeitig aber müßte die kleine Gruppe der Christen, die in allen Ländern einen die Zahl weit überragenden Einfluß hat, die Modelle für ein neues menschliches Miteinander in der modernen Welt der Technik und Ideologien darstellen. Die Christenheit in den asiatischen Ländern des schnellen Umbruchs müßte in der Phantasie, in der gestalteten Lebenspraxis und der geistlichen Bewältigung des Wandlungsprozesses die Grundlinien zeichnen, nach denen die Völker ihr künftiges Miteinander ordnen. Dies alles drängt zu einem ökumenischen Miteinander der alten und jungen Kirchen, das von beiden Seiten intensive Bemühung erfordert.

LeerAuch untereinander werden die asiatischen Kirchen den Erfahrungsaustausch üben müssen, und dadurch helfen, die zum Teil starken nationalen Spannungen unter den jungen selbständigen Ländern abzutragen. Für das Problem der Industrieevangelisation wird besonders Japan einen wichtigen Beitrag zu geben haben. So wie Japan im Fernen Osten das am stärksten industrialisierte Land ist, das Wunderland der Technik und Industrie in Asien, so hat auch die japanische Kirche die größte Erfahrung in der Begegnung mit den Menschen der Industriezentren. So wie in Japan die technischen Experten der asiatischen Länder ausgebildet werden, sollten auch die Industriepfarrer der asiatischen Kirchen an den Erfahrungen teilhaben, die in den kirchlichen Arbeiterschulen in Japan gemacht worden sind.

LeerVon der Konferenz in Manila her sind Anstöße ausgegangen, die für das künftige Gesicht Asiens sehr wichtig sein können. Zum erstenmal ist hörbar und sichtbar geworden, daß auch die kleinen Kirchen Asiens mitten im industriellen Umbruch und Aufbruch Asiens ihre christliche Mitverantwortung für das Geschehen erklären und zugleich die Wege zur Praxis dieser Mitverantwortung beschreiben. Mitten in den nationalen Leidenschaften - Fremdenhaß oder zumindest Abwehr des Fremden in Ceylon und Indonesien - und den neubelebten heimischen Religionen, die einige christliche Motive aufnehmen und damit gegen den „fremden” Glauben auftreten, kann der stille treue Dienst der kleinen Gemeinde in Asien zu der Heilkraft werden, die den Umbruch zum Segen verwandelt. Wir tun gut, diese Bewegung in Asien zu beobachten und aus ihr zu lernen.

LeerJe kräftiger wir glauben, daß auch in Asien das Wort Gottes die Sprengkraft hat, um so geduldiger können wir auf den wichtigen und entscheidenden geistlichen Aufbruch warten, der dem Dienst der Kirchen in Asien die Vollmacht gibt. Es könnte eine Zeit kommen, in der die „Mutterkirchen” ihre Kinder nur noch im Gebet begleiten können und das Opfer großer Zurückhaltung bringen müssen, in der die europäische und amerikanische Christenheit das Beste tun kann, wenn sie ihre eignen gesellschaftlichen Probleme theologisch durchdenkt. Es könnte sein, daß mehr „Mission” geschieht, wenn die in die asiatischen Länder eingeführten Filme, Bücher und Zeitschriften auf ihre oft geradezu verwüstenden Wirkungen untersucht werden oder wenn Reisende über die Geistigkeit der Länder, die sie kamerabewaffnet als Kulturträger betreten, informiert werden, als wenn man „Missionare” aussendet, die ja oft durch Enthüllung der Dissonanz zwischen geglaubter und praktizierter Christlichkeit der christlichen Völker mancherlei Anfechtung in die Jungen Kirchen bringen.

LeerDas Beglückende an der Begegnung in Manila war, daß es eine Gemeinschaft der Freude, der Hoffnung und Getrostheit über alle verschiedenen Probleme und Fragen Kilit, und daß diese Gemeinsamkeit die Zukunft bestimmt.

Quatember 1959, S. 37-40

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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