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Im Zwielicht des Unerklärlichen
von Gerhard Bartning

LeerNach den beiden großen Meditationstagungen des Vorjahrs mit ihrer fast verwirrenden Fülle der Aspekte und Prospekte war die straffe zeitliche und thematische Konzentration der diesjährigen Wochenendtagung, die die Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger” in der Technischen Hochschule zu Stuttgart (10./11. Mai) hielt, notwendig und sinnvoll. „Wunder und Magie in der Heilkunde” - dies wäre für die Medizin der letzten Jahrhundertwende fast so etwas wie ein Fanfarenstoß der Herausforderung gewesen. Hoffentlich ist der großen Zahl der Teilnehmer das Herausfordernde, das dem Thema auch heute eignet, wirklich zum Bewußtsein gekommen - es sieht zuweilen so aus, als seien wir in den „ganzheitlichen” Wissenschaften vom Menschen der Ratio überdrüssig geworden und suchten die Dämmerung einer fragwürdigen Geborgenheit, die alles Irrationale zu verheißen scheint. Aber die Not des leidenden Menschen ist zu ernst, als daß sie uns zu dieser Ausflucht einen Freipaß gäbe: die harte Empirie wissenschaftlicher Forschung beschert uns „Tatbestände”, die uns zwingen, unsere Denkgewohnheiten zu überprüfen, und öffnet uns zugleich den Horizont überraschender, wenn auch zunächst noch problematischer Zusammenhänge.

LeerBeziehungsvoll erinnerte Pfarrer Daur an den Evangelisten, dessen Namen seine Stuttgarter Gemeinde trägt: an St. Markus. Gerade er zeigt uns Christus im Kampf mit den Dämonen, den „unreinen Geistern”. Ist dies Jesusbild selbst ein Stück versunkener magischer Welt, oder ist's eine Verheißung noch unerschlossener Möglichkeiten, Verheißung der Heilung aus dem Geist?

LeerProfessor Allwohn aus Frankfurt ging der „Suggestion und Magie in der Heilpraxis” nach. Magische Medizin ist in der Alltagspraxis durchaus lebendig, obwohl von Zunftmedizin und -Theologie oft genug diffamiert. Ernährungs-„propheten” und Frischzellengläubige sterben nicht aus. Und im Schatten der Schulmedizin wird an vielen Orten noch immer mit gutem oder schlechtem Gewissen weiter „besprochen”. Steht nicht .die Bibel mit ihrem harten Urteil über die Zauberei: ganz auf der Seite der Schulwissenschaft? Anstatt alles „Magische” affektiv zu werten, sollen wir es phänomenologisch zu erfassen suchen als eine Art des Tuns, das mit der Gegenwart numinoser Kräfte im sinnlich faßbaren rechnet. Damit braucht noch lange nicht die Dingwelt vergötzt zu sein.

LeerDer ursprünglich magische Mensch sucht Verbindung mit göttlichen Schicksalsmächten. Was das Alte Testament für den Umgang mit Feuer, Wasser, Blut, für die Behandlung der Aussätzigen vorschreibt, ist in diesem Sinne durchaus „magisch”. Wir sollten nicht vergessen, daß wir alle in der Kindheit eine „magische” Phase durchlaufen. Als Bereich einer bestimmten Erlebensbereitschaft bleibt das Magische auch im Erwachsenen erhalten. Solch magischen Bildgewalten vermag aber nur die Macht heilender Bilder, nicht die rationale „Persuasion” zu begegenen. So begegnet dem „brüllenden Löwen, der sucht, welchen er verschlinge”, der „Löwe aus Juda”. Bedeutsam ist aber auch, daß die neuere Medizin die Heilkraft des „Handelns”, der Berührung mit der Hand in allen Formen, wieder neu erkannt und auch theoretisch eingeordnet hat. Am Gegenbeispiel moderner „Wunderdoktoren” wie Trampler und Gröning wurde gezeigt, wie wichtig es ist, .daß der Patient nicht an die Person des Heilers gebunden wird, sondern lernt, seine Heilandserwartung zu Gott zu tragen.

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LeerDr. Michaelis aus Lausanne beschäftigte sich biographisch und medizinhistorisch aufs eingehendste mit dem Dämonenkampf Christoph Blumhardts. Der demütige Möttlinger Pfarrer hielt während des gesamten Krankheitsprozesses der Gottliebin Dittus engsten Kontakt mit dem behandelnden Arzt und wehrte sich lange gegen den Auftrag, der ihm zuteil wurde und den er zeitlebens als unübertragbar empfand: „Damals hat der Heiland vor der Tür angeklopft, und ich habe aufgetan”. Freilich war die enge pietistische Frömmigkeit der Möttlinger Umwelt dazu angetan, alles Natur- und Triebhafte zu verdrängen, ja abzuspalten und ihm dadurch die Einordnung in eine umfassendere Lebensgestalt zu verwehren. Aber der überpersönliche Anteil des Besessenheitsphänomens ist damit nicht „erklärt”. Allerdings ging Blumhardt wohl zu weit, wenn er die dämonischen Stimmen der Patientin mit der Realpräsenz unerlöster Totengeister identifizierte. Doch ging es dem begnadeten Seelsorger letztlich nicht um eine Metaphysik der Geisterwelt, sondern um die bedrohte und wiederzugewinnende Freiheit der Kinder Gottes. Wie Professor Köberle, der übrigens die Aussprachen in launiger Überlegenheit leitete, anschaulich berichtete, überschritt später Vater Stanger mit seinen kategorischen Urteilen („Au du bisch b'sesse”) die Grenze der Blumhardtschen Selbstkritik, leider oft in verhängnisvoller Wirkung.

LeerIn der Spannung zwischen der phänomenologisch weiten Einbeziehung magischer Möglichkeiten in ärztliches und seelsorgerliches Handeln und der Blumhardtschen Warnung vor allem, wozu wir nicht durch einen ausdrücklichen Befehl Jesu ermächtigt werden, kehrt wieder in der Differenz zwischen den beiden großen Schweizer Nervenärzten Dr. Tournier und Dr. Maeder (dieser bejaht die Möglichkeit der „bonne magie”). Sollte die „weiße Magie” - die ja auch in Paracelsus, ja selbst in Melanchthon einen Anwalt fand - aber wirklich nur der christlichen Medizin vorbehalten bleiben? Nein, antwortete ein Stuttgarter Psychotherapeut, des Arztes Kunst (auch des Hippokrates, der noch bei seinen Göttern schwor) geht unmittelbar aus Gott (vgl. Jesus Sirach!). Dr. Bitter bemerkte, daß der Laie dazu neigt, bestimmte prompte Heilungsvorgänge schon als Wunder anzusprechen, die noch durchaus im Bereich der (psychotherapeutischen) Suggestion liegen. Davon vermittelte die Psychotherapeutin Dr. Sommer aus Stuttgart ein lebendiges, aus der Kasuistik ergänztes Bild. Gerade die dunklen Kräfte sind in der Neurose oft genug dazu berufen, die Auseinandersetzung mit dem Ganzen der eigensten Möglichkeiten, mit dem noch unerkannten Leitbild des „Selbst” zu erzwingen.

LeerDabei ist es auf der andern Seite ausgerechnet die biologische Erforschung der Symbiosen und Biozönosen, der übergreifenden Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen im Tier- und Pflanzenreich gewesen, die von einem Ausdruck objektiver Dämonie gesprochen hat (Portmann-Basel). Beim Menschen vollzieht sich dies aber alles im interpersonalen und intrapersonalen Bereich, und der Seelenarzt darf in dieser Zweisamkeit mit dem Patienten, in diesem „therapeutischen Bündnis” (Johanna Herzog-Dürck) erfahren, daß „der Dämon nur niederreißen darf, damit der Engel mit schüchterner Hand wieder aufbaut” (Hugo Rahner).

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LeerZwei katholische Theologen, Pater Christmann O. P. aus Waldniel im Rheinland und Professor Siegmund aus Bernhards bei Fulda, versuchten die Tatsächlichkeit der Wunder vom Absolutheitsanspruch des Christentums her zu postulieren und bemühten sich zugleich - das bezeichnet die erkenntnistheoretische und ontologische Problematik ihres Unterfangens-, objektive Kriterien für einen Heilungsvorgang zu gewinnen, der als Wunder im Sinne der kausaldeterministischen Unableitbarkeit von wunderähnlichen Vorgängen, also etwa auch psychogenen Heilvorgängen oder Selbstheilungstendenzen auszugrenzen wäre. Allgemeine Zustimmung fand, was aus der Tradition der großen mittelalterlichen Kirchenlehrer beigezogen wurde: daß etwa einem Gregor I. die „Natur”-geschehnisse von Zeugung und Geburt tiefere Bewunderung abnötigten als die Totenerweckung. Und daß die „Wunder” im engeren Sinne eigentlich nur dazu da sind, um uns die Augen zu öffnen für das, was vor Augen ist und wir doch nie wirklich wahrnehmen.

LeerEinen zwiespältigen Eindruck hinterließen dagegen die genauen Statistiken und „Tatbestandsaufnahmen” von Lourdes. Wird, was dort von mehreren Ärzte- und Theologenkommissionen nachgeprüft und in gründlichen wissenschaftlichen Abhandlungen niedergelegt wird, wirklich nur als hinweisendes Zeichen dafür genommen, daß sich „alles so vollzieht, als ob Gott den Menschen hörte und ihm Antwort gäbe”, wie Alexis Carrel schrieb (der als unvoreingenommener Kritiker jahrelang die Prozessionen begleitete, die Heilungen anerkannte und im damaligen hyperkritischen Frankreich seine akademische Carriere drangeben mußte). Oder wartet hier nicht alles auf „Zeichen und Wunder” - wie es Jesus geißelte? Und ist ausgerechnet eine wissenschaftliche Kommission befugt, über die allerpersönlichste Glaubenserfahrung zu urteilen, die im Heilungsprozeß dann und wann vom göttlichen Geheimnis unmittelbar sich angerührt weiß? Und darf ebendieselbe Kommission einer späteren - sei es kausalen, sei es „statistischen”, sei es ideologischen - „Erklärung” nach wissenschaftlichen Prinzipien dadurch vorgreifen, daß sie einen Vorgang der Gegenwart als „übernatürlich” dekretiert und kanonisiert? Die Kirche hätte dann nicht zum erstenmal in ihrer Geschichte das traurige Schauspiel einer „Wohnungsnot Gottes” heraufbeschworen.

LeerGerade diese letzten Referate und Aussprachen der Tagung offenbarten, wie schwer nur es uns gelingen will, von der Sprache des „Faktums” freizukommen („Faktum” nennt - tragikomisch genug - der Gauner seine Straftat) und uns dem heiligen Bereich zu nähern, da die Schöpfung im glutflüssigen Werdezustand ist und wir etwas von ihren Protuberanzen wahrnehmen dürfen. Aus diesem Feuer heraus wirkte Jesus, der, wie Dacqué sagte, „voll heiliger Magie” war. Auf diesen Hintergrund wies auch das von dem leitenden Arzt Dr. Bitter wiederholte Goethesche Bekenntnis, daß wir das Erforschliche erforschen (und auch mit-teilen) und das Unerforschliche ruhig verehren dürfen. Das erste dürfen wir von allen Beteiligten fordern - keiner braucht dies Tageslicht zu scheuen. Das Zweite bleibt eine hohe Gunst - muß sie drum im Zwielicht bleiben?

Quatember 1959, S. 40-42

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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