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Praktizierte Diakonie
von Jürgen Boeckh

LeerEs ging dem Evangelischen Hilfswerk nach dem Krieg darum, das diakonische Amt der Kirche in die Gemeinden hineinzutragen, ebenso wie Wichern vor hundert Jahren die Umgestaltung der Kirche zu einer Kirche der Liebe Christi erstrebte. Auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 forderte der Vater der Inneren Mission: „Die Kirche erkläre, die Liebe gehört mir, wie der Glaube.” - Es gab Zeiten, in denen die Kirche das gar nicht zu erklären brauchte, weil die Diakonie, der Dienst christlicher Barmherzigkeit, Sache der ganzen Gemeinde war, auch wenn einzelne, wie es schon aus dem Bericht der Apostelgeschichte (Kap. 6) hervorgeht, im besonderen für den Dienst der Liebe bestimmt wurden. Auch der Vorstoß Wicherns hat im vorigen Jahrhundert wieder zur Ausgestaltung eines besonderen diakonischen Amtes geführt. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist heute ohne die Innere Mission nicht denkbar, obwohl diese oft genug als neben der Kirche stehend empfunden wird.

LeerDer eigentliche Grund dafür ist wohl, daß es eine freiwillige Innere Mission innerhalb der einzelnen Gemeinden kaum gibt. Die „Dienenden Gemeinden” sind weithin zusammengeschmolzen und haben ihre Kraft verloren. Es bleibt zumeist bei den Sammlungen für die Innere Mission, die von Gliedern der Gemeinden getragen, und bei den Kollekten, die in unseren Gottesdiensten eingesammelt werden. Die Kirche ruft heute junge Menschen zum Diakonischen Jahr auf, um auf diese Weise Glieder der Gemeinde für eine gewisse Zeit in den Dienst am anderen zu stellen. Ein wirklicher Anruf zu diakonischem Dienst ist, was einer unserer Brüder, der Professor der Mathematik an einer ostdeutschen Universität ist, auf Bitten der Schriftleitung von sich selbst berichtet:

Leer„Wir überlassen im allgemeinen den Dienst der Liebe den Dienststellen, die dafür eingerichtet und bezahlt werden, und geben am Sonntag eine Mark oder auch zehn in die Kollekte, wenn sie für die Innere Mission erbeten wird. Im übrigen erbauen wir unser Inneres an Matth. 25 oder 1. Kor. 13. Nur einzelne opfern mehr, und zwar dann gleich ihre ganze Lebenszeit: die Diakone und Diakonissen.

LeerNun stehen wir übrigen in einem Beruf und können nicht gut Diakone werden. Aber wir könnten doch einmal vierzehn Tage unseres Urlaubs opfern und uns für diese Zeit dem Dienst der Diakonie zur Verfügung stellen. An Arbeit, die getan werden muß, ist kein Mangel, und unsere Diakonissen sind überlastet. Gewiß, wir sind nicht vorgebildet. Aber es gibt so viele Arbeiten, die wir den Diakonissen abnehmen können. Einen Kranken oder Krüppel waschen, ihm das Bett machen und das Essen bringen und zurechtmachen und vielleicht ein wenig Zeit für ihn haben, das kann wohl jeder.

LeerAls ich mich mit diesen Gedanken im Frühjahr dieses Jahres an den Leiter des Oberlinhauses, Herrn Pfarrer Kleinau, wandte, fand ich großzügiges Verständnis, und er teilte mich für die ersten beiden Juliwochen der Station für Schwerstbehinderte zu. Es sind dies Krüppel, die zum Teil weder Arme noch Beine gebrauchen können, aber sonst gesund und ihrer Sinne und ihres Geistes vollauf mächtig sind. Es entspann sich bald ein ungezwungener, herzlicher Ton zwischen uns, und die Arbeit gab mir Freude und Entspannung. Außerdem konnte ich Sinn und Geist eines solchen Hauses genauer kennenlernen, als dies bei einer bloßen Besichtigung oder aus Berichten möglich ist.

War das nun ein Opfer? Nein, wenn man unter dem Wort nach heutigem Sprachgebrauch einen schmerzlichen oder heroischen Verzicht versteht. Wenn man aber bei dem Wort an die festlichen Opfer des Altertums denkt, bei denen die Menschen mit frohem und dankbarem Herzen ihrem Gott die schönsten Früchte des Feldes opferten, warum nicht?

LeerWar es eine Tat der Liebe oder wenigstens der Barmherzigkeit, etwa im Sinne von Matth. 25? Nein, gewiß nicht, dazu fehlte alles. Dazu gehört der Blick für eine konkrete, unbewältigte Not; dazu gehört das Wagnis, mit der Hilfe zu beginnen, ehe man noch die dazu nötigen Kräfte abschätzen kann. Ich vollbrachte keine Tat, sondern ich leistete ein wenig Arbeit. Eine solche Tat, schon die Gelegenheit dazu, ist immer Gnade und kann von uns nicht geplant werden. Vielleicht kann man aber die Bereitschaft dazu nicht nur geistig, sondern auch praktisch ein wenig einüben, wie jede Seite christlichen Lebens neben der dogmatischen Erörterung vor allem der praktischen und planmäßigen Einübung bedarf.”

Quatember 1959, S. 42-43

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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