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Jungbruderschaft St. Michael
Nach einem Menschenalter XXVI
von Wilhelm Stählin

LeerDer äußere Umstand, daß die mit unserer Michaelsbruderschaft verbundene Jungbruderschaft im Jahre 1933, also vor einem guten Vierteljahrhundert, entstanden ist, hat einen der Jungbrüder zu der Bitte angeregt, ich möchte doch einmal erzählen, was mir selbst noch in Erinnerung ist von jenen Anfängen der Jungbruderschaft. Diese Aufgabe ist freilich durch den Umstand erschwert, daß mir alle Aufzeichnungen aus jenen Anfängen mit vielen anderen Urkunden in meinem Haus in Münster verbrannt sind, so daß ich auf wenige persönliche Erinnerungen angewiesen bin.

LeerWenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, sind wir gerade am 30. Januar 1933 - der ja unter ganz anderen Vorzeichen ein geschichtlicher Tag geworden ist - in einem kleinen runden Turmzimmer eines Hauses, in dem damals die evangelisch-theologische Fakultät von Münster einige Räume innehatte (das Haus steht nicht mehr), in kleinem Kreis zusammen gekommen, und haben uns auf die Gründung einer solchen Bruderschaft junger Männer geeinigt. Nur wenige, die damals in diesem Kreis zusammenkamen, sind heute noch in unserer Mitte.

LeerZwei Dinge aus der Vorgeschichte jener Gründung sind mir in unauslöschlicher Erinnerung. Wenn ich mich darauf besinne, was uns damals dazu angetrieben hat, einen solchen Kreis zu sammeln, dann ist da vor allem ein Gespräch in meinem Gedächtnis, das einige Monate vorher einer meiner Studenten mit mir geführt hatte. Er sagte etwa dem Sinne nach: Ich dürfe mich durch lebhafte Seminargespräche nicht über die innere Lage der meisten Studenten der Theologie täuschen lassen. Sie könnten zwar, so meinte er, eine gute Seminararbeit liefern über irgendwelche Fragen in der Auslegung der Heiligen Schrift, aber er glaube nicht, daß auch nur einer von ihnen die Bibel als das Wort Gottes für sich persönlich lese; sie könnten gewiß ein gutes Referat ausarbeiten über die Geschichte des Gebetes, aber er wisse nicht, ob irgendeiner von ihnen geübt und erfahren sei im eigenen persönlichen Gebet; sie seien dazu angeleitet, sich theologische Gedanken zu machen über die Lehre von den Sakramenten, aber kaum einer von ihnen nehme an der Feier des Heiligen Abendmahles teil. Was jener Student damals sagte, mag mit jugendlichem Radikalismus übertrieben gewesen sein, aber es war doch ein Notschrei, der nicht überhört werden durfte, ein Alarmsignal, das dazu verpflichtete, dieser Not irgendwie zu begegnen.

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LeerAls mich, durch solche und ähnliche Stimmen beunruhigt, die Michaelsbruderschaft beauftragte, eine Jungbruderschaft zu begründen, beschäftigten wir uns in kleinem Kreis sehr mit der Frage, welche Erfahrungen und Erkenntnisse wir wohl hätten oder vielmehr gewinnen müßten, um eine solche Bruderschaft junger Männer in der rechten Weise geistlich zu führen und zu fördern. Drei aus unserem Kreise, Kirchenrat Ritter von Marburg, Dr. Happich von Darmstadt und ich, suchten einen Herrn in Frankfurt auf, bei dem wir große Kenntnisse in all diesen Dingen vermuteten, den Leiter des China-Instituts in Frankfurt, Dr. Erwin Rousselle; er war weit gereist, hatte lange in China gelebt und hatte wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen chinesischer Orden in sich aufgenommen. Von ihm erbaten wir Rat und Hilfe für die Aufgabe, die vor uns lag, für die wir aus der theologischen Literatur unserer evangelischen Kirche nicht genügend Hilfe zu finden glaubten. Unvergeßlich ist mir seine erste Reaktion. Machen Sie sich klar, sagte er dem Sinne nach, daß es bei aller Menschenführung nicht entscheidend auf Technik und Methode ankommt, sondern auf das, was Gott an den Menschen tut; ein Mensch wird gefördert nicht dadurch, daß er in die Hände geschickter Führer gerät, sondern daß er in der Hand Gottes ist, und Gott an ihm sein Werk tut. Dieses müssen Sie im voraus bedenken.

LeerMit diesem Vorzeichen will ich Ihnen erzählen, was man in Indien, China und in Japan unternimmt, um junge Männer zu führen und in ihrem innersten Wesen zu fördern. Dann erzählte er uns hochinteressante Dinge aus seinen Erfahrungen vor allem in China, Dinge, die sich der kurzen Mitteilung entziehen. Nach einem langen Besuch wollten wir uns eben verabschieden, da sagte er zu unserer fassungslosen Überraschung: Im übrigen ist es mir erstaunlich, daß Sie mich in dieser Sache um Rat fragen, denn Sie haben ja im Abendland, ohne nach Asien zu schauen, ein großes, in Jahrhunderten entstandenes und bewährtes Schema des geistlichen Weges, das sind die sieben Weihen der römisch-katholischen Kirche. Ich gestehe, daß wir alle davon bis zu dieser Stunde so gut wie keine Ahnung hatten, jedenfalls diese sieben Ordines der römisch-katholischen Kirche niemals unter dem Gesichtspunkt betrachtet hatten, daß daraus eine Hilfe für die geistliche Führung junger Männer gewonnen werden könnte.

LeerEr meinte, daß die römischkatholische Kirche zwar die tiefen Erkenntnisse, die in diesem siebenstufigen Pfad liegen, in einer äußerlichen Weise konserviert, aber durch ihre Rechtsordnung mehr oder weniger verfälscht habe. Aber es lohne sich, diese Dinge zu studieren. Daraufhin verschafften wir uns ein Pontificale Romanum, ein Buch, das wir bis dahin nicht nur nie in der Hand gehabt hatten, sondern von dessen Existenz wir kaum etwas gewußt hatten, und studierten mit großem Eifer das, was in den Weihehandlungen für diese sieben Stufen des geistlichen Amtes zu finden war. Hier erschlossen sich uns Geheimnisse und Erkenntnisse, von denen wir bisher kaum berührt worden waren. Vieles, was wir in späteren Jahren in unseren meditativen Übungen, aber auch ohne eine solche Form in Anregungen, seelsorgerlichen Ratschlägen usw. weitergegeben haben, hatte in jenem Gespräch zwischen Weihnachten und Neujahr 1932 in Frankfurt seine biographische Wurzel.

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LeerOstern 1934 hielt die neu gegründete Jungbruderschaft ihre erste geistliche Woche auf Burg Nordeck bei Gießen; unser Bruder Prof. Alfred Dedo Müller aus Leipzig stand mir in der Leitung dieser Tage zur Seite. Die alte Burg, in der damals - wohl auch heute noch - eines jener Landerziehungsheime, die damals aufblühten, untergebracht war, bot unserem kleinen Kreis die erste Herberge. Vor allem aber gewannen wir die kleine Diaspora-Kirche, von Rudolf Koch meisterhaft ausgestaltet, als die Stätte unserer täglichen Gottesdienste lieb. In den folgenden Jahren waren wir dann Jahr für Jahr auf der Westerburg im Westerwald, und dort, im schönen alten Rittersaal, im Burghof und in der nahe gelegenen Kirche, hat unsere Jungbruderschaft ihre erste Prägung empfangen. Wir haben dort sehr eifrig Meditationen gehalten und die ersten Erfahrungen gewonnen in jenen „Stufen eines geistlichen Pfades”, für die uns Erwin Rousselle die ersten Anregungen gegeben hatte, und die - nach manchen Unterbrechungen und manchen selbstverschuldeten Fehlschlägen - bis heute als ein äußeres Schema die meditative Arbeit in der Michaelsbruderschaft bestimmen.

LeerGleich am Beginn der „Jungbruderschaft” haben wir für die brüderliche Gemeinschaft ein neues Amt geschaffen. Während wir in der Michaelsbruderschaft den Bruder, dem der einzelne besonders zugewiesen Ist und auf dessen Rat und Weisung er besonders hören soll, „Helfer” genannt haben, haben wir in der „Jungbruderschaft” zunächst vom „Seelsorger” gesprochen, weil hier im allgemeinen doch der Abstand des Alters und Lebenssituation größer ist als innerhalb der Michaelsbruderschaft. Daneben haben wir es für möglich gehalten, jeweils zwei Jungbrüder in einer besonderen Weise aneinander zu binden und aneinander zu weisen. Sie sollten einander helfen, in die Ordnung der „Jungbruderschaft” hineinzuwachsen, und sollten also innerhalb des größeren Kreises in einer besonders engen Weise miteinander verbunden sein. Bei der Suche nach einem geeigneten Namen für dieses von uns neu ausgedachte Amt stießen wir auf einen Namen, den wir aus den Büchern des Ostafrika-Missionars Bruno Gutmann kannten, der dort bei seinen Dschagga-Christen die Einrichtung des „Schildbruders” geschaffen hat. Der Name stammt aus der heidnisch-kriegerischen Vergangenheit, wo einer dem anderen besonders den Schild trug und wohl auch manchmal ihm als Schild diente, und in der christlichen Gemeinde sollten nun zwei neue Christen einander in ähnlicher Weise im geistlichen Bereich diesen Dienst tun, füreinander ein Schild der Abwehr und des Schutzes zu sein. Dieser Name hat sich eingebürgert, und ist bis heute in der „Jungbruderschaft” erhalten.

LeerVielleicht hängt es unterirdisch mit diesem Ursprung des Namens „Schildbruder” zusammen, daß damals auf einer unserer Westerburg-Tagungen zum erstenmal das Wort fiel, Berneuchen sei eine „heidenchristliche” Bewegung. Wir haben dieses so nebenbei hingeworfene Wort gern akzeptiert und es als eine zutreffende Kennzeichnung unseres Ursprungs und unserer ganzen Arbeit empfunden. An Epiphanias 1959 habe ich im Kreis des „Berneuchener Dienstes” in Stuttgart einen Vortrag gehalten über das Thema „Heidenchristentum”, und in irgendeiner Form werden die Gedanken dieses Vortrags wohl auch in „Quatember” einmal erscheinen. Aber es gehört eben auch zu den Anfängen der Jungbruderschaft, daß in diesem Kreis diese Erkenntnis zuerst ausgesprochen worden ist.

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LeerWenn ich mir das Bild jener Wochen auf der Westerburg ins Gedächtnis rufe, so habe ich den Eindruck, daß theologische Diskussionen - wirkliche „Diskussionen” - damals eine ungebührlich große Rolle gespielt haben. Weitaus die meisten der jungen Brüder waren Studenten der Theologie, zum Teil inzwischen schon Vikare geworden, und die meisten unter diesen wieder waren von den mit der dialektischen Theologie aufgebrochenen Fragen stärker bewegt als von den Fragen des eigenen und wirklichen Lebens. Wir haben mehrere Brüder aus unserem Kreis verloren, weil sie mit meiner Theologie nicht einverstanden waren.

LeerWenn mich einer der Jungbrüder in Münster von der Universität nach Hause begleitete, um „eben noch eine Frage mit mir zu besprechen”, so war es oft schwer, in dieser endlosen und zumeist unfruchtbaren Problematik ein Ende zu finden. Ein Beispiel mag für viele stehen: Die meisten jungen Theologen waren damals überzeugt, daß alle Entwicklungen in der Geschichte der christlichen Kirche ausschließlich exegetischer Art waren, das heißt, daß es sich um nichts anderes gehandelt habe und handeln könne, als um das Verständnis bestimmter biblischer Aussagen; ich versuchte ihnen entgegenzukommen und sagte, daß auch nach meiner Meinung alle theologischen und kirchlichen Entwicklungen und Wandlungen auch eine exegetische Seite hätten, also entweder in einem bestimmten Verständnis der Heiligen Schrift wurzelten oder doch sich darin auswirkten. Aber das war ihnen nicht genug; und wegen dieses meines „auch”, von dem ich freilich heute ebensowenig abgehen könnte wie damals, sind damals mehrere unserer tüchtigsten Jungbrüder ausgetreten.

LeerEs kamen die Kriegsjahre, in denen jede persönliche Gemeinschaft unter den Brüdern unmöglich geworden war. Ich versuchte, durch regelmäßige Rundbriefe und durch einen fleißigen persönlichen Briefwechsel die Verbindung mit allen einzelnen Gliedern unseres Kreises aufrechtzuerhalten. Ich habe sowohl die über das persönliche Erleben hinaus aufschlußreichen Briefe der Jungbrüder aus dem Feld wie auch die umfangreiche Reihe meiner eigenen Rundbriefe sorgfältig gesammelt (letztere in mehreren Exemplaren); aber meines Wissens sind alle diese Belege für die innere Geschichte unserer Jungbruderschaft auch da, wo ich sie sicher verwahrt glaubte, zugrunde gegangen.

LeerNach dem Krieg mußte ich aus äußeren und inneren Gründen die Leitung der Jungbruderschaft aufgeben. Mein Schwiegersohn, Pastor Wilhelm Schmidt in Bremen, übernahm dieses Amt, und durch ihn ist nun erst eigentlich aus der Jungbruderschaft das geworden, was uns im Jahre 1933 vor der Seele stand, und was wir in den Jahren bis zum Krieg nur sehr unvollkommen haben verwirklichen können; vor allem dadurch, daß nun erst die Nicht-Theologen, Künstler, Handwerker, Gärtner und dergl. die Rolle im Leben der Jungbruderschaft spielen konnten, die ihnen von Anfang an zugedacht war.

LeerAber davon zu erzählen ist nun nicht mehr meines Amtes.

Quatember 1959, S. 101-103

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-05
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