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Das Weltbild der Magie
von Adolf Köberle

LeerDas Wort Magie wird in so verschiedenartiger Weise verwendet, daß eine Vorverständigung über den Wortgebrauch unerläßlich erscheint. Für ungezählte Zeitgenossen ist der Begriff des Magischen von vornherein belastet mit dem Vorwurf und Verdacht eines törichten Handelns. Magie soll es einmal gegeben haben in grauer Vorzeit, als die Menschen noch nicht über die uns heute bekannten Mittel naturwissenschaftlich-technischer Leistungen verfügten und sich darum auf fragwürdige Weise zu helfen suchten im Kampf mit den Elementen, in der Abwehr der Krankheit und der Nöte des Daseins. Vor allem hat die Magie im theologischen Urteil der Gegenwart eine eindeutig negative Zensur erhalten. Das Wort wird hier einseitig gleichgesetzt mit der Vorstellung eines unfrommen, gewalttätigen Handelns, wie der Mensch Gott durch bannende Gewalt den eigenen Willen aufzuzwingen sucht, während es doch das erste Merkmal wahrer Gläubigkeit sei, sich in den göttlichen Ratschluß zu schicken, wie hart er immer auf uns liegt. Daß es ein solches Ertrotzen eigensüchtiger Wünsche mit Hilfe von Magie gibt, soll in keiner Weise bestritten werden. Aber dabei handelt es sich bereits um echten Mißbrauch. Der magische Grundcharakter der Welt ist daran nicht schuld. Er schafft lediglich die Voraussetzung dafür, daß eine so widergöttliche Anwendung geschehen kann.

LeerWer das Schrifttum der Romantik kennt, wer bei Oswald Spengler und Leopold Ziegler, bei Edgar Dacqué und Carl Gustav Jung zu Haus ist, der weiß: bei all den Genannten haftet dem Begriff des Magischen keineswegs die abwertende Zensur an. Es soll mit dem Wort vielmehr nur daran erinnert werden, daß es auch noch eine ganz andere Möglichkeit des Weltverstehens und damit auch des Aufeinanderwirkens gibt als die von uns heute einseitig bevorzugte physikalisch-technische Auffassung vom Wesen des Seins.

LeerWer das magische Weltbild erfassen will, muß sich vor allem für zwei Grundwahrheiten öffnen, das ist die Allbeseeltheit und die Allverwandtschaft, die alles geschaffene Leben erfüllt und untereinander verbindet. Beides ist dem Menschen von heute zunächst verschlossen, und doch gibt es Anzeichen dafür, daß wir im Begriff sind, den magischen Grundgeschmack der Welt neu zu entdecken.

LeerDie Allbeseelung der Natur ist von den größten Geistern der Menschheit vertreten worden. Es beginnt bei den Hylozoisten der Vorsokratiker und führt über Pythagoras und Plotin zu Paracelsus und Jakob Böhme, von dort weiter über Goethe, Schelling und Novalis zu Schopenhauer und Gustav Theodor Fechner bis hin zu dem Tübinger Theologen Karl Heim, der die Frage der Weltbeseelung erneut gestellt hat. Man befindet sich also in durchaus guter Gesellschaft, wenn man sich dafür öffnet. Für das materialistische Denken ist die Natur grobe, feste Substanz, an der man bedenkenlos herumoperiert mit Maschine, Hebel und Schrauben. Daß diese Art des Umgangs mit der Natur ihr am Ende wehtun könnte, darüber denkt der moderne Tatsachenmensch überhaupt nicht nach.

LeerAber wir sollten endlich einmal einsehen, daß diese Art der Naturbetrachtung nicht die einzige und vor allem keineswegs die tiefste ist. Der Philosoph Franz von Baader hat gern darauf hingewiesen: Natur kommt von nasci und Materie von mater. Damit wird das Strömende, das Quellende und Sich-Quälende, das immer neu sich Gebärende in dem geheimnisvollen Grund der Natur lebendig zum Ausdruck gebracht im qualitativen Unterschied zu der mechanischen Auffassung vom Wesen des Lebens.

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LeerEine überraschende Stütze hat das Wissen um die Allbeseelung der Natur durch die moderne Atomphysik erhalten. Diese hat bekanntlich völlig gebrochen mit der Vorstellung von der festen Materie, als wären die Atome kleinste Bauklötzchen, die unteilbar aneinander hängen. Es sei in dem Zusammenhang nur erinnert an das Wort des Physikers Hermann Weyl: „Die Materie ist nicht, die Materie geschieht.”

LeerWenn wir das Wesen des Magischen recht begreifen wollen, dann müssen wir uns noch einer zweiten Wahrheit stellen. Es ist die Einsicht in die Allverwandtschaft aller Dinge. Das moderne Bewußtsein ist ein Denken des Abstands im Gegenüberverhältnis. Wir empfinden diese Diastase sowohl in der Ich-Du-Begegnung wie in der Ich-Es-Beziehung. Der neuzeitliche Mensch legt den größten Wert darauf, sich von dem anderen abzuheben in seinem einmaligen, besonderen Fürsichsein. Dieses Trennen geht durch alles hindurch, durch Ehe, Freundschaft und Geschwisterkreis. Das Anderssein des andern ist unbedingt zu respektieren. Das Einzelschlafzimmer gilt heute als erste Voraussetzung jeder Ferienerholung, auch unter Verheirateten. In der Eisenbahn wird durchaus das Abteil bevorzugt, das möglichst unbesetzt ist. Der Orient kennt diese unterscheidende Gewohnheit nicht so. Wem die gute alte russische Dichtung vertraut ist, von Puschkin bis Gogol, der weiß, was dort noch für ein Gefühl der Allverbundenheit unter den Menschen herrscht. So darf die altgewordene Amme zu der Fürstin ein Leben lang „mein Täubchen” sagen, weil sie das Kind einmal an ihrer Brust genährt hat.

LeerNoch mehr als in der Ich-Du-Beziehung gilt dieses Abstandhalten im Blick auf das Verhältnis von Mensch und Welt. Der Mensch empfindet sich der ihm umgebenden Welt gegenüber nur noch als Herrscher und Bändiger. Er unterwirft sich die Natur, sie muß ihm dienen und gehorchen, er schlachtet sie aus, er beutet sie aus und er hält das für die einzig mögliche Haltung, wie man der Natur begegnen kann und soll. Darüber haben wir ganz vergessen, uns die Frage vorzulegen, ob es denn richtig ist, das Verhältnis des Menschen zur Natur ausschließlich so im Gegensatzbewußtsein zu sehen. In Wahrheit gehört doch in der großen Gottesschöpfung alles zusammen, ist alles innig nah aufeinander bezogen, Fauna und Flora, Blüte und Insekt, Sonne und Wachstum, Mond und Erde, Landschaft und Klima. Auch der Mensch gehört mit hinein in diesen gewaltigen Kosmos. Mag ihm der Herrscherauftrag über die Erde anbefohlen sein, deswegen sollte er doch die Verwandtschaft mit allem Lebendigen nicht leugnen. Auch durch uns fluten alle mineralischen, pflanzlichen und animalischen Kräfte der Natur. Hier ist auch der Ansatzpunkt aller seriösen Astrologie zu suchen, wenn sie darauf hinweist, daß es Entsprechungen zwischen Mensch und Weltall gibt, die für die Struktur unseres Temperaments und unserer Gesundheit der Beachtung wohl wert sind. Die Magie gebraucht für diese allumfassenden Zusammenhänge mit Vorliebe das Wort „Sympathie”. Der Ausdruck ist in der Tat besonders geeignet, das Wesen der Sache zu verdeutlichen. Verstehen wir doch darunter zunächst die Zuneigung und Anziehung, die untereinander verbindet. Zugleich aber werden wir von der griechischen Wortwurzel her daran erinnert, daß ein verborgener Passionszusammenhang zwischen allen personhaften und dinghaften Erscheinungen besteht.

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LeerDas alles hat mit unheilvoller Zauberei und Beschwörung zunächst rein gar nichts zu tun. Es macht uns nur darauf aufmerksam, daß die landläufige, grobschlächtige Auffassung vom Wesen der Materie, daß die übliche Abtrennung des Menschen vom Du, von der Es-Welt nicht stimmt, daß sie zumindestens als Alleindeutung nicht ausreicht, daß wir uns vielmehr entschließen müssen, einem neuen Aspekt der Wirklichkeit Raum zu geben, der um die Allbeseelung und die Allverwandtschaft aller Dinge untereinander weiß. Genau diese Schau wird heute von allen führenden Kulturphilosophen, Psychologen und Religionswissenschaftlern als magisches Weltbild bezeichnet. Es ist darum nicht einzusehen, warum die Theologie allein sich davon ausschließen soll, zumal nur auf diese Weise die vorhandene Ambivalenz des Magischen als Bewirkungsmöglichkeit von Heil und Unheil zureichend aufgezeigt werden kann.

LeerDie Menschheit hat jahrtausendelang um diese magischen Zusammenhänge gewußt und sich ihrer bedient. Es ist ja klar: wenn die Natur feuerflüssig ist und nicht starr und tot, wenn alles untereinander zusammenhängt, dann gibt es auch unerhörte Möglichkeiten, aufeinander zu wirken, und das sowohl zwischen Mensch und Mensch wie vom Menschen her auf die Natur. Weil wir das heute im allgemeinen nicht mehr wissen, nicht mehr können, sollte man deswegen nicht gleich behaupten, daß es so etwas niemals gegeben habe. Im Gegenteil, es haben hochentwickelte Kulturen auf magischer Grundlage geblüht, Assur, Babylon und Ägypten, das alte China, Indien und Tibet, das Reich der Azteken und Inkas im archaischen Mexiko. Sie haben über das Wissen unserer modernen Technischen Hochschulen nicht verfügt, und trotzdem haben sie in Architektur, Heilkunde, Kunst und Kultus Werke hingestellt, vor deren Größe und Ausmaß wir heute noch fassungslos stehen. Was ihnen an Erkenntnis im modernen naturwissenschaftlichen Sinn fehlte, das haben sie ersetzt durch ein ganz anderes Vermögen, das aus magischen Tiefen stammte. Sicher ist man damals auch mit den Menschen rücksichtslos umgegangen, hat Sklaven und Kriegsgefangene mitleidslos verbraucht, wie wir an der Unterdrückung Israels in Ägypten sehen können. Aber diese rationelle Deutungsweise reicht doch bei weitem nicht aus, um das zu begreifen und erklären zu können, was uns die Reste alter magischer Kultur bezeugen.

LeerWann ist die magische Welt eigentlich gestorben und durch das neuzeitliche Wissen ersetzt worden? Es gibt zwei Ansätze für diesen Umbruch von unvorstellbarer Auswirkung. Der erste liegt bereits im Griechentum in der sokratischen und aristotelischen Philosophie. Dort vollzieht ich der bedeutsame Umschlag vom Mythos zum Logos, vom intuitiven Wissen um die Allverwandtschaft aller Dinge zu der abstrakt-kritischen Reflexion. Gleichwohl wirkt die magische Weltbetrachtung noch lange weiter im Platonismus und Neuplatonismus, im Neuphythagoreismus, in den Mysterienreligionen und in den gnostischen Sekten. Noch im Neuen Testament, besonders in der Apostelgeschichte, stoßen wir allenthalben auf die Auseinandersetzung mit schwarz-magischen Zauberelementen.

LeerDie protestantische Theologie der Gegenwart hat das Ereignis der Christusoffenbarung besonders gefeiert als die eigentliche Überwindermacht des magischen Zeitalters. Es sei nur erinnert an die Theologie von Friedrich Gogarten, wo diese Schau besonders deutlich zutage tritt. Nach der Überzeugung des Göttinger Theologen hat erst das Christentum das säkulare Denken ermöglicht, und er rühmt den Sieg des Christentums besonders deswegen, weil es die Welt entzaubert, ernüchtert und befreit habe von allen mythischen und magischen Aspekten der Wirklichkeit. Nur auf dieser völlig veränderten Grundlage konnte dann die Welt der modernen Naturwissenschaft, Chemie und Physik sich zu einer so ungeheueren Blüte entfalten.

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LeerMan wird diese These in ihrer historischen Gültigkeit mit Recht anfechten dürfen. Es sei nur erinnert an das vor kurzem erschienene Werk von Kurt Seligmann: Das Weltreich der Magie (Deutsche Verlagsanstalt). Das Buch greift nicht sehr tief in der Fähigkeit der Interpretation. Es ist, wie der Verfasser selbst bekennt, entstanden aus einer Liebhaber-Sammellaune. Trotzdem hat die Arbeit das große Verdienst, uns die Welt der Magie in Wort und Bild über einen Zeitraum von 5000 Jahren hin aufzuschließen. Das ausgiebig zusammengetragene Material aber reicht bis hinein in das 18. Jahrhundert, wo dann der Aufstand des reinen Verstandesdenkens, gewiß über lange Zeit hin vorbereitet, so übermächtig und gewaltig wird, daß der magische Weltaspekt weichen muß, um schließlich der Verachtung und Vergessenheit anheimzufallen. Gegen die Behauptung, das frühe Christentum habe die magische Welt alsbald beseitigt, spricht jedenfalls die Tatsache, daß das Mittelalter und auch noch das 16. und 17. Jahrhundert voll sind von magischen Phänomenen und das sowohl im frommen wie im zerstörerischen Sinn. Positive und durchaus ernstzunehmende Äußerungen des Magischen in diesem Zeitraum waren die Alchimie, der C. G. Jung zu einer neuen Ehrenrettung verholfen hat, war der Einfluß der Kabbala, die keineswegs auf das jüdische Denken beschränkt blieb; sie lassen sich nachweisen bei Albertus Magnus und Hildegard von Bingen, bei Pico della Mirandola und Agrippa von Nettesheim und dann vor allem noch einmal bei den Rosenkreuzern. Schaurige Wirkungen des Magischen im Zeitraum nach Christi Geburt waren das Hexenwesen und das im paganen Raum bis auf den heutigen Tag wirksam gebliebene Zaubern und Beschwören im abergläubischen Brauchtum.

LeerJedenfalls, das Wissen um die Allbeseelung und Allverwandtschaft aller Dinge ist nicht durch das Christentum zerstört worden. Man wird ja auch nicht behaupten können, daß dieses Wissen etwas Gottloses oder Unchristliches sei. Es bezeugt ja gerade die tiefsten Mysterien, die nach dem Willen Gottes des Schöpfers die ganze Schöpfung durchwalten. Das magische Weltbild ist endgültig erst verdrängt worden durch den Siegeszug der Aufklärung im 18. Jahrhundert, durch die triumphalen Erfolge im technischen Zeitalter. Der äußere Leistungsfortschritt war so gewaltig, daß die Menschheit wie berauscht war von den neuen Möglichkeiten der Naturbewältigung. Mitleidig blickte man nun herab auf frühere Generationen und Jahrtausende, die das alles nicht gewußt, nicht gekonnt hatten, was einem jetzt zur Verfügung stand. In seinem Übermut und Stolz aber vergaß der Mensch völlig, wieviel ihm gleichzeig verlorengehen mußte, wenn er uraltes, tiefes Wahrheitswissen zum alten Eisen warf.

LeerFreilich, so sehr der moderne Mensch das magische Element in seinem rationalen Bewußtsein ausgeschaltet hat, so kann er doch nicht verhüten, daß es gleichwohl in seinem Leben unverändert weiterwirkt. Ja, man wird sagen müssen: je mehr er es verdrängte, um so mehr mußte er vom Unbewußten her davon überflutet werden. Wir bringen einige Beispiele dafür, sowohl im guten wie im bösen Sinn. Ein vielgelesenes Buch unserer Tage trägt die Überschrift: Magie des Taktstockes. Es werden uns hier die großen Stabführer der Welt in Wort und Bild vorgestellt. Man unterscheidet bekanntlich zwischen Dirigenten, die die Partitur im Kopf und die den Kopf in der Partitur haben. Aber auch die vollendete Beherrschung des Notenbildes macht es allein noch nicht. Man kann dabei trotzdem ein Taktschläger sein, von dem nichts ausstrahlt. Es müssen sich da noch ganz andere Qualitäten hinzugesellen, eben magische Fähigkeiten, um sich mit dem Orchester und den lauschenden Menschen im Saal zu einer großen Erlebniseinheit zu verbinden. Wo dieses Ineinanderfließen von Dirigent und Spielern, diese Ineinssetzung von Künstlern und Auditorium nicht zustande kommt, da wird die große beglückende Beschenkung eben nicht erreicht.

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LeerIn der Heilkunde spricht man heute gern von dem Arzt als Medizin. Nichts ist für die Patienten wichtiger als eine Arztpersönlichkeit, die Vertrauen, Überzeugungskraft, Leben und Hoffnung ausstrahlt. Ein solcher Arzt kann unter Umständen selbst mit Placebo-Mitteln die erstaunlichsten Heilwirkungen erreichen. Er vermag den Kranken in die Kommunikation mit seinem Heilwillen hinzuzunehmen und dieser heilende Wille bewirkt mehr als alle Produkte der pharmazeutischen Industrie. Sehen wir beim großen Künstler und verantwortungsbewußten Arzt magische Wirkung heilsam am Werk mitten im maschinentechnischen Zeitalter, so erleben wir in der Politik und im Kurpfuschertum den magischen Mißbrauch in erschütternder Weise mitten in einer Zeit, die das Magische theoretisch leidenschaftlich leugnet. Daß Hitler die Massen, voran auch die Frauen, so verzaubern konnte, daß die Menschen von einem Nürnberger Reichsparteitag wie trunken-verzückt nach Hause zurückkehrten, war echt magische Beschwörung durch den bösen und unsauberen Geist, der in diesem unseligen Sohn der Stadt Braunau lebte. Vom Rationalen her ist eine solche Rattenfängerei nicht mehr deutbar. Hier muß man schon magische Zusammenhänge zu Hilfe nehmen, um das Unwürdige solcher Vorgänge fassen zu können.

LeerDaneben stellen wir die Welt des Aberglaubens, die ja nicht nur wahnhafter, törichter Einbildung beruht. Sie erreicht vielmehr höchst reale Wirkungen. Die Gesichtsrose weicht, das geschwollene Knie heilt ab, das bösartige Ekzem geht zurück, das der Behandlung in der Hautklinik hartnäckig getrotzt hat, nachdem man gewisse magische Beschwörungsworte ausgesprochen und entsprechende Begleithandlungen vorgenommen hat. Von der Schulphysik und Schulmedizin her gibt es für solche Erfolge keine Deutung. Manchem modernen Wissenschaftler sind sie denn auch höchst unwillkommen; sie passen nicht in seinen Kram. So hilft man sich am liebsten in der Weise, daß man die Dinge mit Schweigen übergeht und so tut, als wären sie nicht vorhanden. Nun ist es aber eines geistigen Menschen nicht würdig, Vorgänge, für die er keine Deutung hat, von sich wegzuschieben. Man sollte vielmehr nicht eher ruhen, als bis man eine Erklärung dafür gefunden hat. Dazu aber müßte man sich öffnen für den magischen Aspekt der Wirklichkeit.

LeerGleichwie das technische Vermögen, so ist auch der magische Einfluß ambivalent. Wer aus der Liebe lebt, das Wort im neutestamentlichen Sinn der Agape verstanden, wird sich in Liebe allen Menschen, allen Kreaturen nah verbunden fühlen. Es wächst unter dem Einfluß des magischen Wissens das Empfinden, wie wir alle zusammengehören in der Solidarität von Schuld und Leid, wie wir gleichzeitig aber auch dazu berufen sind, einander beizustehen, weil wir der gegenseitigen Hilfe bedürftig und fähig sind.

LeerEs kann leider nicht geleugnet werden, daß sich die Anwendung magischer Weltzusammenhänge im verderblichen und verhängnisvollen Sinn ungleich häufiger findet als im gnadenhaften Sinn. Wir stehen vor der paradoxen Tatsache: schlechte Menschen haben das magische Wissen behalten, während glaubensvolle Menschen es unter dem Einfluß der Aufklärungswissenschaft preisgegeben und verloren haben. Aber warum sollte nicht auch der erlöste Mensch darum wissen, daß die Natur wie weiches Wachs formbar ist und daß zwischen allen Dingen eine innige Sympathie besteht. Er wird solches Wissen niemals mißbrauchen, einem anderen zu schaden, sich selbst zu erhöhen oder Gott seinen eigenen Willen abzutrotzen. Er wird immer im Gehorsam unter Gott bleiben, er wird sich seiner Erfolge niemals in eitler Weise rühmen, er wird die geheimnisvollen Kräfte und Zusammenhänge, die die Schöpfung durchwalten, immer dem Nächsten zum Besten einsetzen.

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LeerWenn die magischen Zusammenhänge gelten, dann wird das Leben durch diese „participation mystique”, wie alles ineinander greift und aufeinander wirkt, abgründiger und herrlicher zugleich. Wir müssen mit Dunkelheiten und Gefährdungen rechnen, die weit über das Menschlich-Rationale hinausreichen. Erst von da her versteht man recht, warum wir die Schutzmacht des Gebets, den Beistand der Engel und die Kraft des versöhnenden Blutes Christi nötig haben. Wir dürfen dann aber auch fassen, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist, daß man zu einem Berg sprechen kann: „Hebe dich hinweg von hier!”, weil das Weltgeschehen ja in einem ständigen Werden begriffen ist, in das wir im Glauben mit heiliger Vollmacht eingreifen dürfen. Durch die Leugnung der magischen Weltseite ist nicht nur das moderne Denken, sondern auch die moderne Frömmigkeit allzu harmlos geworden. Wir erschrecken nicht mehr über der Hintergründigkeit der Welt und wir trauen Gott keine großen Möglichkeiten mehr zu, weil das mechanistische Denken uns davon abhält. Wenn das magische Weltbild zu Recht besteht, dann ist auch damit zu rechnen, daß der Geist nicht nur gestaltend auf die Materie wirkt, sondern auch in die Materie selbst eingeht. Der neuere Protestantismus seit Kant und Ritschl hat eine derartige Möglichkeit leidenschaftlich bestritten. Auch die Theologie von Barth und Bultmann hat daran nichts geändert. Zwischen Mensch und Mensch sollte es nur eine geistige Ich-Du-Beziehung geben in Anruf und Antwort, zwischen Menschengeist und stofflicher Welt aber sollte nur das Verhältnis von Herrschergestalt und zu unterwerfender Substanz zu Recht bestehen.

LeerDer Katholizismus wurde von diesem Ansatzpunkt her auf das Heftigste kritisiert wegen seiner seinshaften Auffassung vom Wesen der Gnade. Wenn dort die Rede ist von einer Transsubstantiation der Elemente im Abendmahl oder von gnadenhaft gesegneten Orten und geweihten Gegenständen, so wollte man nichts davon wissen und gelten lassen. Dem gegenüber ist es ein erregender Vorgang, daß heute von der evangelischen Theologie an verschiedenen Stellen die Frage erhoben wird, ob der reine Personalismus wirklich ausreicht, um das zu beschreiben, was zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Kreatur als Beziehung möglich ist. Im übrigen ist es eigenartig zu beobachten: während der Protestantismus sich im Aufbruch befindet vom Personalismus zu einer neuen Ontologie hin, mehren sich in der katholischen Theologie die Stimmen, die um eine existentialistische Durchdringung der katholischen Wahrheitsaussagen bemüht sind. Die bisher steil durchgehaltenen Gegensätze von Gnadenhuld und Gnadenstrom lockern sich also von beiden Seiten her auf.

LeerGewiß, das erste bleibt immer der personale Akt, wie der Mensch auf Gott hört, wie er sich dem Nächsten im dialogischen Gespräch, in der Tat der Liebe zuwendet, wie er das Kreatürliche in die Hand nimmt und nach seinem Willen formt. Aber wir sollten einsehen lernen, daß sich diese aktualen Entscheidungen und Vollzüge ständig verdichten und niederschlagen in seinshaften Zusammenhängen. Die Dinge nehmen etwas an von dem, was wir als Träger der Geschichte in sie hineinlegen. Es gibt durchbetete Räume, wie es auch Häuser gibt, an denen ein Fluch hängt, der von diesen Stätten erst genommen werden muß, wenn das Unheil von solchen Räumen weichen soll.

LeerDie Parapsychologie hat dafür den exakten Beweis erbracht, wenn sie (mit dem nicht gerade glücklich gewählten Ausdruck von der „Psychometrie”) darauf aufmerksam macht, daß hellseherisch begabte Menschen erstaunlich genaue Aussagen machen können über das Leben von Personen, deren Schmuck oder Kleid ihnen zur Prüfung in die Hände gegeben worden ist. Jedenfalls gilt es hinauszuwachsen über den dünnen Spiritualismus, in den wir unter dem übermächtigen Einfluß des aufklärerischen Verstandesdenkens hineingeraten sind. Die Zukunft wird einer christlichen Glaubensfrömmigkeit gehören, die um die Allbeseeltheit und Allverbundenheit alles Lebens weiß und die in der Vollmacht des Heiligen Geistes mit gereinigtem Herzen einer so beschaffenen Schöpfung zu dienen bereit ist.

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Anmerkung:
Wer diese Ausführungen von A. Köberle über das Weltbild der Magie sorgfältig liest, wird sich darüber klar sein, welche Tragweite diese Erkenntnisse auch für das Handeln der Kirche in ihrer Predigt nicht minder als in ihren Sakramenten hat. Es wäre dankenswert, wenn der Verfasser selbst in einem der nächsten Hefte diese Linie weiter ausziehen und damit die sehr aktuelle Bedeutung des magischen Weltbildes sichtbar machen wollte.
Der Herausgeber


Quatember 1960, S. 3-10

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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