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I. Die Bibel als Dichtung und als Dokument von Wilhelm Stählin |
Alle maßgebenden Äußerungen der evangelischen Kirche stimmen darin überein, daß die Heilige Schrift „Alten und Neuen Testamentes” nicht nur die Urkunde der Offenbarung Gottes enthält, aus der die Kirche selbst erwachsen ist, sondern daß sie eben darum für alle Zeiten den Maßstab dafür darstellt, was in der Kirche gepredigt, geglaubt und gelebt werden soll. In der gottesdienstlichen Lesung heiliger Schriften vollzieht die Kirche jedesmal diese Rückkehr zu ihrem Ursprung, nicht als historische Rückbesinnung, sondern als verpflichtende und belebende Erneuerung aus der Quelle ihrer geschichtlichen Existenz. Der Apostel Paulus drückt das so aus (1. Kor. 11, 26), daß in der Feier des Heiligen Mahles der Tod Christi als ein gegenwärtiges Ereignis proklamiert werde, so daß jeder sinnwidrige Vollzug dieses Mahles eine Mitschuld an dem Tod Christi konstituiert. Die feierlichen Zeremonien, mit denen in der liturgischen Ordnung die Lesung des Evangeliums ausgezeichnet ist, unterstreichen die zentrale Bedeutung dieser Lesung für das gesamte gottesdienstliche Geschehen. (Das heilige Buch wird in eine Wolke von Weihrauch gehüllt und Kerzenträger begleiten den Lektor zum Lesepult; selbst Zwingli hatte ursprünglich die Sitte beibehalten, daß der Priester vor der Lesung das heilige Buch zum Zeichen seiner Liebe und seiner Ehrfurcht küßt.) Die Frage, welche Schriften zu dem „Kanon” heiliger Schriften gerechnet werden sollen, entschied sich an der Frage, welche Schriften für die gottesdienstliche Lesung gebraucht werden sollten und welche nicht. Die sogenannten Apokryphen des Alten Testaments gehören nach der Lehre und der Praxis der römischen Kirche zu diesem Kanon, während sie nach Luthers Meinung zwar nützlich und gut zu lesen, aber der Heiligen Schrift nicht gleich zu achten sind; die neutestamentlichen Apokryphen, zu welchen u. a. der „Hirt des Hermas”, die „Lehre der zwölf Apostel”, die Briefe des Ignatius und der Brief des Clemens von Rom und mehrere stark legendäre Apostelgeschichten gerechnet werden, wurden aus dem Kanon der im Gottesdienst zu lesenden Schriften von vornherein ausgeschieden und sind darum auch der heutigen Gemeinde kaum mehr bekannt. Es ist um so merkwürdiger, daß die maßgebenden Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche zwar diesen Charakter der Heiligen Schrift als „Kanon”, das heißt als Regel und Norm aller kirchlichen Lehre voraussetzen, aber keine eigentliche Lehre über die Heilige Schrift, über den Grund und den Charakter ihrer Autorität ausgebildet haben. Daraus erwächst für jedes Geschlecht reformatorischen Kirchentums die zwiefache Verpflichtung, von jener Möglichkeit einen ernsthaften Gebrauch zu machen, das heißt die Verpflichtung zum „Umgang” mit der Heiligen Schrift, zu einer ebenso intensiven wie dauernden Beschäftigung mit diesem Buch, und zugleich für diesen Umgang selbst Norm und Regel zu gewinnen, falschen und rechten Gebrauch, falschen und rechten Umgang zu unterscheiden. (Wobei „richtig” immer nur dasjenige sein kann, was dem Charakter dieses Buches selbst gemäß, „falsch” nur das, was diesem Charakter zuwider ist.) In welchem Sinn wir dabei geflissentlich das Wort „Umgang” gebrauchen, wird in einem späteren Punkt unseres Gedankenweges entfaltet werden; für den Anfang sei es genug zu sagen, daß dieses Wort „Umgang” nicht nur Intensität und Dauer meint, sondern zugleich ein innerstes Beteiligtsein, ein echtes inter-esse im Unterschied von jedem oberflächlichen und flüchtigen „Interesse”, jene Ehrfurcht und jenen Ernst, die aus dem Wissen entspringen, daß es sich hier, im Umgang mit diesem Buch, um Erkenntnis der Wahrheit schlechthin handelt und daß unser eigenes Leben und Heil hier auf dem Spiele steht. Dabei werden wir uns, wie immer und überall, vor der Verlockung durch schroffe Antithesen, durch ausschließende Gegensätze hüten müssen; es ist nichts so radikal falsch, daß es nicht ein fruchtbares Korn der Wahrheit in sich enthielte, das dann freilich durch die gefährliche Isolierung sterilisiert, seiner Keimkraft beraubt und in ein üppig wucherndes Unkraut verwandelt wird. Jede „Häresie”, auch im Umgang mit der Heiligen Schrift, ist dadurch so verführerisch, daß sie eben nicht einfach und eindeutig falsch ist, sondern eine halbe Wahrheit darstellt, aber eben darum zugleich einen mehr als halben Irrtum empfiehlt. Wir beschäftigen uns zunächst mit zwei solchen bedenklichen Formen des Umgangs mit der Heiligen Schrift, die wir doch keineswegs nur verdammen können, sondern an ihrem Ort und in ihren Grenzen als durchaus notwendig und wichtig anerkennen müssen; oder sagen wir es lieber umgekehrt: zwei Formen des Umgangs mit der Heiligen Schrift, die etwas durchaus Richtiges meinen, die aber für sich genommen eben doch dem Wesen der Bibel keineswegs gerecht werden. Freilich sollte auch die äußere Gestalt des Heiligen Buches dieser seiner literarischen Würde angemessen sein; bis in die allerletzten Jahre hinein schien es erlaubt, sich bei der Bibel im Interesse möglichster Billigkeit und in der Anpassung an den Geschmack früherer Zeiten mit einer typographisch schlechten Form zu begnügen, in der kein Verlag irgendein Werk der Weltliteratur anzubieten gewagt hätte. Dankbar erkennen wir an, daß sich heute namhafte Graphiker unter dem Einfluß von Rudolf Koch, aber doch in aller Freiheit gegenüber diesem Altmeister des Bibeldrucks um eine edle und künstlerisch befriedigende Gestalt des Buches der Christenheit bemühen, und wir haben nur darum zu sorgen, daß nicht bei den Textrevisionen, die heute im Gang sind, die Schönheit des Lautbildes und der Klanggestalt dem Interesse philologischer Korrektheit und intellektueller Verständlichkeit geopfert wird. Viele Beispiele dieser poetischen Kraft sind uns allen vertraut: Psalmen vor allem, der Schöpfungshymnus im 1. Kapitel des 1. Buches Mose, die prophetischen Bilder der kommenden Erlösung, Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes; daneben nennen wir einige Stellen, die etwas mehr am Rande liegen und die darum vielleicht manchen unbekannt bleiben: die Schau des Propheten Habakuk (3,3 f.) von der furchterregenden Herrlichkeit Gottes, die Vision der Apokalypse von dem Fall der großen Stadt Babel (Kap. 18.19); die Bilderreden des Jesus Sirach von dem liebenden Umgang mit der göttlichen Weisheit (14, 22-15,6) oder den Lobpreis der göttlichen Allmacht im Buch der Weisheit (11, 17-12,1). Doch ist natürlich das leise Unbehagen wohl begreiflich, das manche ernsthaften Christen gegenüber dieser Betrachtung der Heiligen Schrift empfinden. Sie haben die Sorge, daß die ästhetische Wertung der Bibel als eines hervorragenden Werkes der Weltliteratur ihrer inhaltlichen Geltung Abbruch tun könnte, daß manche Menschen zum wenigsten einzelne Stücke der Heiligen Schrift als großartige Dichtung genießen könnten, ohne das ganz ernst zu nehmen, was dort in einer so großartigen Weise gesagt wird. Vor einem Menschenalter gab es den Beruf des „Bibelsprechers”, der in gottesdienstlichen oder außergottesdienstlichen Veranstaltungen Stücke der Heiligen Schrift mit allem Raffinement deklamatorischer Kunst vortragen sollte; das war ein ebenso gefährliches Experiment, wie wenn man versucht, die Liturgie von einem musikalisch besonders begabten Pfarrer besonders schön singen zu lassen. Es gibt eben keine Betrachtung der Heiligen Schrift, die nicht durch Isolierung und einseitige Wertung zum Irrtum und zur Gefahr werden könnte. Das Buch von Keller ist ein Gradmesser für die rückläufige Entwicklung dieser mißtrauischen Kritik. Manche Leute entdecken mit Staunen, wie sehr doch diese heilige Geschichte von dem Wellenschlag der großen Weltgeschichte berührt ist, wie sehr die Überlieferung aus dem Raum der Mythen und Sagen in das helle Licht historischer Ereignisse tritt, die aus Ausgrabungen, Inschriften und anderen Zeugen beglaubigt werden können. Während für eine skeptische Generation sich die von der Bibel erzählte Geschichte weithin in einen Nebel von Legenden oder sagenhaften Überlieferungen, in Rückblendungen einer sich bildenden Gemeindetradition, schließlich auch in allgemeine religionsgeschichtliche Stoffe, wohl auch astrologische Phänomene aufzulösen schien, verstärkte sich jetzt die Bereitschaft, der Bibel auch in dem von ihr gezeichneten Geschichtsablauf Glauben zu schenken. Man erfuhr in dem Buch von Keller, was die Ausgrabungen in Ur, der Stammesheimat Abrahams, zutage gefördert haben, unter welchen Herrschern Ägyptens die Hebräer dort als Sklaven gedient haben mögen, welche geographischen und meteorologischen Verhältnisse dem eben nicht nur sagenhaften Durchzug durch das Rote Meer zugrunde gelegen haben mögen, und wie sich die Zerstörung Jerusalems und die Gefangenschaft in Babylon und ihr Ende in den zeitgenössischen Urkunden Assyriens, Babyloniens und Persiens spiegeln, und was dergleichen mehr ist. Die Theologische Literaturzeitung berichtet in einer ihrer letzten Nummern (Juni 1959) von dem Buch des belgischen Ägyptologen J. Vergote über Josef in Ägypten, in dem der Nachweis versucht wird, daß die im 1. Buch Mose erzählte Josefs-Geschichte eine so genaue Einzelkenntnis ägyptischer Verhältnisse verrate, daß Mose selbst als Verfasser dieser Erzählung vermutet und sie auf die Regierungszeit Ramses II. im 13. Jahrhundert datiert werden könne. Dennoch kann kein ernsthafter Theologe an dem Buch von Keller eine ungetrübte Freude empfinden. Nicht nur, daß Zweifel an seiner wissenschaftlichen Zuverlässigkeit begründet sind, weil manches bei ihm als wissenschaftlich erwiesen erscheint, was doch nur fragwürdige Vermutungen, Hypothesen oder Konstruktionen sind. Die Kritik an dem Buch wendet sich der ganzen Fragestellung zu. Ist denn die Frage, ob die Bibel wirklich recht hat, durch archäologische Beweisführung zu entscheiden? Will denn die Bibel überhaupt in diesem Sinn historische Berichte geben, oder liegt diese wissenschaftliche Frage nach der historischen „Richtigkeit” nicht ganz am Rande eines Buches, das von einer bestimmten geistlichen Erfahrung aus den Glauben an die Offenbarung Gottes wecken und stärken will und mit dieser Abzweckung Geschichte schreibt? Wir wissen, wie sehr der Versuch, aus diesem Glaubenszeugnis einen gesicherten historischen Kern herauszuschälen, immer nur zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit führt und Fragen, die uns aufs lebhafteste interessieren würden, offen lassen muß; daran wird deutlich, daß diese rein historische Fragestellung der wirklichen Gestalt der Heiligen Schrift ebensowenig gerecht wird wie eine rein ästhetische Wertung ihrer dichterischen Qualitäten, und wie sehr also die Frage, ob die Bibel wirklich recht hat, im Grunde an ganz anderen Maßstäben gemessen und entschieden werden muß. Quatember 1960, S. 22-26 |
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