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Alfred Dedo Müller zum 70. Geburtstag

LeerAls der junge Student Alfred Dedo Müller im Jahre 1918 aus dem Krieg kam, litt er an den Folgen einer Verschüttung. Sein Kopf schmerzte Tag und Nacht, und seine schonungsbedürftigen Glieder hätten ihm den Dienst versagt, wenn er sie nicht in strenge Selbstzucht genommen hätte. Dieser Selbstzucht war er wie kaum ein andrer fähig. Nach bestandenen Examen wurde er Landpfarrer im Erzgebirge; denn nur in der Stille und Abgelegenheit des Dorfes durfte der Kriegsbeschädigte hoffen, seinen Beruf ausüben zu können. Ohne die Hilfe seiner jungen Frau hätte er die nächsten Jahre kaum überstanden. Oft war er zum Stilliegen und zur Ruhe verurteilt. Einen so willensstarken Mann stellt man sich leicht als Herkules vor. Der schmächtige junge Pfarrer war das Gegenteil. Aber er stand die Krise durch, und die harte Prüfungszeit trug ihre Früchte. Damals schrieb Dedo Müller sein erstes Buch „Religion und Alltag. Gott und Götze im Zeitalter des Realismus” (1927). Die kurzen, klar gegliederten Skizzen ließen die Theologen aufhorchen. Sie packten auch den Laien.

LeerInzwischen war die Widerstandskraft des Körpers gewachsen. Dedo Müller konnte es sich zutrauen, ein Pfarramt in Leipzig-Connewitz zu übernehmen und bald darauf einem Rufe der Universität Leipzig Folge zu leisten. Als Ordinarius für praktische Theologie, als Universitätsprediger und Direktor des Prediger-Kollegs zu St. Pauli hat er bis zum heutigen Tage gewirkt.

LeerImmer weiter dehnte er sein Arbeitsgebiet aus. Es erstreckte sich auf alle Erscheinungen unserer Zeit und auf die in ihr wirkenden Geisteskräfte. Kein Wunder, daß es nicht gelingen wollte, ihn in eine der bestehenden Schulen einzuordnen. Nie hätte er eine Position bezogen, die seinem Erkenntnistrieb Schranken gesetzt hätte. Schon in der Fragestellung zeigte sich sein besonderer Auftrag. Das bezeugen die hier zu nennenden größeren Werke „Du Erde höre! Der Realismus und die Verwirklichung der christlichen Botschaft” (1930) - „Ethik. Der evangelische Weg der Verwirklichung des Guten” (1937) - und die in „Christentum und Leben” veröffentlichten Predigt-Meditationen. In seinen Vorlesungen verstand er es in erstaunlicher Weise, die Geister unserer Zeit zu beschwören und herauszuhören, was von uns gefordert ist.

LeerSeine Forschungsarbeit verband sich mit einer unbedingten Treue zu seiner Kirche, deren Last er in aller Demut mittrug. Im Laufe der Zeit wuchs die Zahl seiner Verpflichtungen auch gegenüber der Pfarrerschaft. Die Meißener Konferenz, von jeher eine Stätte der Begegnung für den geistig lebendigen Teil der sächsischen Pfarrerschaft, machte ihn zu ihrem Vorsitzenden. Dedo Müller war ihr „Spiritus rector”, auch wenn seine eigene Person überhaupt nicht hervortrat. Schon an der Art, wie er die Aussprache leitete, spürte man, wie sehr er sich bemühte, den Mitmenschen und sein Anliegen ernst zu nehmen.

LeerZahllose Theologen sind aus seiner Schule hervorgegangen und stehen auf den Kanzeln. Natürlich ist nicht jeder von ihnen ein kleiner Dedo Müller geworden. Das ändert jedoch nichts daran, daß nahezu alle den Mann, der sie geformt hat und an dessen Lauterkeit sie sich selbst formen konnten, ein dankbares Andenken bewahren. Aber von Dedo Müller darf man nicht im Perfektum reden. Der Jubilar, dessen Gesundheit vor vier Jahrzehnten so schwer gefährdet war, geht nach wie vor, nunmehr als emeritus, in ungebrochener Rüstigkeit seiner Arbeit nach.

LeerWas Dedo Müller im Jahre 1933 zum Eintritt in die damals gerade gegründete Evangelische Michaelsbruderschaft bewog, war wohl ein Doppeltes: der Zugehörigkeit zur Kirche das Fassadenhafte zu nehmen und zu einer Durchgestaltung des Lebens durchzustoßen und in die verborgenen und gefährlichen Tiefen des Menschenherzens hinabzusteigen, in denen sich der entscheidende Kampf mit den bösen Mächten abspielt. Das mußte dem Mann am Herzen liegen, dessen Vorlesung über Seelsorge den Blick der Hörer für die Bereiche der Tiefenpsychologie geöffnet hatte.

LeerVielleicht hat der Leipziger Professor mit den Meditationen, die er auf Freizeiten und Tagungen hielt und die immer weiteren Kreisen bekannt wurden, nicht weniger Menschen geholfen als mit seinen Vorlesungen. Hier ging es um das Leben selbst und um das Bemühen, der bösen Mächte Herr zu werden. Wer weiß, wie vielen Menschen dadurch der Zugang zum Gebet und zum Gottesdienst erschlossen worden ist, der ihnen nur in seinem äußeren Ablauf bekannt war.

LeerSchmerzlich empfinden wir auch bei dieser Gelegenheit das Vorhandensein einer Trennungslinie, die eine gemeinsame Ehrung des greisen Geburtstagskindes durch die Kirchen Deutschlands und ihre Theologen verwehren wird. Auch diese Zeilen können nur andeuten, was uns bewegt und was wir am Geburtstagsmorgen ausgesprochen hätten, wenn es möglich gewesen wäre. Wir müssen es den Brüdern jenseits der Zonengrenze überlassen, stellvertretend für uns den Jubilar aufzusuchen und, zusammen mit ihm, Gott zu danken für ein Lebenswerk, das in Seinem Dienste stand.

Quatember 1960, S. 27-28

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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