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Christentum ohne Christus
von Jürgen Boeckh

LeerZu Hermann Wagners „Unbewußtes Christentum” (Quatember 3/1959, 129 ff) haben mehrere Leser Stellung genommen. Indem wir nachstehend einer Zuschrift von Jürgen Boeckh Raum geben, möchten wir doch auch aus den anderen Entgegnungen einige Gedanken herausgreifen, die Beachtung verdienen:
LeerEinmal wird der von Walter Dirks erhobene und von Wagner aufgenommene Vorwurf, kein Christ habe Karl Marx den „Akt der Gleichsetzung mit dem anderen durch einen Akt der Entäußerung” vorgemacht oder seinerzeit auch nur nachgemacht, in dieser Verallgemeinerung zurückgewiesen. Niemand als Gott allein wisse um die zahllosen Opfer, die in dieser Hinsicht auch im Jahrhundert der sozialen Kämpfe von frommen Menschen gebracht worden sind. Die ganze Hätte-Sollte-Müßte-Kritik am Christentum sei Schwärmerei, und der von Wagner zitierte Industriearbeiter würde auch die Sprache der Luther-Bibel „ganz gut verstehen, wenn er nur einmal richtig hinhören wollte. Aber er hört gar nicht, weil es ihn gar nicht gibt! Weil solch ein Industriearbeiter nur aus der Retorte irgendeines Intellektuellen stammt.” In der Haltung „Was habt ihr zu bieten?” versperre sich der Mensch jedenfalls den Zugang zu Christus und zu seiner Botschaft.
LeerIn einer anderen Entgegnung wird gesagt, daß wir uns, wenn wir von „unbewußtem Christentum” reden, dem Verdacht aussetzen, als scheuten wir die Auseinandersetzung mit dem geistigen Leben der Gegenwart und verkröchen uns deshalb in die unkontrollierbaren Bereiche des Unbewußten. - Man könnte darüber hinaus noch fragen, ob wir nicht unserer eignen Glaubensarmut ein Mäntelchen umhängen und uns auf eine ganz raffinierte Art zu rechtfertigen suchen, wenn wir uns nun vielleicht auch mit einem „unbewußten Christentum” in uns zufrieden geben. Die Bewußtheit, die geistige Klarheit, die gedankliche Formulierung gehören eben zur Vollständigkeit der menschlichen, also auch der christlichen Existenz.
Die Schriftleitung


LeerDie Frage, ob Menschen „Christen” sein können, die von Jesus Christus nichts wissen, ist zum ersten Male deutlich im zweiten Jahrhundert gestellt worden. So schrieb Justin der Märtyrer, der bedeutendste unter den „Apologeten”: „Diejenigen, die gemäß dem Logos (= Weltvernunft = Christus) gelebt haben, sind Christen, auch wenn sie für Atheisten gehalten wurden, wie unter den Griechen Sokrates und Heraklit und alle, die ihnen ähnlich waren, unter den Barbaren aber Abraham und Elias und viele andere.” Die Apologeten wollten beweisen, daß die christliche Religion von Anfang an dagewesen sei. Damit sollte dem Christentum der Makel genommen werden, daß es eine neue Religion sei. Das Anliegen der Apologeten war ein dogmatisches und ein ethisches zugleich: Es ging ihnen um die Wahrheit und um das Leben nach der Wahrheit. Als Christen hatten sie keinen Grund, sich des Lebens ihrer Glaubensgenossen zu schämen. Ihr Ausgangspunkt war nicht die beschämende Beobachtung, daß die Heiden „christlicher” lebten als die Christen. Die Erkenntnis aber, daß auch Heiden ein „christliches” Leben führen konnten, führte sie zu der Behauptung, daß es schon vor Christus „Christen” gegeben habe. So war ihre Lehre vom „unbewußten Christentum” im Grunde ein Angriff auf die nichtchristliche Welt.

LeerDie Frage nach dem unbewußten Christentum, wie sie Hermann Wagner in dieser Zeitschrift gestellt hat, ging demgegenüber von einem wesentlich ethischen Anliegen aus und ist zutiefst in einem christlichen Schuldgefühl begründet. Dieses Schuldgefühl entspringt der richtigen Erkenntnis, daß die „Christen” weithin nicht „christlich” leben, während Menschen ohne bewußten Christusglauben, ja sogar Atheisten, ihnen in menschlicher Güte, in Hilfs- und Opferbereitschaft weithin überlegen sind.

Linie

LeerGanz gewiß hat die Kirche gerade im letzten Jahrhundert über der Sorge für das Heil der Menschen die Sorge für ihr Wohl hintangestellt oder, von Ausnahmen abgesehen, überhaupt nicht verspürt. So sehr darin ein schuldhaftes Versäumnis liegt, so sehr muß doch auch das andere betont werden: Der Kirche ist zuerst und zuletzt die Sorge für das Heil der Menschen anvertraut. Wir möchten hier die Unterscheidungen Bonhoeffers über das „Vorletzte” und das „Letzte” (Ethik. S. 85 ff.) aufgreifen: Das Vorletzte ist all das, was dem Letzten - also der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein - vorangeht und von dem gefundenen Letzten her als Vorletztes angesprochen wird. Das Vorletzte ist also nicht Bedingung des Letzten, sondern das Letzte bedingt das Vorletzte. Konkret wird von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden hier ein zweifaches als Vorletztes angesprochen: das Menschsein und das Gutsein. Zum „Vorletzten” gehört all das, was der von Wagner zitierte Industriearbeiter von der Kirche erwartet. Zum „Vorletzten” gehört damit auch die Sorge um den Frieden der Völker und die Bewahrung vor der „atomaren Himmelfahrt”. In all diesen Forderungen, in dem, was Marx wollte und was Schweitzer praktiziert, geht es um das Wohl der Menschheit und damit um ein Vorletztes. Das Letzte aber ist und bleibt das Heil, die Rettung der Menschen in Zeit und Ewigkeit. Gott „will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung” (1. Tim. 2, 3-6). Nur wenn wir es bewußt annehmen, daß Christus für uns gestorben und auferstanden ist, werden wir - nach dem, was uns gesagt ist - gerettet. Unsere eigene Schuld entbindet uns nicht davon, dies den Menschen zu sagen, wie es der Apostel in Athen getan hat (Apg. 17).

LeerDiesem Bericht kommt in unserem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Der Areopagredner hat seine Zuhörer allerdings nicht auf ein „unbewußtes Christentum”, sondern im Höchstfall auf ein „unbewußtes Judentum” angesprochen. Er ist also noch nicht so weit gegangen, wie bald darauf die Apologeten, und es ist ernsthaft zu fragen, ob diese nicht schon zu weit gegangen sind! Indem der Redner auf dem Areopag von Christus spricht, kommt er zum Entscheidenden - und die Geister scheiden sich. Vom Neuen Testament her ist es eindeutig, daß dort, wo Christus verkündigt wird, die bewußte Annahme gefordert werden muß. Manche Ausleger sind sogar der Meinung, daß unter den „geringsten Brüdern” (Matth. 25, 31 ff.) die Sendboten Christi zu verstehen sind. Dann würde es sich also auch hier um bewußtes Christentum handeln, wie es ganz sicher in 2. Kor. 3, 17 der Fall ist. Denn im vorhergehenden Vers ist ja ausdrücklich von der Bekehrung zum Herrn die Rede. Ganz gewiß sind die „Tugenden der Heiden” nicht nur, wie Augustin meinte, „glänzende Laster”, und erst recht nicht die guten Werke derer, die in einer von christlichem Geist geprägten Welt großgeworden sind. Christentum im ethischen Sinne kann unbewußt bleiben, und dabei durchaus echt und wahrhaftig sein. Aber zum heiligen Geist, dem Geist der Wahrheit und der Liebe, gehört die Bewußtheit, das klare Bekenntnis. Eine Umkehr wird von allen gefordert, von den „Gerechten” - seien sie Pharisäer oder Kommunisten - ebenso wie von den „Zöllnern und Huren”.Diesen steht nicht darum der Eingang in das Himmelreich offen, weil sie Zöllner und Huren sind, sondern weil sie die größere Chance haben, ihre wahre Lage vor Gott zu erkennen, was gerade denen, die sich moralisch einwandfrei vorkommen, oft so schwer wird.

LeerEine andere Frage ist es, ob ein Mensch, der heute „vor Christus” lebt, der vielleicht von ihm gehört, aber dennoch seine Stimme nicht vernommen hat, gerettet werden kann. Warum sollten wir diese Frage, im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, nicht bejahen können? Hier geht es um eine letzte Hoffnung, die theologisch wohl ihren Ort in der Lehre von der Wiederbringung aller Dinge hat. Sie ist, wie Bonhoeffer sagt (Widerstand, S. 125), „ein großartiger und überaus tröstlicher Gedanke”.

Quatember 1960, S. 30-31

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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