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Das göttliche Geheimnis der Sprache
von Alfred Dedo Müller

Leer„Wie sprechen wir ‚weltlich’ von Gott?” In dieser Frage Dietrich Bonhoeffers (Widerstand und Ergebung S. 180) klingen alle Bedrängnisse an, die mit der unverkennbar rapid fortschreitenden Säkularisierung unserer Sprache zusammenhängen. Dabei repräsentiert die Sprache eine ganze „weltlich” gewordene Welt. Theologie, Kirche und Frömmigkeit hatten sich längst darüber beruhigt, daß weite Gebiete der Kultur wie Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik säkularisiert und damit ihrer Verantwortung und Beeinflussung entrückt waren. Mit der Verweltlichung der Sprache tritt der ganze Vorgang der Säkularisierung in sein letztes Stadium ein. Hier kann eine Kirche, die sich immer mit besonderer Betonung als „Kirche des Wortes” verstanden hat, nicht mehr ausweichen. So rasch man sich auch sonst über die unaufhaltsam fortschreitende Verengung des Wirkungsraumes der Kirche beruhigen möchte, der Verkündigungscharakter der christlichen Botschaft schien der Kirche bisher noch immer als die unbestreitbarste und unverlierbarste Form ihrer Leibwerdung. Nun entsteht die Frage, wie der Verkündigungsauftrag noch ausgeführt werden soll, wenn die Aussprechbarkeit und Darstellbarkeit der christlichen Botschaft im Wort ihre Selbstverständlichkeit verliert. Dann entsteht jedenfalls die Frage Bonhoeffers: „Wie sprechen wir ‚weltlich’ - mit den Mitteln einer entgotteten Sprache - von Gott?” Dann ist die letzte Möglichkeit einer Flucht in eine irgendwie geartete Weltabseitigkeit endgültig abgeschnitten. Dann wird die Frage unausweichlich, wie eine Fleischwerdung des Wortes im Leibe der entgotteten Sprache von heute möglich wird. Denn darin hat Bonhoeffer mit seiner in carcere et vinculo gewonnenen Erkenntnis unzweifelhaft recht: die Kirche steht immer „mitten im Dorf” ,(182) - auch mitten in einer weltlich gewordenen Sprache (vgl. dazu auch: Dedo Müller, Die Sprache als Problem der Praktischen Theologie. In: Das Problem der Sprache in Theologie und Kirche. Hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, Berlin 1959).

LeerNun ist freilich die Durchführung solcher „weltlichen” Rede von Gott viel schwerer als zunächst scheinen mag. Bonhoeffer hat hier, wie man Karl Barth zugeben muß, nur „änigmatische” Andeutungen geben können - aber diese Rätselhaftigkeit liegt zweifellos im Wesen der Sache. Mit technischen Anweisungen ist hier an den Kern des Problems nicht heranzukommen. Im Folgenden sei der Versuch gemacht, uns eine unerläßliche Voraussetzung seiner Lösung zum- Bewußtsein zu bringen. Sie liegt, wie uns scheint, in einer trinitarischen Ontologie des Phänomens der Sprache.

LeerZunächst steht der göttliche Ursprung der Sprache unverlierbar fest. Alle Entgottung kann das göttliche Geheimnis nicht aufheben, das in die Sprache gelegt ist - auch wenn kein sprechender Mensch es mehr wahrzunehmen vermöchte. Die Sprache trinitarisch sehen heißt, sie nicht nur als menschliches Bewußtseinsphänomen, sondern als eine objektive, sich auch gegen das menschliche Bewußtsein behauptende Schöpfungstatsache sehen. Das heißt aber mit Conf. Augustana I zu reden: sie auf das „einige göttliche Wesen” zurückführen, „welches genannt wird und wahrhaftiglich ist Gott und sind doch drei Personen in demselben einigen göttlichen Wesen, gleich gewaltig, gleich ewig, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist; alle Drei Ein göttlich Wesen, ewig, ohne Stück, ohne End, unermeßliche Macht, Weisheit und Güte, ein Schöpfer und Erhalter aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge”. Es besteht keine Möglichkeit, davon die Sprache auszunehmen. Sie fehlt ja überraschenderweise in Luthers Erklärung zum 1. Glaubensartikel - aber doch gewiß nur deshalb, weil dieser göttliche Ursprung der Sprache für ihn noch in keiner Weise problematisch war. Unterdessen ist er dem modernen Bewußtsein völlig verlorengegangen. Die Theologie hat das Staunen über das Geheimnis der Sprache längst aus ihrem Verantwortungsbereich entlassen und das Nachdenken darüber an eine säkulare Sprachforschung abgegeben, die die Sprache historisch, psychologisch, soziologisch und wenn es hoch kommt philosophisch interpretiert. Wir haben allen Anlaß, es der wissenschaftlichen Forschung zu danken, daß sie überhaupt die Frage nach dem Wesen der Sprache wachgehalten hat. Aber es liegt ja nun auf der Hand, daß hier von Spuren einer „unermeßlichen Macht, Weisheit und Güte” in der Sprache nicht mehr die Rede war. Heute gilt es, die Frage nach Sinn und Ursprung neu und in einer seit langem nicht mehr gewagten Radikalität zu stellen. Dazu zwingt schon der unverkennbare Sprachschwund, den wir durchmachen. Was heißt es, die Sprache in diesem Lichte zu sehen?

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LeerZunächst, das muß immer wieder gesagt werden, verhält sich jede theologisch-trinitarische Sicht der Sprache aller Art sonst möglicher Sprachforschung gegenüber nicht exklusiv, sondern inklusiv. Die Sprache theologisch interpretieren heißt, alle soziologischen, psychologischen, historischen, philosophisch-anthropologischen Sachverhalte ernst nehmen, die in ihr wirksam sind. Wer eine der in sie gelegten realen Wirkungskräfte aus dem Auge verliert, sieht sie nicht mehr theologisch. So sagt etwa Wilhelm von Humboldt: „Die Sprache muß, meiner vollsten Überzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden; denn als Werk seines Verstandes in der Klarheit des Bewußtseins ist sie durchaus unerklärbar. Es hilft nicht, zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen ...” (Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, Bd. 7, 2. H., Berlin 1908, S. 602 f.). Diese Feststellung gehört selbstverständlich in eine theologische Ableitung der Sprache mit hinein. Aber es will nun doch auch gesehen werden, inwiefern eine Theologie der Sprache alle immanent wissenschaftlichen Ableitungsmöglichkeiten überschreitet. Danach leuchtet in der Sprache auf: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist ...” (1. Kor. 2, 9). In der Sprache findet ein Grenzübertritt, ein Einbruch „unermeßlicher Macht, Weisheit und Güte” statt. Nicht vom menschlichen Durchschnittsbewußtsein, sondern nur vom prophetischen Bewußtsein aus kann ahnend ermessen werden, was Sprache „eigentlich” ist. Sie ist das Aufnahmeorgan für das Urwort: „Da ichs wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine” (Ps. 32, 3). Wo die Sprache aufhört, Einbruchsstelle unverfügbarer Wirklichkeitsgewalt, wo sie aufhört, Organ für das Wort Gottes zu sein, hört sie auf, „eigentlich” menschliche Sprache zu sein. Eine Sprache, in die die Gehalte des prophetischen Bewußtseins nicht mehr einzugehen vermögen, ist krank.

LeerWas Sprache „eigentlich” ist, wird am Sprechen Gottes im Schöpfungsbericht deutlich. Das Wort Gottes ist schöpferisch. Idee und Tat sind in ihm eins. Im Ruf des Schöpfers vollzieht sich der Durchbruch aus dem Nichts ins Sein, aus der chaotischen Gestaltlosigkeit in die Gestalt, aus dem Chaos in die Ordnung. In der Schöpfung des Menschen gibt Gott der Kreatur Anteil an seiner Schöpfungsvollmacht. Die Sprachmächtigkeit des Menschen ist der gleichnishafte Ausdruck dieser Teilhabe. Aus göttlicher Vollmacht erkennt der Mensch sich selbst. Er wird bei seinem Namen gerufen, er wird erkannt - aus diesem Erkanntwerden entspringt alle wahre Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Aus göttlicher Vollmacht begreift der Mensch die Natur, er gibt „einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen” (1. Mose 2, 20). Aus göttlicher Vollmacht ordnet er die Welt, er macht sich „die Erde Untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht” (1. Mose 1, 28).

LeerAber die Aussagen vom 2. Artikel her gehören nicht minder zu einer theologischen Wesensschau der Sprache. Die Sprache, keine menschliche Sprache ist heil, sie bedarf der Heilung. Die Entgottung gehört ebenso wie der göttliche Ursprung zu ihrer Wirklichkeit. Daß uns dieser Sachverhalt am Sprachverfall der Gegenwart wieder bewußt wird, hat nichts mit einer Abwertung der modernen Sprache anderen Sprachepochen gegenüber zu tun. Alle großen Interpreten der Sprache wußten auch um diese ihre dauernde Gefährdung, von Luther etwa über Leibniz, Justus Möser, Herder, Goethe, J. G. Hamann, Jean Paul, Wilhelm von Humboldt, Adam Müller, Jacob Grimm hin bis zu R. A. Schröder (vgl. „Gedanken einiger deutscher Männer über die deutsche Sprache”, in Zeugnissen hrsg. von Hugo von Hofmannsthal, München 1927).

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LeerWas unsere moderne Sprache betrifft, so ist der Begriff der Verweltlichung noch zu vieldeutig und auch zu harmlos, um aufzuklären, welche dämonischvulkanischen Zerstörungsmächte die menschliche Sprache bedrohen. Wir haben in der Gegenwart nur einen solchen vulkanischen Ausbruch vor uns, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nur in Stichworten können die Symptome aufgezeigt werden, in denen sich diese Entgottung heute äußert. Da ist zunächst das Verschwinden aller direkt religiösen Begriffe, obenan des Gottesbegriffes, aus der Umgangssprache der Gegenwart charakteristisch. Das religiöse Wort erscheint in ihr ohne jeden Wirklichkeitsbezug. Die Welt gilt als das „einzig Wirkliche” (Dr. Hermann Scheler, Der Marxismus-Leninismus über Religion und Kirche, Leipzig-Jena 1956, S. 3). Eng damit zusammen hängt ein eigentümlicher metaphysischer Bedeutungsschwund für Urworte der menschlichen Sprache wie „Glaube” oder „Herz”, die - etwa am Sprachgebrauch Luthers gemessen - bis auf Reste ihres eigentlichen Sinngehaltes eingeschrumpft sind. Das entscheidende Motiv für diese Strukturänderung ist eine durchgehende Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Sprache. Ihr Begriffsapparat ist vorwiegend geprägt vom Ordnungs- und vom Herrschaftswillen, der die Welt begreifen und sich verfügbar machen, aber sich nicht von ihr ergreifen lassen will. Die Ordnungs- und Herrschaftsfunktion der Sprache, die auch im Schöpfungsbericht vorkommt, ist von der Selbsterkenntnis gelöst, hat ihren theonomen und existentiellen Charakter verloren und ist autonom und objektiv-sachlich geworden. So wird die Sprache immer unfähiger, tiefere Erlebnisse wie Ehrfurcht, Andacht, Hingabe auszudrücken. Sie hört auf, Organ der Selbsterkenntnis und der Begegnung mit Dingen und Menschen statt ihres bloßen Begreifens zu sein. Der Mensch verliert damit ebenso sehr seine Freiheit wie seine Gemeinschaftsmächtigkeit. Im Modewort, im Schlagwort, in der Propaganda wird sie Mittel zur Überwältigung des anderen. Sie hört auf, dialogisch zu sein und wird zum monologischen „Wortgeräusch” (Max Picard). Auch Urworte, wie Friede, verlieren ihren eindeutigen Sinn. Babylonische Sprachverwirrung!

LeerErst von da aus lassen sich Umfang, Tiefe und konkrete Bedeutung der Erlösung in Christus ermessen. Kreuz und Auferstehung sind auch für die Sprache des Menschen geschehen. Christus ist der in alle Trübungen und Verwirrungen menschlichen Seins, auch menschlichen Sprechens eingegangene Logos - einmal und für immer. In ihm gewinnen die Urworte der menschlichen Sprache: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden wieder ihren göttlich ursprünglichen, Freiheit, Gemeinschaft und Kultur begründenden Sinn. Er ist „unser Friede” (Eph. 2,14), unsere Wahrheit, unsere Gerechtigkeit, unsere Liebe. Die Sprache wird wieder Organ existentieller Selbst- und Seinserkenntnis, Organ menschlicher Begegnung und menschlicher Weltordnung.

LeerAber die Wahrheit ist trinitarisch. Die Erlösung ist kein bloß historischer Vorgang. Sie setzt sich fort im Walten des Heiligen Geistes. Deshalb muß noch von Wiedergeburt und Heiligung der Sprache die Rede sein. Auch hier handelt es sich um ein Struktur- und kein bloßes Bewußtseinsphänomen. „Der Wind bläst, wo er will” (Joh. 3, 8). Die Wiedergeburt der Sprache ist keine Frage des frommen Bewußtseins, sondern der Aufnahmebereitschaft des Herzens für das Walten des Heiligen Geistes. Und das Herz ist die Mitte des menschlichen Seins, in der sich die Glaubensfunktion vollzieht, von der der Gesamtzustand des Menschen, seine Ganzheit, die Prägung seines Charakters, der Aufbau der Person abhängt. Luther definiert durchaus exakt: „Worauf du nun dein Herz hängest und verlassest, das ist eigentlich dein Gott” (Gr. Kat.)- Die Sprache ist die unmittelbarste Spiegelung dieses Fundamentalvorganges. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über” (Matth. 12, 34). So hängen Reinigung, Wiedergeburt und Heiligung der Sprache ganz vom richtigen Vollzug des Glaubens ab: von der Fähigkeit also, sich ergreifen zu lassen vom göttlichen Geheimnis, das Gott in Menschen und Dinge gelegt hat, von der Hörwilligkeit und Hörfähigkeit für das in der Schöpfung uns anredende Wort Gottes, von der Unterscheidungsfähigkeit für Schöpfer und Schöpfung, für Gott und Abgott.

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Leeriegt eine solche Belebung der Herzenskraft des Menschen im Bereich menschlicher Verantwortung? Darauf kann nur geantwortet werden: unbedingt, wenn es Freiheit gibt und wenn Freiheit Antwort, Verantwortung auf den Anruf durch das Wort Gottes bedeutet. Die bloße Herrschafts- und Ordnungsfunktion der Sprache, wie sie in der Modeformel „Geht in Ordnung” sich niedergeschlagen hat und wie sie in einer unheimlichen Entsprechung zum Verlust der Zeit in der allgemeinen Lebenshetze steht, muß uns als ein Schrumpfungsprozeß deutlich werden, der die Sprache um ihre eigentliche Substanz bringt. Die Einübung in das „Zeit haben” ist deshalb die Grundform aller meditativen Übung, die uns in dieser Hinsicht aufgegeben ist. Ohne diese Voraussetzung sind Ehrfurcht, Andacht und Anbetung unmöglich. Der Verfall des Gottesdienstes ist kein Zeichen des Fortschritts, sondern der Erlahmung der zentralsten Lebensfunktionen. So ist der Kultus einfach der konkrete Ort für den reinen Vollzug der Urworte, die im „Wörterbuch der Umgangssprache” nicht mehr vorkommen. Hier bekommen Begriffe wie Wahrheit, Frieden, Gerechtigkeit, Liebe ihren ursprünglichen Sinn. „Was hast du, das du nicht empfangen hast?” (1. Kor. 4,7). An zwei Beispielen sei andeutungsweise erläutert, was dies alles für die „weltliche” Rede von Gott bedeutet. Es wird jedenfalls darum gehen, das Sprachgewand für die Verkündigung ganz in der Sprache unserer Zeit zu suchen - aber doch nicht so, daß das an ihr dogmatisiert würde, was fragwürdig ist. Nicht das Bewußtsein der „Mündigkeit” entscheidet, sondern die Transparenzfähigkeit dieser Mündigkeit für die unbedingte Wirklichkeit, die wahrzunehmen und der zu begegnen die unabdingbare Voraussetzung echter Mündigkeit, echter Freiheit ist. Diese Transparenzfähigkeit ist nicht einfach an das fromme Bewußtsein gebunden. Dafür möge als Beispiel das einzigartige Wort von Gottfried Benn über das Geheimnis des Wortes gelten. Gottfried Benn hält die christliche Religion für längst erledigt. Gott ist ihm. „ein schlechtes Stilprinzip”. Er bekennt sich zur „formfordernden Gewalt des Nichts”. Also wirklich ein „mündiger” Mensch!
„Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort -, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -,
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.”
LeerKein Zweifel: Benn unterliegt auch den Grenzen seines Mündigkeitsbewußtseins. Er hat eigentlich kein Wort für das, was vor ihm aufblitzt: „erkanntes Leben, jäher Sinn, Glanz, Flug, Feuer, Flammenwurf, Sternenstrich”, man spürt nur das erschrockene Tasten nach einem Ausdruck. Aber wer könnte überhören, daß hier wirkliches Ergriffensein, Erschütterung, Ehrfurcht um Ausdruck ringt? Aber freilich, zur Selbsterkenntnis und zur Begegnung mit Mensch und Welt kann es so noch schwerlich kommen. Dazu ist der aufzuckende Blitz, als der das Wort erfahren wird, schon zu flüchtig. Es geht keine tragende, erhellende und bergende Dauerwirkung von ihm aus - im Grunde ein aufblitzender und sofort wieder im Dunkel verschwindender Meteor. Ein paar ganz simple Verse von Hermann Claudius mögen danebengestellt sein:
„Mein Kirschbaum steht von Blüten weiß umbrämt.
Wie hab' ich meines Menschseins mich geschämt.
Wie war die Gottheit mir erschreckend nah,
da ich den Baum in seiner Blüte sah.
Ich legte beide Hände um die Rinde
und sprach zu Gott: Sei gnädig Deinem Kinde.”
Leer„Mein Kirschbaum” wagt der Dichter zu sagen. Er findet sich ganz persönlich angeredet, nicht von eigenen Reflexionen über das, was er vor Augen sieht, sondern von der „Gottheit”, die hier „erschreckend nah” ruft, Antwort heischend. Auch das ist ein Blitz, aber er fährt nicht wie ein Meteor über die Erde hin, sondern er fällt als erhellendes Licht in das Herz, in die Mitte der Person, in das Zentrum des Menschseins. Die Antwort ist die Erkenntnis der eigenen Armut, der eigenen Ohnmacht, der schlechthinnigen Abhängigkeit - von der Gnade.

Quatember 1960, S. 98-103

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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