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Verantwortung für die Sprache
von Willy Kramp

LeerIch kann ein Wort - sagen wir: das Wort Haus - auf zweierlei Weise aussprechen. Einmal rein begrifflich, zum Zweck rascher intellektueller Verständigung, wobei ich voraussetze, daß andere Menschen ungefähr und irgendwie diesen Begriff, diese „Chiffre”, auch kennen. Ich benutze das Wort dann nicht anders als etwa die einzelne Taste auf meiner Schreibmaschine: völlig isoliert, zweckhaft, herausgelöst aus den Zusammenhängen, die es gezeugt und geboren haben. Ich kann mit dem Wort Haus aber auch so umgehen, daß ich - indem ich dieses Wort spreche oder schreibe - zugleich den Tisch und das Bett in diesem Haus meine, und das Brot auf dem Tisch und die Menschen darin mit ihrem Kummer und ihren Hoffnungen. Und vielleicht auch den Garten um dieses Haus und die Nachbarn; die einsamen, verzweifelten Stunden in diesem Haus und die Feste, die Geburten und die Sterbelager . . . Oder wenn ich das Wort Leib ausspreche, so wäre dann das ganze Geheimnis unserer Geschaffenheit angerührt. Das Wachsen und Vergehen, die Schmerzen und die Lust, die Mühe des Leiblichen, aber auch seine Kraft und seine Gabe. Es wäre das Vorher und Nachher der Geschlechter angesprochen; der ganze Raum persönlicher Erfahrung: die Straße, über die mein Fuß geht, der Himmel, zu dem ich mein Auge erhebe; der Geist, der sich in meiner Leiblichkeit ausspricht; die Seele, gesund oder krank, froh oder beladen . . . Kurz: ein konkreter, dichter Zusammenhang des Lebens wird wach, wenn ich dieses Wort spreche, schreibe oder vernehme.

LeerAuf diese Weise mit dem Wort umgehen - so nämlich, daß ich seine Leibhaftigkeit und „Geschichtlichkeit” (Böll) in mir selber zum Leben erwecke -, bedeutet zweifellos Mühe. (Denn wir gebrauchen ja fast alle das Wort nur noch als intellektuelle Chiffre, ohne ihm etwas von unserem eigenen Lebensstoff, von unseren Erfahrungen, unserem Schicksal mitzugeben.) Wo aber jemand diese Mühe auf sich nimmt, das heißt: wo jemand in solcher „Andacht” und Verantwortung mit der Sprache umgeht, da ergreift er sein Menschsein. Indem er das Wort aufschließt, schließt er zugleich die Wege auf, die nach vielen Richtungen in die Tiefe der Wirklichkeit führen. Die Sprache ist eine spröde Geliebte; wo sie sich aber einmal schenkt, da tut sie es ganz - mit allen ihren Reichtümern und allen ihren Beseligungen.

LeerWohlgemerkt: die Sprache hört in dieser Betrachtungsweise auf, etwas nur Ästhetisches zu sein. Vielmehr wird sie das Element, in dem unser aller Leben sich überhaupt erst herstellt und immer wieder erneuert. Denn - ob Dichter oder nicht - ich kann ja die ganze Leibhaftigkeit, Fülle und Tiefe eines Wortes überhaupt nur dann erleben, wenn ich die Lebensprozesse nachvollziehe, die dieses Wort gezeugt und geboren haben. Ich muß mich den Dingen stellen, die an mich herantreten. „Verantwortung” für die Sprache erwächst daraus, daß ich gewissenhaft den Fragen „antworte”, die die Welt mir stellt. Ich muß mich im Schauen und Hören üben, in der Liebe und in der Ehrfurcht; im Ertragen eigener und fremder Not. Ich muß die tausendfältige Gestalt des Lebens in mir Wohnung nehmen lassen, in mir zur Ruhe kommen lassen, sich in mir finden lassen.

LeerIndem all dies geschieht, indem ich alle meine Mühe darauf verwende, daß es geschehe, werde ich frei... Frei im Anblick der Wirklichkeit, frei im Lieben, Erkennen, Glauben. Ich werde auf jene Weise frei, die etwas mit unvergänglicher Freude zu tun hat.

LeerUnd ich sage es nochmals: Dies ist nicht nur das Geschäft ästhetischer Naturen - ebensowenig wie etwa das „Glauben” eine Sache religiös gestimmter Menschen wäre. Sondern diese Art, schöpferisch, andächtig und verantwortlich mit der Sprache umzugehen, ist uns allen aufgegeben. Ja, von dieser Aufgabe her sind wir als Menschen geradezu definiert. Den Dingen „ihren Namen geben”, sie in den Zusammenhang unserer Liebe und unseres Vertrauens zu ziehen, das ist unser spezieller Schöpfungsauftrag. Wir werden die Krankheit unserer Sprachlosigkeit nicht dadurch heilen, daß wir etwa „Sprachpflege” treiben. Wir werden die Entkräftung und Beliebigkeit unseres Sprechens nicht dadurch heilen, daß wir noch geschwätziger werden als bisher oder daß wir an sprachlichen Symptomen herumkurieren; sondern wir werden nur so wieder „zu Worte kommen”, daß wir unsere Lebensprozesse erneuern, daß wir eine erneuerte Beziehung zueinander und zur Welt, ja eine neue Beziehung zu Gott finden.

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LeerNatürlich muß man fragen, wo in unserer künstlichen, nivellierten, „gemachten” Welt dem einzelnen überhaupt noch ein Raum bleibe, um die individuellen Prozesse seines Lebens - das Schauen und Hören, das Erkennen und Benennen, das Hoffen, Warten, Lieben, Verstehen, Glauben - so auszutragen, daß daraus „Wort” werden kann. Wir leben ja heute mehr oder weniger alle aus zweiter, dritter Hand; die Welt wird uns durch Kino, Radio, Fernsehen, Presse vorgekaut und phantomhaft so dargeboten, daß sie unsere Erlebnisfähigkeit eher schwächt als stärkt. Aber mag der Raum des unschuldig Wachsenden, des Lachens und Weinens, des schlicht Leibhaftigen noch so sehr eingeengt sein durch das tödlich-perfekt Vorgetane und Vorgedachte - nur um so mehr bleibt uns der Auftrag, den menschlichen Raum freizuhalten, in dem Sprache als „Namengebung” entstehen und sich am Leben erhalten kann. Das bedeutet freilich Kampf. Warum auch nicht? Ohne Kampf und Anstrengung, ohne die Schmerzen schöpferischer Anteilnahme hat es noch nie glaubhafte Sprache gegeben. Ohne jene Mühe, die mit dem Wagnis der Liebe, mit dem Abenteuer der Hoffnung verbunden ist, konnte das menschliche Wort niemals seine Gesundheit und Frische bewahren. Es hat noch immer etwas gekostet, sich das intimste Merkmal des Menschseins - die Fähigkeit des Namengebens - zu erhalten. Warum also resignieren? Mögen wir heute noch so hart in die Gesetze der Produktion und des Konsums eingeschnürt sein, im Leben eines jeden von uns gibt es Liebe und Haß, Lachen und Weinen; auch der „moderne Mensch” sitzt am Bett eines kranken Kindes, auch er hat eine Blume im Zimmer und wird von der Gegenwart eines, der sein Nächster ist, getröstet oder verstört. Ich kenne wie irgend jemand die Gefahren, die den konkreten Ausprägungen unsres Daseins und also auch unserer Sprache heute drohen; aber ich kenne ebensogut den schier unzerstörbaren Kern menschlicher Personhaftigkeit und den Reichtum unversiegbarer Beziehungen im Bereich des schlichten Daseins. Eben deshalb aber meine ich, daß wir es uns schuldig seien, uns an den Schöpfungsauftrag des „Namengebens” immer neu zu erinnern.

LeerBei einer Themen-Besprechung für den Kirchentag in München ist in der Gruppe „Wort” gesagt worden, wenn von „Räumen der Stummheit” geredet werde, dann müsse man auch den Predigt-Raum zu diesen zählen; denn auch die Predigt sei vielfach „stumm” geworden in dem Sinne, daß sie den heutigen Menschen nicht mehr auf dem Boden seiner eigentlichen Existenz anspreche.

LeerWenn das so ist, was soll man dagegen tun?

LeerIch glaube, es hat wenig Sinn, daß man - um diesem Übelstand abzuhelfen - sich eines bestimmten Jargons bedient, von dem man meint, er- sei die „Sprache des modernen Menschen”, etwa des Arbeiters, des Technikers, des Wirtschaftsmanagers. Ein Beispiel: In einer Probepredigt spricht ein Kandidat immer wieder davon, unsere Welt könne nicht verlorengehen, „solange der liebe Gott die Hand am Drücker hält”. Kann ein solches Bild, das aus der Welt mechanischen Funktionierens genommen ist, wirklich die Allmacht und Güte Gottes zur Anschauung bringen? ... Es ist wahrlich sehr schwer, sich auf den Geist der Zeit einzulassen - und sei es im besten Willen -, ohne zugleich ihrem Ungeist zu verfallen.

LeerMir sagte einmal ein Pfarrer: „Es geht doch einzig und allein darum, den Inhalt der Bibel in den Verstandskasten der Leute hineinzubringen.” Das heißt mit anderen Worten: Wenn ich einen gedanklichen Inhalt - hier also das Evangelium - habe, so kann ich ihn in jedes beliebige Gefäß schütten und darin weiterreichen. Wie naiv! Man kann der Sprache nicht ihren Rang, ihre Hoheit, ihre Wahrheit nehmen, ohne damit auch den Rang und die Substanz der jeweiligen Aussage zu zerstören.

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LeerVor kurzem wurde ich gebeten, bei der Schaffung neuer Kirchengebete mitzuhelfen; „aktueller” Gebete nämlich, die die konkreten Nöte unserer Zeit und alle unter diesen Nöten leidenden Menschen wirklich beim Namen nennen sollten. Ich habe das dann auch versucht. Später sind diese Gebete im Gottesdienst gebetet worden; aber als ich sie hörte, brach mir der Angstschweiß aus, weil ich spürte: „Das geht ja gar nicht so! Das ist ja ganz unecht, das ist vielleicht eine ‚moderne‘, aber keine lebendige Sprache! Wir müssen das schleunigst wieder einschmelzen und müssen es viel behutsamer machen... müssen es vom Leben ‚abreifen‘ lassen!”

LeerDie Sprache ist eben nicht eine beliebige machbare Form für einen beliebigen Inhalt. Sondern zwischen Form und Inhalt besteht ein innerstes unauflösbares Verhältnis, in der Predigt genauso wie etwa im dichterischen Kunstwerk. Und weil das so ist, kann man das Evangelium nicht in Form abstrakter Richtigkeiten „in den Verstandskasten hineinpredigen”. Auch die Predigt muß vom Leben des Predigenden und vom Leben der Gemeinde „abreifen” wie der Apfel vom Baum. Ich kenne Pfarrer, die sich ihren Predigttext für den folgenden Sonntag eine Woche vorher aussuchen und diesen Text dann in ihren Alltag hineinnehmen, sich von ihm fragen lassen in ihrer Familie, in ihrer Schule, an Kranken- und Sterbebetten; sich fragen lassen von dem Baum an der Straße und von dem Leid und Jubel der ihnen begegnenden Menschen; ja sich fragen lassen sogar von ihren eigenen Zweifeln und Hoffnungen... Und aus alledem gewinnt endlich ihre Predigt Gestalt. Vielleicht wird das eine rhetorisch sehr unvollkommene Gestalt sein, vielleicht nur ein Stammeln, ein hilfloses Hinweisen auf die Wahrheit, die an uns arbeitet. Aber doch haben solche Predigten etwas von dem an sich, was ich „gezeugt und geboren” nannte. Sie sind ein „erstes Wort”. Sie haben etwas Ursprunghaftes. Denn was da gesagt wird, ist durch die Leibhaftigkeit eines Lebens, vieler Leben hindurchgegangen, es atmet die Erfahrung vieler Herzen darin. Es ist Raum um eine solche Predigt. Schöpfungsraum. Die Weisheit der Dinge ist darin. Auch ihre Torheit vielleicht und viel Unzulänglichkeit. Dennoch: in einem einzigen Satz, einem Nebensatz voller Qual und Ungeschick, kann der Same sein, der sich in mein Herz senkt und es lebendig macht.

LeerErnst Jünger hat dem Protestantismus unserer Tage vorgeworfen, er schlage sich immer noch mit den Nachhuten der Aufklärung herum. Was unsere evangelische Predigt betrifft, so ist sie zweifellos in Gefahr, der „Klarheit” die Dimension der Tiefe, der Weisheit und des Geheimnisses zu opfern. Denn wenn ich einen Raum ganz schattenlos ausleuchte, so habe ich ihn eigentlich schon wieder verfinstert... In der jüngsten Lyrik geschieht heute das genaue Gegenteil hiervon. Da quillt das Wort aus den Tiefen des Prärationalen herauf: ganz unerhellt, aber voller Bildkraft und Musik; nicht mehr „verständlich”, aber doch so, daß es Ahnungen und starke Grundgefühle erweckt. Diese Art von Wortschöpfung fühlt sich nicht dafür verantwortlich, daß man sie „verstehe”. Sie glaubt daran, daß der Logos - wenn auch gleichsam blind und wild - jedenfalls Lebendiges zeugen werde. Ein sehr gefährliches „Vertrauen in das Wort”! Gefährlich deshalb, weil der Logos in Wahrheit ja beides enthält: Bild und Sinn; weil das Wort zugleich Geheimnis und Offenbarung ist.

LeerDennoch: daß heute das Wort in dieser bisher unerhörten Weise aus längst verschüttet geglaubten Tiefen aufsteigt, sollte uns zu denken geben und uns an unsere Verantwortung für die Sprache sehr dringlich erinnern. Diese Verantwortung weist uns darauf, daß das menschliche Wort nicht nur die leere, leicht zu handhabende Begriffshülse ist, aber auch nicht nur die dunkle, bittere Wurzel, die in der Humusschicht der Bilder und Gefühle treibt -: sondern das Element, in dem sich Bild und Sinn zu leibhafter, durchbluteter Gestalt vereinen. Nur dann wird unser Wort neue Zusammenhänge des Lebens stiften, wenn es vom Sinn erleuchtetes Bild und bildhaftes Zeugnis des Sinnes ist.

Quatember 1960, S. 103-107

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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