Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1960
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Leibhaftige Gnade
von Hans Schomerus

LeerDas Wort „Gnade” steht ursprünglich für die Gesinnung eines Höherstehenden für einen Niederen, also etwa eines Königs zu den Untertanen, eines Richters zu dem Angeklagten und sicherlich und zuerst - Gottes zu dem Menschen. Die Gnade hat also immer nur eine Stromrichtung, von oben nach unten, sie kann sich niemals umkehren und die Gesinnung eines Untertanen zu seinem König oder des Menschen zu Gott bezeichnen. Obwohl daher Gnade nicht denkbar ist ohne den, dem die Gnade gilt, so gehört sie doch ganz und gar auf die Seite dessen, der sie hat. Liebe kann in dem Geliebten Liebe erwecken und will das auch. Treue fordert von dem Anderen, dem die Treue gilt, wiederum Treue. Es gehört sozusagen zum Wesen der Liebe und Treue dazu, daß sie sich mit dem Anderen, dem Gegenüber, dem Partner eben in Liebe und Treue vereinigen und eins werden. Zum Wesen der Gnade gehört es, daß sie aus der unüberwindbaren Distanz heraus Gnade ist. Dies muß zunächst im Auge behalten werden, dann aber noch ein anderes: Die Gnade bezeichnet ein streng personales Verhältnis. Es kann also wohl ein König gnädig sein, nicht aber ein Staat; es kann wohl ein Richter gnädig sein, nicht aber das Recht; es kann immer nur eine Person gnädig sein, nicht aber eine Institution. Wer um Gnade fleht, appelliert immer an ein Herz, und nur aus einem Herzen kann Gnade kommen.

LeerVon hier aus versteht es sich nämlich, daß das Wort Gnade im heutigen Sprachstil nahezu als unpassend empfunden wird. Man überläßt es den Liebhabern des Pathos und den Kirchen, wenn man vom Sprachgebrauch des Rechtes absieht, von dem noch die Rede sein wird. Es widerspricht offenbar dem Zeitgeist, der ja unsere Sprache spricht, daß das Verhältnis zwischen einem Höherstehenden und einem Niederen so selbstverständlich in dem Wort Gnade vorausgesetzt wird, und daher ist es zum mindesten unter uns Menschen unerwünscht, daß ein Mensch dem anderen gnädig ist. In dem Maße, wie die moderne Gesellschaft sich versachlicht und entpersönlicht, spielt in ihr eine Gnade, die immer an ein Herz gebunden ist, keine Rolle mehr. Die moderne Gesellschaft ist prinzipiell gnadenlos, wie sie ja auch prinzipiell ohne Barmherzigkeit und ohne Dankbarkeit ist. Sie braucht weder Gnade noch Barmherzigkeit noch Dankbarkeit, da sie sozial ist, und dies in ausreichendem Maße. Offensichtlich ist es für einen modernen Menschen auch sehr schwer zu begreifen, daß der Appell an ein Herz eine höchst würdige Auffassung von Recht und Gerechtigkeit voraussetzt. Shakespeare wußte noch etwas davon, und eigentlich handelt „Maß für Maß” gerade von der in der Gnade gründenden Gerechtigkeit: „Wenn uns erst erlosch der Gnade Licht, Nichts geht dann recht!” (IV, 4.). Allerdings ist nun solche Sicht der Dinge nur möglich, wo von dem Verwalter des Rechts gefordert wird, daß er nicht ein bloßer Funktionär der Gesellschaft und ihrer Spielregeln sei, sondern Repräsentant, d. h. Vergegenwärtiger der Gerechtigkeit. Es ist daher zutreffend gesagt worden, daß das Verhältnis der Gnade zum Recht anders ist als das Verhältnis der Gnade zur Gerechtigkeit. Die Gnade gehört nicht in das Recht. Das Recht ist grundsätzlich gnadenlos. Wenn sich innerhalb des Rechtes so etwas wie eine Begnadigungspraxis zeigt, so hat doch diese Begnadigung wenig mit Gnade zu tun, sondern eigentlich nur etwas mit Billigkeit. Strenggenommen kann hier nicht von Gnade im Sinne von gratia gesprochen werden, sondern vielmehr von indulgentia, d. h. von einem Erlaß oder Nachlaß der Schuld. Unser heutiger Sprachgebrauch ist in diesem Zusammenhang mit Unklarheiten belastet. Wir sprechen von Schuld in einem Sinne, als sei damit die Tat selbst gemeint oder als sei Schuld synonym mit Vergehen oder Verbrechen. Im strengen Sinne aber hängt die Schuld an dem Täter, nicht an der Tat. Durch ein Vergehen wird der Täter schuldig, d. h. er schuldet etwas, nämlich die Strafe. Die Strafe erscheint hier als Bezahlung oder als Ausgleich der Schuld, die durch eine fehlsame oder unrechte Tat entsteht, und dies ist auch ihr ursprünglicher Sinn. Der Übeltäter begleicht mit der Strafe seine Schuld, und damit wird das Recht wieder hergestellt. Richten heißt in diesem Verständnis nichts anderes als Ausrichtung, Gleichrichtung, Wiederherstellung der richtigen Ordnung. Der Übeltäter ist schuldig, die Ordnung wieder herzustellen, und dies geschieht durch die Verbüßung der Strafe. Dies klingt ja sehr deutlich bei dem Wort Hamlets: „Die Welt ist aus den Fugen! Schmach und Gram - daß ich zur Welt sie auszurichten kam!”

Linie

LeerVon hier aus versteht sich die Begnadigung im Sinne der heutigen Begnadigungspraxis. Es kann geschehen, daß das Recht den besonderen Umständen einer Tat - denn zu den Umständen oder dem Sachverhalt einer Tat gehört ja auch der Täter! - nicht gerecht wird, so daß also durch die Ausübung des Rechtes in Wirklichkeit Unrecht geschieht. Hier kann die Begnadigung im vollen Sinnes des Rechtes stattfinden, und im allgemeinen wird sie auch so geübt. Das heißt, daß zur Begnadigung im heutigen Sinne eine volle Beurteilung des Sachverhaltes einschließlich der Person des Täters gehört. Daß heutzutage die Begnadigung auch einen pädagogischen Zweck erfüllt, spielt hier keine Rolle, da die Pädagogisierung des Rechtes bei unserer Überlegung nicht in Betracht gezogen zu werden braucht. Dagegen muß auf etwas anderes hingewiesen werden. Es gibt auch im Bereich des Rechtes eine Begnadigung völlig anderer Art, nämlich eine solche, die sich nicht aus der Konsequenz des genauen Sachverhaltes ergibt und infolgedessen gänzlich frei ist. Von ihr hatte man z. B. zu reden, wenn ein Souverän bei Antritt seiner Regierung oder an seinem Geburtstag oder aus einem anderen feierlichen Anlaß Begnadigungen aussprach und Strafen erließ. Hier geschieht die Begnadigung völlig frei und ohne jeden Grund und Sachverhalt allein aus der Souveränität des Herrschers. Hier trägt die Begnadigung wieder ganz rein den streng personalen Charakter der Gnade, und begnadigen kann nur eine Person kraft der Freiheit und der Würde, die ihr und nur ihr eigen ist, nicht aber einem System oder einer Institution.

LeerGeschieht nun Gnade in diesem Sinne, so geschieht zunächst ein Urteil, eine reine Deklaration, nämlich die Erklärung, daß der Schuldspruch' aufgehoben ist und nicht mehr gilt. Strenggenommen müßte auch hier gesagt werden, daß der wirkliche Inhalt der gratia nichts anderes sei als indulgentia. Gnade ist dann nichts anderes als Vergebung, etwa in dem Sinne, wie diese Frage in Shakespeares „Maß für Maß” verhandelt wird, wie überhaupt nach den sehr sorgfältigen Untersuchungen Sehrts (Vergebung und Gnade bei Shakespeare K. F. Köhler, Stuttgart 1952) die Gnade bei Shakespeare fast ausschließlich im Sinne der Vergebung, des Erlasses der Schuld, der indulgentia verstanden wird. In diesem Sinne gehört die Gnade nicht in das Recht; sie geschieht immer und ihrem Wesen nach von außerhalb des Rechtes. Aber sie geschieht kraft der Gerechtigkeit, die auch das Recht umschließt und trägt. Es ist daher dem Wesen der Gnade gemäß, wenn die Bibel sie so oft in einem Atemzug mit der Gerechtigkeit nennt: „Gerechtigkeit und Gnade.”

LeerDiese Geschichte des Wortes Gnade schwingt jedes Mal mit, wenn wir es gebrauchen, und es ist selbstverständlich, daß sie auch mitschwingt, wenn wir es in der theologischen Lehre und in der kirchlichen Verkündigung gebrauchen. Es ist durchaus möglich, daß im heutigen kirchlich-theologischen Gebrauch die rechtliche Seite dieser Geschichte ein Übergewicht erhalten hat und dies vornehmlich innerhalb der evangelischen Tradition, in welcher die Akzente sehr stark von der Rechtfertigungslehre gesetzt werden. Es bedeutet, daß die Gnade vorwiegend als Begnadigung, Gerechtsprechung, Vergebung und Erlaß der Schuld verstanden wird. Neuerdings wird diese Tendenz in bedenklicher und möglicherweise häretischer Weise dadurch verstärkt, daß man glaubt, für diese Deutung die Formel Luthers: simul justus et peccator (zugleich gerecht und sündig) ins Feld führen zu müssen. Natürlich ist diese Deutung insoweit durchaus legitim, als hier unzweideutig die Stromrichtung der Gnade von oben nach unten, von Gott zum Menschen, festgehalten und jede Deutung abgelehnt wird, die auch nur entfernt eine umgekehrte Stromrichtung im pelagianischen oder semipelagianischen Sinne (einer dem Menschen gegebenen Möglichkeit, dabei mitzuwirken) annehmen möchte. Wenn Gnade wirklich Gnade ist, dann ist sie völlig frei, in keinem Sinne vom Partner her zu bestimmende Gnade und nur in der Stromrichtung von oben nach unten möglich. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie nur ein Urteil ist und nur deklaratorischen Charakter hat. Sie ist im Gegenteil in des Wortes subtilster Bedeutung real, wirklich; denn sie wirkt; sie ist schöpferisch, und das kühne Bild der gratia infusa (eingeflößte Gnade), das einen gewissen Protestantismus oft so zu erregen scheint, ist durchaus gerechtfertigt. Aus lauter Sorge darum, daß die Gnade Gottes wirklich freie Gnade bleibt und in keinem Sinne vom Menschen bestimmt, spricht man von ihr so, daß sie keine Qualität im Menschen setzt. In Wirklichkeit aber ist Gnade nicht denkbar ohne realen Einfluß auf den, dem die Gnade gilt. Mit dem Wort „Einfluß” aber sind wir schon sehr nahe bei dem Verständnis der gratia infusa.

Linie

LeerEs ist einfach nicht wahr, daß der Christ Gottes Gnade in Jesus Christus sozusagen nur zur Kenntnis nimmt und aus dieser Kenntnis abstrakte Folgerungen zieht, worin nach einem weithin geübten theologischen Sprachgebrauch der Glaube besteht. Sondern es ist vielmehr so, daß wir in des Wortes realster Bedeutung in der Gnade Gottes leben, und zwar dies gerade deshalb, weil die Gnade Gottes ganz frei und streng personal ist. Denn die Gnade ist ja schon im ursprünglichen weltlichen Sprachgebrauch nicht die bloße Gesinnung einer Person zu einer anderen, sondern gerade ihre Ausstrahlung, ihre Personmächtigkeit. Es verhält sich in diesem Falle ähnlich wie etwa mit dem Segen, unter dem wir Heutigen im Wesentlichen einen bloßen Wunsch mit entsprechender Formel verstehen, der aber in Wahrheit eine leibhaftige Ausstrahlung einer Person ist und ebenfalls Bezeugung ihrer Personmächtigkeit. Erst von hier aus wird verständlich, was es mit den Gnadenmitteln auf sich hat: Es sind in der Tat Mittel, durch die hindurch Gottes herzliche Gnade in uns eingeht, ähnlich wie ja auch durch eine leibliche Berührung wie Handauflegen Geistiges und Geistliches geschieht, nicht etwa bloß symbolisiert wird. Mit anderen Worten: Die Gnade Gottes ist mehr als ein bloßes datum (Gegebenes), sie ist im augustinischen Sinne ein donum (Begabung), mit der Gnade geht der Gnädige ein in den Begnadeten, oder anders gesagt: Der Begnadete steht in der Gnade und lebt in ihr als in einem Element. Noch einmal: Die Gnade ist mehr als das, was wir heutzutage unter Begnadigung verstehen. Im ursprünglichen Sprachgebrauch bedeutete Begnadigung die reale Mitteilung einer Qualität oder auch einer Sache, sie bedeutete also dasselbe wie Begnadung.

LeerDie Gnade verwandelt den Begnadeten, und darum sind Gnadengaben - charismata - nicht data sondern dona, sie qualifizieren den Beschenkten und Begnadeten, so daß aus seinem Wesen heraus nunmehr die Weissagung, Erkenntnis, Prophetie möglich ist, ohne daß die Person zu einem bloßen Medium degradiert wird. Die heutigen Vorstellungen von Personen haben allzu wenig die Tatsache im Auge, daß Personen sich nicht nur mitteilen, sondern sich auch im Geiste vereinen können. Im Grund geschieht ja Gleiches in der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie vereint diese Menschen im Geist, und zwar gerade ohne daß die Personhaftigkeit auch nur im Geringsten gemindert würde - im Gegenteil! Die Liebe wird zum Element, in dem unser Personsein lebt und allein lebendig ist. Wer nicht in der Liebe bleibt, der bleibt nicht im Leben, sondern ist im Tode. Ebenso verhält es sich mit der Gnade Gottes. Durch die Mittel des Wortes und der Sakramente eint sich der allmächtige Gott, Vater, Sohn und Heilige Geist mit dem gerechtfertigten Sünder. Diese Einigung ist aber eine reale Verwandlung, wie wir ja auch im Geist und Wesen verwandelt werden, wenn wir lieben. Die Verwandlung durch die Gnade und in der Gnade gleicht einem Überwältigtsein; denn sicherlich ist nichts im Menschen, das der Gnade entgegenkommt. Insofern ist es keineswegs falsch, wenn Augustin von einer gratia irresistibilis (unwiderstehlicher Gnade) spricht, sofern man darunter nur einen geistigen Akt und nicht einen mechanischen oder magischen Vorgang versteht.

LeerWir denken zu gering von der Gnade Gottes, wenn wir sie nur im Sinne eines deklaratorischen Urteils verstehen, das noch dazu erst beim Jüngsten Gericht über uns ausgesprochen wird, also als endgültige Begnadigung. Wir werden nicht bloß freigesprochen, wir werden Freie! Wir werden anders als bisher, wir werden neu geboren und eine neue Kreatur durch den Schöpfer, den Heiligen Geist. Dies aber muß sich auch in unserem Leben, schon in diesem Leben zeigen und zeigt sich auch. „Wir sinds noch nicht, wir Werdens aber!” Das heißt: Wie in der Schöpfung jede Blüte ausgespannt ist zur Frucht hin, wie alle Kreatur ausgespannt ist zur Offenbarung der Kinder Gottes und dies ihr irdisches Wesen erfüllt, so sind wir in der Gnade ausgespannt, zu unserer Erfüllung hin. Denn Gottes Gnade ist leibhaftig.

Quatember 1960, S. 146-150

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
Haftungsausschluss
TOP