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von Hans Dombois |
Die Gnade ist ein Stiefkind unseres Rechtsdenkens. Sie wird freilich auch heute geübt. Die Oberhäupter aller Staaten üben das Gnadenrecht aus, erlassen Strafen, beseitigen Rechtsnachteile, die jemand verwirkt hat. Aber diese Gnade ist nicht sehr viel mehr als ein Mittel zur Beseitigung von Härten und Fehlgriffen. Sie ist ein Ausfluß der Staatshoheit, deren regelmäßiges gesetzliches Wirken einmal nützlicherweise durchbrochen wird. Aber eine wesentliche Rolle spielt sie nicht, weder in der Praxis noch in der Theorie. Man muß suchen, bis man über eine äußere Beschreibung der Rechtseinrichtung hinaus etwas Näheres erfährt. Die Rechtswissenschaft redet von Gesetz und Verfahren, von Rechten und Befugnissen, die dem Menschen zustehen, nicht von der Gnade, die ihm geschenkt wird. So mächtig ist niemand mehr und soll niemand mehr sein, daß er frei etwas schenken kann. In den Zeiten der Aufklärung wurde die Gnade überhaupt abgelehnt. Der Glaube an die Vollkommenheit eines rechtlichen Vernunftsystems ließ jede Durchbrechung des Gesetzes als grundsätzlich verfehlt, als menschliche Anmaßung und religiösen Aberglauben erscheinen. Dieser radikale Glaube ist freilich längst zerbrochen. Aber danach kam doch nur etwas Halbes. Ein so ernsthafter Rechtsdenker wie Gustav Radbruch konnte als Sozialist nicht an die sinnvolle Vollkommenheit bürgerlicher Rechtsordnungen glauben und rief deshalb nach der Gnade als dem Ausgleich der Härten und Widersprüche. Aber, als religiöser Sozialist theologisch liberal, vermochte er sie doch nur als hilfreiche Ausnahme von der Regel zu fassen. Was ist nun Gnade? Auf alle Fälle mehr und anderes als Durchbrechung und Ausnahme von einer geschlossenen Regelhaftigkeit des Rechts, welches in seiner Folgerichtigkeit mit der unerbittlichen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen in der klassischen Physik zu vergleichen wäre. Gnade ist vielmehr selbst ein Rechtsbegriff. Mehr noch: sie ist ein Rechtsvorgang, der mit größter Klarheit jedermann verständlich gemacht werden kann. Als Vorgang, als Prozeß gliedert sie sich in mehrere deutlich unterschiedene, miteinander verknüpfte Akte. 1. Sie setzt ein Verhältnis der Über- und Unterordnung voraus, in welchem der Unterworfene in einem Stande der Bedürftigkeit, der Schuld, der Unfreiheit, der Rechtsminderung lebt, ohne sich selbst aus dieser Not befreien zu können. 2. Der Entschluß des Machthabers, diese Not zu wenden, entsteht dadurch, daß in seinem eigenen Bereich ein Überfluß, eine überschießende Kraft vorhanden ist, welche er dem Notleidenden zuzuwenden sich entschließt. Durch diesen Überfluß ist auch der Schaden wettgemacht, den der schuldige Unterworfene ihm zugefügt hat. Wenn der Sieg errungen, der Thronfolger geboren, der Staat durch eine neue Ordnung befestigt ist, dann ist das Gemeinwesen so auf der Höhe, daß diese Flut auch die gestrandeten Schiffe wieder flottmachen kann. 3. Dieser innere Entschluß aber wird erst dadurch wirksam, daß er dem Schuldigen, Notleidenden, Gefangenen kundgetan wird. 5. Dazu bedarf der Gnadenakt der Annahme durch den Betroffenen selbst. Danach wird mancher nicht fragen, wenn er nur loskommt. Aber wer auf seinem Rechte beharrt, kann Gnade nicht empfangen. Er muß vielmehr in der Annahme seine Bedürftigkeit bekennen. 6. Die Gnade setzt den Begnadigten in Freiheit - ohne Bedingungen. Soweit Bedingungen mit ihr verknüpft werden, ist es keine Gnade. Wer Gnade übt, geht das Wagnis ein, daß diese Freiheit mißbraucht wird. Er vertraut darauf, daß die Gnade anders bindet als Forderung und Anspruch. Daß die Gnade Gemeinschaft schafft, ist unter uns fast vergessen. 7. Die Gnade legt keine Pflicht und kein Gesetz auf und begründet dennoch ein Rechtsband zwischen den beteiligten Personen. Wer sich gegen den gnädigen Herrn wendet, wer undankbar handelt, verwirkt die geschenkte Freiheit von neuem und völlig. Wir sehen dies deutlich bei vergleichbaren Rechtsakten freier unverdienter Zuwendung, bei der Schenkung und der Erbeinsetzung. Wenn der Beschenkte sich als undankbar erweist, kann der Schenker die Schenkung widerrufen. Den undankbaren Erben können die Miterben vom Erbe ausschließen. Nicht eine bestimmte, zu erfüllende Vertragspflicht, sondern das persönliche Band der Dankbarkeit ist verletzt. Wir sehen also, daß die Gnade nicht eine Art Blitz ist, der aus heiterem Himmel einschlägt und das Verdorbene plötzlich zu neuer Gestalt umschmilzt. Sie ist vielmehr ein Vorgang in mehreren Akten, welcher Voraussetzungen und Folgen hat. Alle drei, Voraussetzungen, Handlungen, Folgen greifen wie Glieder einer Kette so ineinander, daß offenkundig keines von ihnen fehlen darf. Aus der Beschreibung des Rechtsvorgangs sind wir unversehens in den Bereich der biblischen Botschaft getreten. Der aus dem Rechtsleben aufweisbare Vorgang der Gnade liest sich unwillkürlich wie eine Auslegung der Heilsgeschichte, aber auch wie ein Abriß der Dogmatik, die sie beschreibt. Wir sehen den Gnadenratschluß Gottes, die stellvertretende Erfüllung, die jenen Überfluß hervorruft, wir erfahren die Gnadenverkündigung. Der Rechtsbegriff der Gnade ist die Summe des Evangeliums. Die Rechtslehre aber, die dieses Wissen bewahrt und seine Vertretung vor keinem wissenschaftlichen Forum zu scheuen hat, verkündet so laut als irgendeine theologische Schule den Triumph der Gnade. Und wie tief müssen Theologie und Rechtswissenschaft in der Kenntnis elementarer Lebensvorgänge gesunken sein, wenn sie sich auf die Meinung einigen konnten, sie hätten nichts miteinander zu tun, sie schieden sich säuberlich zur rechten und zur linken Hand Gottes? Gnade zeigt sich nicht nur in der Heilung von Rechtsverlusten, sondern auch in der Erhöhung von Rechtspositionen: wie schon angeführt, in der Schenkung, in der Erbeinsetzung, aber ebenso in der Verleihung von Ämtern und der Staatsbürgerschaft. Nirgends kann hier von der vergeltenden, der ausgleichenden oder der zuteilenden Gerechtigkeit die Rede sein, in der jeder das Seine empfängt. In voller schöpferischer Freiheit schafft der Herr durch seine Gabe eine neue Ordnung, und eben darin verwirklicht er seine ganz andere, liebende Gerechtigkeit. Die Krone aller Rechtsgleichnisse in der Hl. Schrift ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem das ganze Evangelium in eins gefaßt ist und das wie kein anderes die Verkündigung der Kirche getragen und die Herzen zum Glauben bewegt hat. Dieses Gleichnis handelt von der Gnade und lehrt uns, einen zu engen, herkömmlichen Begriff dieser Gnade zu überwinden. Das Gleichnis ist zweiaktig. Wir sehen im ersten Akt die Verschuldung und Not des Sohnes, aber auch die Voraussicht des Vaters, der ihn von ferne sieht, der ihm barmherzig entgegenkommt. Wir hören das Schuldbekenntnis des Sohnes, der keinerlei Recht und Existenz mehr behalten hat. Trotzdem wird er wieder aufgenommen. Schon indem der Vater ihm um den Hals fällt, ist die Wiederaufnahme entschieden und vollzogen, unabhängig davon, welchen Platz er ihm in Zukunft in seinem Hauswesen zuweisen wird. Es wäre menschlich gesehen genug, wenn er wieder in die Rolle des zweiten Sohnes eingesetzt würde. Aber eben mit dieser Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, mit der Restitution läßt es der Vater nicht bewenden. Er erhöht ihn weit über seinen vorigen Stand, über den gehorsam im Hause verbliebenen Erstgeborenen. Die Wiederaufnahme als solche, in der die unverlorene Liebe mit unbeschreiblicher Macht hervorbricht, ist dennoch nur ein Durchgang zu diesem Ziel der Erhöhung, welches sich der Vater gesetzt hat. Kleid und Ring, welche dem Sohn angelegt werden, sind uralte, auch im indischen Recht gebrauchte Symbole für den Rechtsvorgang der Adoption. In dem Mißverstehen und der Mißgunst des älteren Sohnes wird deutlich, wie sehr dies nicht ein Akt begreifbarer Gerechtigkeit, sondern unbegreiflicher, grundloser Freiheit, schöpferischer Herrschaft und Herrlichkeit ist, die sich selbst darin erhöht, daß diese Erhöhung nach ihrem Willen geschieht. Aber eben dieser zweite Schritt, dieser zweite Akt ist unter uns nicht mehr voll verstanden worden. Er ist meist in der Gegenüberstellung zu der Haltung und dem Rechte des älteren Sohnes gedeutet worden. Ihn umfassender auszulegen hilft uns das rechtliche Verständnis. Der souveräne Wille des Vaters führt über die Wiederherstellung des Alten hinaus in die Einsetzung in einen neuen Stand, führt durch die Restitution hindurch und über sie hinaus in die Institution. Es wäre ein neuer Ungehorsam, wenn der Sohn sich daran genügen lassen wollte, der letzte der Knechte in seines Vaters Hause zu sein oder, wie es sich gehört, hinter seinem älteren Bruder zurückzutreten, an der Schwelle stehen zu bleiben, wo gewiß auch für den letzten Hausgenossen noch satt zu leben ist. Nach seiner Selbstbeurteilung, seiner Bescheidenheit, seiner Ergebung wird hier nicht gefragt. Hier gilt der überschwengliche Wille des Vaters allein und löscht auch die Eigenmacht der Selbsterniedrigung aus. Es ist die Tiefe und die Kraft der sakramentalen Kirche, daß sie von diesem freien Willen Gottes, von diesem Weg über die Wiederherstellung in die Neuschöpfung, in die Neueinsetzung weiß und eben diese im Sakrament des Altars bezeugt, vollzieht, feiert ohne Unterlaß. Es ist freilich eben darum auch ihre große Versuchung. Die unbegreifliche und unerträgliche Spannweite des Gegensatzes zwischen der Totalität der Schuld und dieser überschwenglichen Erhöhung verführt dazu, den Bogen zu verkürzen, dieses Verhältnis menschlichen Möglichkeiten und Vorstellungen anzupassen, einem nicht ganz verlorenen und verderbten Menschen doch auch wieder Gerechtigkeit, nicht vollkommene Gnade zuzumessen und angedeihen zu lassen. Die Begriffe des Vertrags, des Verdienstes, der Pflicht, der Angemessenheit, die hier auftauchen, sind ganz unzulängliche, wenn auch leicht verständliche Darstellungen des gemeinten Rechtsverhältnisses. Denn personale Rechtsverhältnisse können überhaupt nicht in Vertragsbegriffen verstanden werden, so wie die Ehe zwar auf einer Willenseinigung beruht, aber unbestritten kein Vertrag, sondern der Vollzug einer personalen Gemeinschaft ist. Die bis zum Überdruß erörterte Frage der religiösen Gesetzlichkeit ist höchst vordergründig im Verhältnis zu der Spannung, die jener Gegensatz zwischen Verderbnis und Erhöhung aus sich selbst erzeugt. Allmählich aber ist diese Einheit des Gegensatzes in einer fast schizophrenen Weise verfallen. Wo mit der radikalen Verlorenheit des Menschen Ernst gemacht wird, wird nicht mehr gewagt, jene überschwengliche neue Gemeinschaft zu glauben, wirklich ins Auge zu fassen und als gegenwärtig-zukommende zu feiern. Wo dies aber noch geschieht, da ist die Tiefe der Verlorenheit durch kluge Beschönigungen humanistischer Tradition überdeckt und entschärft. Quatember 1960, S. 150-154 |
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