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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerIn Madrid wurde mir die älteste evangelische Kirche Spaniens gezeigt: in einem sehr bescheidenen Stadtteil, um nicht zu sagen einem Armenviertel, in das Fremde im allgemeinen nicht kommen, in einem Hof, von der Straße aus kaum zu sehen, ein mehr als bescheidener Bau mit der Aufschrift „Jesus-Kirche”; ein ehemaliger Tanzsaal mit häßlichen gußeisernen Säulen, notdürftig als Kirche, wir würden wohl sagen, als Betsaal eingerichtet. Einziger Schmuck sind zahlreiche Bibelsprüche, sehr kunstlos an die Wand gemalt, also zweifellos etwas, was mit unseren Vorstellungen von der Ausstattung eines Gotteshauses kaum zu vereinigen ist. Aber dann wurde mir erzählt, daß sich hin und wieder katholische Spanier in diese evangelische Jesuskirche verirren und daß dann manche von ihnen zutiefst beeindruckt, ja erschüttert sind von dem Inhalt dieser Sprüche: „Ich bin der gute Hirte” - „Selig sind die Friedfertigen” und ähnlicher Worte, zumeist aus den Evangelien. Dieses alles, berichten die Leute dann, sei ihnen nämlich in ihrer katholischen Erziehung völlig fremd geblieben und erschließe ihnen ein ganz neues Verhältnis zum christlichen Glauben. Ich mußte sehr bescheiden meine ästhetisch begründete Abneigung gegen gemalte Bibelsprüche in Kirchenräumen revidieren, jedenfalls für diese uns freilich sehr fremdartigen Verhältnisse. - An dieses Reiseerlebnis mußte ich denken, als ich zufällig in dem Tagebuch, das ich vor bald 30 Jahren über einen Osteraufenthalt in Maria-Laach geführt habe, zu meiner Überraschung den Satz fand: „Einer meiner Studenten hat mir zu Ostern den (leider später geänderten!) Wochenspruch schön geschrieben und hierher (in das Gastzimmer des Klosters) geschickt: ,Siehe, ich will eure Gräber auftun und euch, mein Volk, aus denselben herausholen.' Dieser Spruch steht nun vor mir, und diesen Spruch zu meditieren, ist doch der viel stärkere Ostergottesdienst als die ganze Liturgie.”

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LeerIn dem Nachruf auf den verstorbenen (russisch-orthodoxen) Erzbischof Vitalis in Joinville (USA) lese ich u.a.: „Unvergeßlich waren seine Gottesdienste in ihrer himmlischen Einfachheit. Wenn er nicht amtierte, sondern nur der Handlung im Gottesdienst beiwohnte, wie wohltuend wirkte seine Anwesenheit, wenngleich er sich seiner Bischofswürde entäußerte! Er war aufmerksam, er nahm wirklich am Gottesdienst teil. Die heiligen Kirchenväter räumen der Aufmerksamkeit eine Vorrangstelle ein. Sie stellt nämlich das Einzige dar, was wir - von uns aus - darbringen können; alles andere erwarten wir von seiner gnädigen Hilfe.” - Das lateinische Wort für aufmerksam heißt „attendere”; das bedeutet eine Anspannung (der äußeren und inneren Kräfte) in der Richtung auf etwas. Ob ein Gottesdienst in diesem Sinn „spannend” ist, daß er jene gespannte Aufmerksamkeit erregt, hängt offenbar nicht daran, daß dabei neue und aufregende Gedanken vorgetragen werden.

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LeerDurch die Zeitungen ging die Nachricht, daß der israelitische Ministerpräsident Ben Gurion auf einer Konferenz verkündet habe, seine persönlichen wissenschaftlichen Forschungen hätten einwandfrei ergeben, daß Israel nicht das auserwählte Volk sei; diese Vorstellung beruhe vielmehr auf einer falschen Lesart an einer Stelle des Buches Josua, wo sozusagen Subjekt und Objekt vertauscht worden seien. Es heiße nicht, daß Gott das Volk Israel erwählt habe, sondern umgekehrt, daß Israel Gott erwählt habe. Wenn wir nun freilich nichts Näheres von diesen wissenschaftlichen Forschungen erfahren, so dürfen wir uns doch wohl die Bemerkung erlauben, daß die Frage, ob Gott ein Volk erwählt hat, ein Gegenstand des Glaubens und nicht etwa der wissenschaftlichen Forschung ist; und schwerlich läßt sich eine Überzeugung, die die ganze Heilige Schrift alten und neuen Testaments durchzieht, daß nämlich Gott dieses Volk zu besonderen Aufgaben in der Geschichte Gottes mit den Menschen berufen und in diesem Sinn „erwählt” hat, durch die andere Auffassung einer einzelnen Stelle beiseiteschieben. Im übrigen ist eine solche „Erwählung” - sowohl im Persönlichen, wie im größeren Bereich - nicht in erster Linie eine Bevorzugung und eine besondere Ehre, sondern vor allem eine nicht abweisbare Aufgabe von höchster Verantwortung. Dieser Verantwortung kann man sich nicht mit der Deutung einzelner Bibelstellen entziehen, selbst wenn Israel die begreifliche Absicht damit verbinden sollte, mit einer solchen Erklärung sein Verhältnis zu dem mächtigen Nachbarn Ägypten zu entspannen. Auch für diesen Versuch gibt es ja merkwürdige Parallelen im Alten Testament.

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LeerBei dem Marktflecken Prien, ja eigentlich innerhalb der weit auseinandergezogenen Siedlungsfläche, befindet sich ein Flugplatz. Es gehört natürlich zu den Erfordernissen eines „aufstrebenden” Ortes mit wachsendem Fremdenverkehr, daß auch der Flugbetrieb nach Möglichkeit gesteigert werden soll. Flugzeuge machen aber Lärm, und alle Kurorte stehen vor der fast unlösbaren Frage, wie man die Bedürfnisse eines Kurortes, in dem die Menschen noch Ruhe und Stille suchen, mit dem unaufhaltsam wachsenden Lärm des Verkehrs in Einklang bringen kann. Ein zahlenmäßig nicht sehr großer Kreis ist bemüht, den schrecklichen Lärmterror, den Lastkraftwagen, Motorräder und Flugzeuge gemeinsam verüben, nach Möglichkeit einzuschränken. Ein Zeitungsartikel, der sich - selbstverständlich - zum Fortschritt bekennt, verdächtigt die Lärmgegner, sie wollten das Rad der Zeit zurückdrehen. Nein, wir wollen es nicht rückwärts, sondern vorwärts drehen, nämlich dahin, wo der Mensch nicht mehr sich als Sklave der Technik wohlfühlt und sich den Lärmterror gefallen läßt, sondern die Technik so weit beherrscht, daß er sie wirklich im Dienst des Lebens und nicht des vermeintlichen Fortschritts benützt und nicht mehr die schuldige Rücksicht auf Leib und Leben der Mitmenschen für eine antitechnische Rückständigkeit hält.

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LeerWie das Wort im Apostolischen Glaubensbekenntnis, daß Christus ist „nieder gefahren zur Hölle”, zu verstehen sei, ist bekanntlich eine Frage, in der die lutherische und die reformierte Kirche nicht einer Meinung sind; jene rechnet die „Höllenfahrt” zum Stand der Erhöhung, diese zum Stand der Erniedrigung und hört nichts anderes daraus heraus, als daß Christus nun eben ganz und gar tot war. Kein Wunder, daß die Erläuterungen dieser Worte in den Katechismen weit auseinandergehen und zum Teil reichlich unbefriedigend sind. Pfarrer Benrath in Heidelberg, der kürzlich nach langem Leiden verstorben ist, war seit Jahren um den Gedanken bemüht, daß in dem biblischen Bericht, wonach Christus „den Geistern im Gefängnis gepredigt hat” (1. Petr. 3,19), die tröstliche Möglichkeit angedeutet ist, es gäbe auch nach dem Tod eine Frist der Buße und der Hinwendung zu Christus. Die Frage ist zwischen den Dogmatikern strittig; Benrath glaubte, eine ganze Anzahl von Bibelstellen für die von ihm vertretene Auffassung ins Feld führen zu können, und konnte noch kurz vor seinem Tod ein originelles kleines Schriftchen herausgeben, das zunächst in Form einer „Erzählung nach dem Leben”, dann in einer umfassenden Bibelarbeit die Frage zu klären sucht, „womit wir zwischen Tod und Gericht rechnen dürfen”. Die kleine Schrift mündet in einigen konkreten Vorschlägen, wie etwa jene Worte des Glaubensbekenntnisses in einem Katechismus für die Jugend ausgelegt werden müssen. Mein eigener Vorschlag lautet: „Hölle ist hier nicht der Ort der Verdammnis, sondern der Ort der Verstorbenen (= hel). Christus als Herr über Tod und Leben geht ein in das Reich der Verstorbenen und eröffnet auch den vergangenen Geschlechtern die Möglichkeit zum Heil.” ...

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LeerUnser Freund D. Alfred Stier, der vielen von uns als Leiter von Singwochen und als Musikerzieher bekannt ist, hat die Erfahrungen seiner langjährigen Arbeit zusammengefaßt in einer Schrift, die unter dem Titel „Musika - eine Gnadengabe Gottes” im Herbst d. J. im Verlag Carl Merseburg in Berlin erscheinen wird. Die Schrift enthält alle entscheidenden Erkenntnisse, die in der Singbewegung lebendig geworden waren, und sie erhält einen besonderen Wert durch eine Fülle von praktischen Vorschlägen und Anleitungen für die Bildung der Sprach- und Singstimme. Ich folge gerne der Aufforderung des Verfassers, in Quatember diesen Hinweis zu geben und verweise im übrigen auf die Mitteilung des Verlages über einen ermäßigten Subskriptionspreis.

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LeerEs besteht eine gewisse Aussicht, daß in der Reihe der Cantate-Schallplatten eine dokumentarische Wiedergabe der Osternachtfeier (nach der im Johannes Stauda- Verlag erschienenen und von uns praktizierten Ordnung) herausgebracht wird. Eine solche Schallplatte kann natürlich den Gottesdienst selbst nicht ersetzen, aber sie kann solchen, die keine Möglichkeit haben, die Feier selbst mitzuerleben, wenigstens einen gewissen Eindruck von ihrer Größe und Schönheit erschließen und das Verlangen nach der leibhaften Feier dieses Gottesdienstes erwecken. ...

Quatember 1960, S. 189-191

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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