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von Horst Bürkle |
Vortrag während des 8. ökumenischen Gespräches in Kloster Kirchberg vom 13. bis 16. April 1972 Die heutigen Fremdreligionen durchlaufen auf Grund der neuen Lage in ihren Gesellschaften einen Prozeß der Veränderung. Als Beispiel dafür sei auf die folgenden Phänomene verwiesen: An die Stelle einer bisher geschichtslos zyklischen Welt- und Daseinsdeutung tritt auf Grund konkreter politischer und wirtschaftlich-technologischer Zielsetzungen der "Aufbruch zur Zukunft". Sie entwickeln eine auf gegenwärtige Aufgaben bezogene Ethik. Neben einer an die Adresse des modernen Menschen gerichteten Apologetik der alten religiösen Inhalte tritt ein neuer Ruf zu religiöser Praxis im Kult. Aus bisherigen "Geburtsreligionen" werden Bewegungen mit universalem Auftragsbewußtsein ("Mission"). In diesen Wandlungsprozessen hat der direkte (Mission und junge Kirche) und der indirekte (geistige, zivilisatorische und politische) Einfluß des Christentums eine wesentliche Rolle gespielt. Darum sind gerade diese, durch die veränderte Weltlage verursachten Phänomene der Reaktion und der Reformen in fremden Religionen für die theologische Besinnung der Kirche von primärer Bedeutung. Die These, daß die Erneuerung der Kirche aus der Wahrnehmung ihrer Sendung in die Welt (Walter Freytag) erfolgt, erhält von daher eine neue Dringlichkeit. An die Stelle der falschen These eines "religionslosen" Christseins tritt die Notwendigkeit, gerade um des Evangeliums willen die religiösen Momente auf seiten des Menschen in seinem Verhalten dem Evangelium gegenüber wieder ernstzunehmen. Die einseitige rationale Einengung christlicher Glaubensinhalte und die Reduktion gottesdienstlicher Praxis auf "Information" ist auch für den abendländischen Menschen nicht länger zumutbar. In der Begegnung mit Hindus, Buddhisten und Moslems, aber auch mit Menschen aus afrikanischen Stammesreligionen und in der Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und Leben fällt neues Licht auf Dimensionen biblischen Christseins, die uns auf Grund unserer heutigen "lnteressenlage" abhanden gekommen sind. Bei dieser kritischen Rückfrage an unser eigenes Christentum auf Grund religiöser Praxis und Erneuerung in anderen Religionen geht es nicht bloß um eine missionarische "Methode". Indem sich die Kirche auch durch die religiöse Praxis von Hindus, Buddhisten und Moslems zu neuem eigenen Gehorsam herausfordern läßt, lebt sie Ihrer Bestimmung als mysterium mundi.
Das Ganze bleibt ein Angebot für die Diskussion, Es ist ergänzungsbedürftig. Die einzelnen Beispiele haben lediglich "Modellcharakter". An ihnen soll etwas Prinzipielles verdeutlicht werden, was je nach Situation und Dialogpartner noch besonders zu konkretisieren ist. Themen: Die Kirche als organische Einheit (Afrikanische Stammesreligionen) Die Wiederentdeckung des Mysteriums (Asiatische Religionen) Kommunikation durch das Symbol Die Feier als religiöses Grunderlebnis (Pfingstkirchen) Kirche als Ort des gemeinsamen Lebens Die Kirche als organische Einheit Nicht der einzelne steht im Mittelpunkt des religiösen Lebens, sondern die gesamte Gemeinschaft. Das zeigt sich sehr deutlich etwa im Falle der sogenannten "rites de passage", wie Namensgebung, Initiation, Hochzeit oder Bestattung. In allen diesen, das Leben des einzelnen begleitenden Riten geht es durchaus nicht nur um einen individuellen Akt religiösen Handelns, der sich auf die Person des Betreffenden beschränkt. In diesen Riten handelt vielmehr die ganze Gemeinschaft, indem sie den einzelnen, seinen Altersstufen entsprechend, tiefer und enger in die bestehende Gemeinschaft einverleibt. 2. Es ist kein Zufall, daß die afrikanischen Christen besonderen Zugang zum Alten Testament haben. Auch hier bilden die Zugehörigkeit zum Zwölfstämmeverband Israels, die Landnahme und der gemeinsame Ursprungszusammenhang (Erzväter) die entscheidenden Voraussetzungen für das Verhältnis zu Jahve. Das Neue Testament hat darin prototypische Aussagen für das Verhältnis und für die organische Einheit von Christus und Kirche gesehen. Aus dem Stammesverband Israel wird der universale Verbund des Leibes Christi. Die Zugehörigkeit zu ihm im Sinne der Gliedschaft ist nicht weniger konkret als einst die Blutsbande und die Stammeszugehörigkeit. Die Symbole, die das Neue Testament für diesen Sachverhalt wählt, sprechen eine deutliche Sprache: Im Blick auf seine Jünger spricht Jesus von seinen wahren Verwandten': ". . . und er streckte seine Hand aus über seine Jünger und sprach: "Sieh da, das ist meine Mutter und meine Brüder!" (Matth. 12, 49). Die sakramentale und mystische Einheit in der Zugehörigkeit zur Auferstehungswirklichkeit Jesu Christi hat dann Folgen für Gestalt und Handeln der Kirche. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele. a) Die Konfirmation: Sie ist dann nicht nur der Abschluß einer Zeit kirchlicher Unterweisung oder die nachträgliche individuelle Entscheidung des einzelnen zum Bekenntnis der Kirche. Vielmehr hat sie - der Taufe als Initiationsakt in die Kirche mit Christus entsprechend - mit der weitergehenden Integration in diese Gemeinschaft zu tun. Sie "promoviert' - darin einem stammesreligiösen Initiationsritus vergleichbar - innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft zur Vollgliedschaft. Dann ist sie mehr als Ausdruck eines Belehrungsvorganges. Sie ist immer auch "Übergangsritus" im vollen Sinne des Wortes: Der Prozeß der Geschlechtsreife, die beginnende Berufszeit, der Abschied von der Kindheit und die beginnende geistige Reife spielen hier im Handeln der kirchlichen Gemeinschaft an ihren jugendlichen eine Rolle. b) Tod und Bestattung: Die fremden Religionen erinnern die Kirche daran, daß die Gemeinschaft in Christus die in ihm Wiedergeborenen aller Zeiten umfaßt. Wir dürfen die Antwort auf die Frage nach den Toten nicht den Okkultisten und den Ersatzreligionen überlassen. Das Neue Testament hat "Leib Christi' als die Gesamtheit derer, die in Christo waren, sind und noch sein werden, verstanden. Von daher sind die Toten nicht einfach abgeschrieben und für die christliche Gemeinschaft erledigt. Sie sind auch nicht nur Objekte frommer Erinnerung, sondern müssen in der Liturgie und im Kult der Kirche auf Grund ihrer bleibenden Zugehörigkeit zum gleichen Auferstehungsleib Jesu Christi weiter vorkommen. 3. Das bedeutet, daß wir in der Frage nach der Gestalt der Kirche nicht mehr von der abendländisch geprägten Vorstellung einer sich hier und jetzt allein zum Predigthören versammelnden Gruppe ausgehen dürfen. Die verschiedenen Stadien des Lebens (Empfängnis, Geburt, Reife, Ehe, Bestattung) sind nicht nur "natürliche" Ereignisse im Leben des einzelnen. Sie verlieren ihre bloß "profane" Bedeutung, indem sie sakramental mit dem Leben der Kirche als ganzer in Verbindung gebracht werden. Die Wiederentdeckung des Mysteriums Nun könnte man sagen: Alles dies eben ist das Unchristliche, das Fremde, was diese Religionen von der biblischen Offenbarung als Wortoffenbarung. unterscheidet. Demgegenüber wäre festzuhalten: Die tiefe Ehrfurcht, wie sie im Schweigen des Buddhisten und in der unio mystica eines advaita-Hindu zum Ausdruck kommt, erinnert auch uns an eine verlorene Dimension biblischer Frömmigkeit. 2. Das Mysterium der Nähe Gottes als des "Christus-in-uns" setzt eine mystische Beziehung voraus. Das schweigende Leiden eines Martyriums im Namen Jesu Christi kann eine lautere Sprache sprechen als ein gedanklicher Vortrag. Alles kann. für den Glaubenden Interpretament und Erfahrungshorizont dieser Christusbeziehung werden: Die Natur, das Leben selber, die anderen. So wie sich die echte Liebe zweier Menschen nicht im Reden übereinander oder zueinander erschöpft, sondern im Miteinandersein erleben läßt, so erfährt die Gemeinde die Gegenwart ihres Herrn als ein unaussagbares Geheimnis. Die uns seit Kierkegaard geläufige Deutung christlicher Existenz als eine Kette je neuer Entscheidungen trifft das neutestamentliche Verständnis der Gemeinde ebensowenig wie etwa das Phänomen Ehe oder das Eltern-Kind-Verhältnis. Familie besteht keineswegs nur darin, daß sich die Kinder täglich neu für ihre Eltern entscheiden. Mit ihrem ganzen Sein repräsentieren sie vielmehr die bestehende Familie. Sie sind die Manifestation dieser bestehenden Einheit von Mann und Frau, sie gehören zu dieser Gemeinschaft und konstituieren sie nicht erst durch Bekundung ihres individuellen Wollens. 3. Von daher stellt sich die Frage nach der Gestalt unserer kirchlichen Räume, die diese Dimension des Kirche-Seins wieder Ausdruck und Gestalt werden lassen. Welche Gestalt müßten unsere sakramentalen Räume haben, um durch ihre Anlage, Lichtführung, durch bergende Stille oder durch einen Ausblick, den sie freigeben, das mystische Verständnis des Leibes Christi durch Meditation und Andacht zu fördern? In zen-buddhistischen Klosteranlagen in Japan ist mir aufgefallen, daß der Raum im Grunde genommen nur dazu diente, den Blick in einen Garten freizugeben, der in seiner symbolischen Anlage Mittel zur Meditation und zum Sich-Vertiefen in das Unanschauliche ist. In einer Zeit wie unserer, die in Verkennung unserer wahren "Humanität' die Göttin Vernunft auf ihre Altäre gehoben hat, muß sich die Kirche dagegen wehren, den Zugang zum Geheimnis der Inkarnation auf den Engpaß rationaler Verstehensprozesse zu reduzieren. Vorbildlich für das, was heute nottut, scheint mir der Neubau der Benediktinerabtei St. Bonifaz in München zu sein. Hier ist in einem fast quadratischen, also auf Gemeinschaft hin orientierten Kirchenbau, der bereits durch seine Lichtführung von oben eine eigene Atmosphäre gewinnt, dafür gesorgt, daß der einzelne Stille und Andacht finden kann. In Sichtbeton gegossen befinden sich, von außen zugänglich, an den Wänden Meditationslogen, die nur noch durch Sehschlitze mit dem Altarraum in Verbindung stehen. Während draußen der Verkehrslärm als Zeichen eines gehetzten und verplanten Großstadtalltages anbrandet, stehen diese "Zellen" - eingefügt in den Sakralraum der Gemeinde - als Orte, an denen der Christ dem Geheimnis seines wahren Seins nachspüren kann. Kommunikation durch das Symbol 2. Das Neue Testament gibt uns genügend Beispiele dafür, daß solche In-Dienstnahme auch für die Vermittlung des Christusgeheimnisses gilt. Alle Kunst hat ihren Anfang in solchem sakralen Vermittlungsprozeß. Die Verkündigung Jesu vollzieht sich unter ständiger symbolischer Verwendung naturhafter Gegebenheiten. Die Früchte, die auf dem Felde wachsen, ein Baum, das Wasser, das Licht - der gesamte Bereich der Natur vermag in den Dienst der neuen Wirklichkeit zu treten, die den Bereich der Empirie und der alltäglichen Erfahrung weit überschreitet. Das gleiche gilt im Blick auf die symbolischen Verwendungen im Bereich alltäglicher Erfahrungen des Lebens: das Mahl, der Hirte, die Hochzeit. Brot und Wein treten in der Eucharistiefeier in den Dienst der sakramentalen Präsenz. Das Wasser im Taufakt ist nach Luther nicht mehr nur "schlicht" Wasser, und auch das Öl, mit dem der Schwerkranke gesalbt werden soll, ist von seinem sakramentalen Geheimnischarakter her etwas anderes als das Öl eines pharmazeutischen Präparates. Das Neue Testament ist voller Beispiele, daß auch die Materie in den Dienst des Heiligen zu treten vermag. 3. Damit stehen wir vor der Frage, in welcher Weise die Gestaltung des Ortes, an dem die Gemeinde sich trifft oder miteinander lebt, dazu verhilft, daß der symbolische Bereich wieder voll für die Vermittlung und für die Begehung der Gegenwart Jesu Christi in Anspruch genommen werden kann. Die Feier als religiöses Grunderlebnis 2. Wir können hier nicht einfach Ausdrucksweisen und kultische Formen etwa afrikanischer Bantusekten zum Vorbild nehmen. Aber wir müssen uns durch diese Phänomene fragen lassen: Ist unser Gottesdienst nicht ein einseitiger Akt der rationalen Information, Belehrung und Erkenntnis? Was kann hier noch an elementarem gemeinsamen Erleben, an erhebender und begeisternder Feier, an Freude und echter Erbauung geschehen? Haben wir diese Erwartungen nicht längst an den Konzertsaal, an die Kunstausstellung und an die Bühne delegiert? Langeweile aber ist das Gegenteil von Erfahrung des Heiligen - also dessen, was von seinem Wesen her bewegend und erregend sein sollte. Die neutestamentlichen Gemeinden haben in der Gegenwart Jesu Christi, das heißt in der Erfahrung seiner Auferstehungswirklichkeit, Verzückung und Ekstase erlebt. Der Apostel setzt voraus, daß es Zungenreden gibt. Er verlangt nur, daß es anderen zugänglich gemacht wird durch Deutung. Er selber fühlte sich in den "Dritten Himmel" versetzt, spricht von Entrückung und Verzückung in der Gegenwart Jesu. Ich will hier wahrlich nicht das Pfingstlertum anpreisen. Aber die Schizophrenie unseres und vor allem des Lebens unserer jungen Generation irritiert mich: Der Forderung nach Rationalität auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite ein Verlangen nach vitalem und ganzheitlichem Ausdruck, in Beat-Sessions und sonstigen Happenings. Da ist Bewegung, Hineingenommenwerden in einen atmosphärischen Sog. Keine Worte könnten mehr umschreiben und vermitteln, was hier hinreißend erlebt wird. Die Flucht zu den Rauschgiften scheint mir ebenfalls eine Form der Reaktion auf eine Anthropologie zu sein, die den Menschen nur noch als animal rationale kennt. Wir Christen sind hier keine Ausnahme. Muß sich ein Angehöriger etwa der Simon-Kimbangu-Kirche im Kongo oder einer der zweieinhalb Millionen Mitglieder der Risho-Kosei-Kai-Bewegung in Tokio nicht reicher beschenkt vorkommen als sein afrikanischer oder japanischer Landsmann, der am Sonntagvormittag zwischen 9 und 10 Uhr einem westlich geprägten christlichen Predigtgottesdienst beiwohnt? Haben wir das abendländische und insbesondere das protestantische Gewand christlicher Gemeinschaft nicht zum neuen Gesetz gemacht, das das Evangelium in sich aufgesogen hat? 3. In welcher Weise kann der sakrale Raum wieder dazu verhelfen, daß die Gegenwart Jesu Christi von seiner Gemeinde gefeiert werden kann und ganzheitlichen Ausdruck findet? Die Religionen erinnern uns daran, daß die gottesdienstlichen Stätten gerade darin "funktionsgerechte' Bauten sind, daß sie den besonderen Charakter des Ortes als "heiligen" Ort zum Ausdruck bringen. In Anlage und Atmosphäre signalisieren sie das "Ganz-Andere". Wer als Moslem die Moschee betritt, reinigt sich vorher durch Waschungen und zieht seine Schuhe aus; denn hier ist heiliger Boden in Allahs Gegenwart. Das expressive Element, das jeder guten Architektur eigen ist, hat gerade für die Gestaltung des Kultraumes seine Bedeutung. Erst hier wird den Menschen das Unterhaltungsgespräch vergehen, wie es bis zum Beginn des Orgelspieles zumeist vor unseren Predigtgottesdiensten üblich ist. Zur Feier und zur Begehung gehören Bewegung und Wechsel. Sitzen, Stehen und Knien sind Minimalforderungen an einen Gottesdienst, der sich vom Vortragspublikum unterscheiden soll. Ein großer Teil des Lebens der Gläubigen in anderen Religionen spielt sich draußen und in der Öffentlichkeit ab. Der Umzug, die Prozession, die Umgehung des Heiligtums - das alles sind Formen, die ihren Sinn und ihre Bedeutung haben. In einer Kirche, die nur noch den Predigtstuhl kennt, ist es so gut wie ausgeschlossen, daß der Gottesdienst ein "geistliches Happening" unter Beteiligung vieler zur Ehre Gottes werden kann. Ich entsinne mich an die Feier der Weihnacht in einer kleinen afrikanischen Landgemeinde etwa 50 Kilometer vor Tanga. Hier wurde auch "verkündet", aber der Pfarrer war so etwas wie der "Regisseur", der den vielfältigen Wechsel von Gesängen, Gebeten, Zeugnissen und spontanem Echo auf das Erleben dieser heiligen Nacht in eine ordnende Reihenfolge brachte. Liturgie ist dazu kein Gegensatz: Sie ist die gestaltete und geformte Spontaneität eines pluralistischen Gotteslobes und der gemeinsamen Feier: Das dramatische und dynamische Element, das echtem liturgischem Handeln eigen ist, erfordert Raum und Bewegungsfreiheit. Kirche als Ort des gemeinsamen Lebens Neue Strukturen für gemeinsames Leben einer Religionsgemeinschaft finden sich zum Beispiel auch in den rasch wachsenden Industriegebieten Südafrikas unter den "unabhängigen Kirchen" der Bantu. In der neuen Heimatlosigkeit der Arbeitslager treten sie an die Stelle der einstigen stammesreligiösen Gemeinschaft, in der der einzelne durch das Ganze in seinem Leben geschützt wurde. Diese neuen, oft um die Person eines "Propheten" sich scharenden synkretistischen Gruppen entwickeln neben einem spezifisch afrikanischem Frömmigkeitsausdruck und neben der Wiederentdeckung des charismatischen Elementes vor allem gemeinschaftliche Verantwortung für das Leben ihrer Anhänger. So gibt es vielfach einen geregelten Schutz des einzelnen bei Verlust seines Arbeitsplatzes durch die Hilfe der andern. Besonders ausgebildet ist auch das System genossenschaftlicher Sterbekassen, in denen sich die Bedeutung der alten stammesreligiösen Bestattungsriten unter den veränderten Bedingungen des großstädtischen Milieus widerspiegelt. In diesen wie auch in anderen neueren religiösen Bewegungen führt die "Gemeinschaft des Geistes" zu neuen Formen eines gemeinsamen Lebens. Aus dem Vollzug des Kultes erwächst die neue Heimat für den Entfremdeten und Heimatlosen. Diese Bewegungen erliegen nicht der utopischen Vorstellung, daß diese Welt durch richtige Strukturen und Gesellschaftsordnungen in ein Paradies verwandelt werden könnte. Statt Idealisten en gros und Stümper im Detail zu sein, nehmen sie das Detail am menschlichen Dasein wichtig: seine Einsamkeit, seine Traurigkeit, seine Ängste, Schuld und Unruhe. Eine junge Benediktinerin berichtete uns kürzlich auf einer Akademietagung in Tutzing über das "gemeinsame Leben", das sie seit einigen Jahren mit indischen Frauen in einem Ashram führt. Es war deutlich, daß hier Religion im Dienste der Erneuerung des ganzen Menschen sich versteht und in dem Leben dieser Ashram-Gemeinschaft konkrete Zeichen ihrer Verwirklichung setzt. Wir haben mit Blick auf einzelne Erscheinungen in fremden Religionen nach der Gestalt unserer Kirche gefragt. Wie kann sie universale Gemeinschaft als Ausdruck uneingeschränkter Gegenwart ihres Herrn werden? Mit anderen Worten: Wie vermag sie die Grenzen zu transzendieren, die ihr durch ihre abendländische Geschichte bis heute gezogen scheinen? Es gibt zweifellos auch noch anderes, was in diesem Zusammenhang zu nennen wäre. Aber wo wir von Gestalt sprechen, können wir von der äußersten Konkretion nicht absehen, die Gestalt gewinnen kann: Die Manifestation der Gnade im Medium des Künstlers und des Baumeisters. Eine schlechte Predigt kann in Vergessenheit geraten, eine theologische Unschärfe ist korrigierbar. Aber der Ort, da Gottes Gegenwart erlebt, bezeugt und gefeiert wird, wird durch die Gestalt, die wir ihm geben, zugänglich oder unzugänglich. Er ist Interpretament der göttlichen Gnade oder Hindernis, Gefäß oder Barriere. Quatember 1972, S. 138-146 © Prof. em. Horst Bürkle |
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