Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1973
Autoren
Themen
Stichworte

Wider eine leiblose Kirche
von Gisela Schmidt

LeerDie vom ökumenischen Rat der Kirchen herausgegebene Studie „Die Kirche für andere” und das Berneuchener Buch gehen von einer ähnlichen Problemstellung aus. In beiden Arbeiten geht es in erster Linie darum, den Auftrag der Kirche zu erfassen, um die Kirche von ihrem Auftrag her gestalten zu können. Die ökumenische Studie hat für das Bemühen, den Auftrag der Kirche zu bestimmen, entscheidende Anregungen von der Missionstheologie empfangen. Vor allem den Begriff „missio dei” hat sie von dort übernommen, zu dessen Bedeutung und Geschichte hier deshalb etwas gesagt werden muß. In den letzten Jahrzehnten war die christliche Mission immer heftigeren Angriffen ausgesetzt. Vor allem wurde ihr die enge Verflochtenheit mit dem Kolonialismus und die Zerstörung der Sozialstruktur in den Völkern, unter denen missioniert wurde, zum Vorwurf gemacht.

LeerHinzu kam noch, daß der Absolutheitsanspruch des Christentums von immer weiteren Kreisen als problematisch empfunden wurde. Die Zerspaltenheit der Christenheit brachte weitere Probleme. Jedenfalls verbreitete sich das Empfinden, daß die kirchliche Mission am Ende mehr Schwierigkeiten und Leiden als Gutes brachte. Angesichts dieser Situation geriet die Mission in eine Grundlagenkrise. Hatte noch Warneck († 1910) das Recht zur Mission aus der Schrift abgeleitet und sie erst sekundär mit der christlichen Kulturaufgabe und der sozialen Hebung der Völker begründet, so schienen solche Argumente in der neuen Lage nicht mehr weiterzuhelfen. Man suchte also nach einer neuen Grundlage und entdeckte den Begriff „missio dei” (Sendung Gottes) in seinem streng theologischen Charakter wieder.

LeerDer Missionswissenschaftler Georg F. Vicedom legte die missio dei 1958 in seinem gleichnamigen Buch als Grundlage und Leitgedanken der Theologie der Mission dar. Bereits der Begriff „missio dei” besage, daß die Mission, die Sendung, Gottes eigenes Werk sei. Mission und Kirche gehörten folglich zusammen. „Die Kirche hat also nicht zu entscheiden, ob sie Mission treiben will, sondern sie kann sich nur entschließen, ob sie Kirche sein will.” Die missio dei sei bereits in der Trinitätslehre enthalten: der Vater sendet den Sohn, Vater und Sohn den Heiligen Geist. Diese auf die Heilsgeschichte bezogene missio dei specialis (besondere missio dei) sei Voraussetzung der Mission der Kirche. In seiner Sendung sei Gott gleichzeitig ihr Absender und ihr Inhalt: „Gott offenbart sich dadurch, daß er selbst die Sendung vollzieht.” Deshalb ist die Mission der Kirche die Fortsetzung des Heilshandelns Gottes. Ziel der missio dei sei die Aufrichtung des Reiches Gottes durch Eingliederung von Menschen, die dadurch die Gaben des Reiches empfangen. Die Menschenwelt also ist der Adressat der missio dei. Das Reich aber wird als Gegenwart und Zukunft gesehen. Die Mission der Kirche gewinnt so eschatologischen Charakter. Sie bereitet das Kommen Jesu vor. An wichtigen Stellen seiner Ausführungen bezieht sich Vicedom auf Arbeiten von Hoekendijk.

Linie

LeerIn den Vorarbeiten für die ökumenische Studie und in der Studie selbst wurde dieser Ansatz weitergeführt. Bereits in früheren Veröffentlichungen hatten Margull und Hoekendijk diese Weiterführung betrieben. In der Studie wird nochmals unterstrichen, daß die Kirche eine Funktion der Mission, der göttlichen Sendung sei. Doch wurde die Bedeutung der Kirche im Rahmen der missio dei abgeschwächt: „So lange wir nur davon ausgehen, daß die Kirche Mission treibt, und nicht davon ausgehen, daß die Mission der Kirche lediglich der Mission Gottes folgt, so lange werden wir Entscheidendes versäumen, nämlich den missionarischen Auftrag der Kirche von Gottes Mission in Christus her zu formulieren” (Mission als Strukturprinzip).

LeerDagegen wurde die Aussage, daß die Welt Adressat der missio dei in Christo ist, wiederum sehr hervorgehoben: „Wir müssen erkennen, daß das Christusereignis die Welt in unumkehrbarer Weise verändert hat.” Die Gabe des Gottesreiches wurde mit dem alttestamentlichen Begriff Schalom umschrieben, mit dessen Hilfe es gelang, hinter die Differenzierung von Heil und Wohl zurückzugehen. Auch wird im Gegensatz zu Vicedom jedes apokalyptische Denken und die damit gegebene bleibende Transzendenz des Reiches abgelehnt. Dadurch will man jede Entwertung der Welt unmöglich machen. Die Konzeption von Vicedom ist damit völlig umfunktioniert. Doch ist auffallend, daß in der gesamten neueren Interpretation der missio dei - also auch bei Vicedom - der Gedanke des Gerichtshandelns Gottes nur am Rande eine Rolle spielt.

LeerVor allem zwei sachliche Gründe mögen die Verfasser der ökumenischen Studie veranlaßt haben, gerade dem Begriff der missio dei einen zentralen Platz in ihrer Arbeit einzuräumen. Einmal die Tatsache, daß der Begriff missio dei schon bei Vicedom so weit gefaßt ist, daß er Gottes gesamtes Handeln an der Welt einschließt. Gewiß versucht Vicedom zu differenzieren, indem er den Begriff missio dei specialis einführt, doch trägt diese Unterscheidung bei ihm weiter nichts aus. Diese Undifferenziertheit des Begriffs kommt nun den Verfassern der ökumenischen Studie sehr gelegen, denn sie erleichtert die Gleichsetzung von Heil und Wohl. Demgegenüber weist W. Krusche mit Recht darauf hin, daß es angemessener sei, die missio dei präzis als die Sendung des Sohnes in die Welt zu ihrer Rettung zu fassen. Damit würde das schöpferisch-erhaltende und das eschatologische Handeln Gottes, Schöpfung und Neuschöpfung, voneinander unterschieden, was nicht automatisch bedeuten müßte, daß sie voneinander getrennt würden.

LeerDer zweite Grund, der die Verfasser der ökumenischen Studie veranlaßt haben dürfte, dem Begriff „missio dei” so wesentliche Bedeutung zuzuerkennen, ist die Tatsache, daß ein Element der Bewegung darin enthalten ist. Das gibt dem Begriff eine gewisse Nähe zu dem des Wandels. Und so versuchen die Verfasser, die theologische Bedeutung des geschichtlichen Wandels mit Hilfe der missio dei herauszuarbeiten. Als sendender Gott ist der Gott der Bibel für sie ein geschichtlicher Gott, denn der Kontext seiner Sendung ist die Geschichte. Die missio dei schafft Wandel: „Darum begreifen die Christen die Wandlungen in der Geschichte in der Perspektive der Mission Gottes.”

Linie

LeerDie ewige Wahrheit wird gegen die zeitgebundene ausgespielt, und es wird versichert, daß nur die letztere dem biblischen Zeugnis entspreche. Geschichtliche Wandlungen sind also grundsätzlich positiv zu sehen, denn für den Christen gilt: „Geschichte wird erfahren als der Wandel, dessen Anfänger und dessen Ziel Jesus ist.” In diesem Satz ist wieder die schon früher festgestellte bis zur Heiligsprechung gehende Hochschätzung von Geschichte und Wandel enthalten. Im Grunde erscheint den Verfassern ein Wandel zum Negativen unvorstellbar zu sein. Ist doch Geschichte und Wandel eben das, was durch die missio dei zur Welt gebracht wird. Pointiert formuliert Hoekendijk in den Vorarbeiten zur Studie: „Es ist ausschlaggebend, daß wir Geschichte als den entscheidenden Inhalt von Mission sehen” (Mission als Strukturprinzip).

LeerZu einer so radikalen Formulierung konnten sich die Verfasser der ökumenischen Studie denn doch nicht durchringen. Bei aller Hochschätzung des Wandels klingt bei ihnen gelegentlich durch, daß sie wissen, daß es einen Wandel zum Negativen auch gibt. Anscheinend protestierte ihr Realitätssinn gegen eine allzu konsequente Heiligsprechung des Wandels als solchem. Der Konflikt, in dem sie stehen, spiegelt sich in folgenden Sätzen wider: „Darum hat der Christ in gar keiner Weise dem Wandel zu widerstehen, sondern darin Gottes Wirken zu sehen (Jes. 45,1-7). Damit wird Gott nicht mit dem Fluß der Ereignisse identifiziert, und es wird auch nicht behauptet, daß jeder Wandel Zeichen seines Handelns sei.”

LeerDeshalb wählten die Verfasser der ökumenischen Studie einen anderen Begriff zur Beschreibung des Inhalts der missio dei: „Versucht man den Inhalt der missio dei zu definieren, dann bietet der biblische Begriff des Schalom eine Hilfe”. Dieser Begriff hat den doppelten Vorzug, auf der einen Seite eine eindeutig positive Färbung zu besitzen, auf der anderen Seite nicht allzu konkret zu sein. Damit ist er gegenüber den gewünschten Inhalten weithin offen und unterstreicht ihre positiven Seiten. Aus der in ihm enthaltenen Identität von Heil und Wohl heraus kann er innergeschichtliche Inhalte aufnehmen und sie gleichzeitig eschatologisch überhöhen. So eignet sich der Begriff Schalom vorzüglich, diejenigen geschichtlichen Wandlungen, die man selbst als positiv empfindet, zu eschatologischen Ereignissen zu erklären und ihnen damit absolute Bedeutung zu verleihen.

LeerIndem die Kirche das tut, ist sie nach der ökumenischen Studie auf „den Spuren des Handelns Gottes” und „Zeuge des Schalom”. Eben dadurch, daß sie geschichtliche Ereignisse heiligspricht, sie zu eschatologischen Ereignissen erklärt, kommt sie ihrem eigentlichen Auftrag nach, erfüllt sie ihre Berufung. „Darum hat der Christ in gar keiner Weise dem Wandel zu widerstehen, sondern darin Gottes Wirken zu sehen . . . Damit wird Gott nicht mit dem Fluß der Ereignisse identifiziert, und es wird nicht behauptet, daß jeder Wandel Zeichen seines Handelns sei. Es geht vielmehr darum, ihn in seinem weltlichen Handeln zu erkennen. Dessen Bedeutung wird dort klar gemacht, wo die Kirche ihre prophetische Berufung erfüllt.”

Linie

LeerSomit ist die entscheidende Aufgabe der Kirche für die Welt geklärt: „Was kann die Kirche anderes tun, als zu erkennen und zu verkündigen, was Gott in der Welt tut” (S. 18)? Dies aber tut sie nach der ökumenischen Studie am besten, indem sie an den Entwicklungen, denen sie solche eschatologische Bedeutung beimißt, selber aktiv teilnimmt. So wird sie - in Wahrheit dienend - „Kirche für die Welt”, so kommt sie ihrem eigentlichen Auftrag nach. Allein auf diese Weise folgt sie gehorsam der missio dei.

LeerWenn man sich die Aufzählung der Zeichen des Schalom (siehe Quatember 1973, S. 80) in Erinnerung ruft, erkennt man, daß diese Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) wenigstens teilweise die Funktion hat, die theologische Definition dafür zu bieten, daß sich die Kirche völlig in den Dienst bestimmter für positiv angesehener Entwicklungen stellt und darin die Erfüllung ihres eigentlichen Auftrages sieht. Wenn man aber mehr die dazu in einer gewissen Spannung stehende Tendenz in der Studie betont, die den Wandel an sich schon als einen positiven Wert ansieht, dann scheint die Ekklesiologie mehr die Funktion zu haben, die Kirche total in der geschichtlichen Entwicklung aufgehen zu lassen, sie einer Art Selbstauflösungsprozeß zu unterwerfen.

LeerWenn man abzuwägen versucht, wie sich beide Tendenzen in der ökumenischen Studie zueinander verhalten, liegt es nahe, in der ersteren das Gegenwartsprogramm, in der zweiten das Fernziel zu sehen. Im Grunde scheint jedenfalls die zweite Tendenz die stärkere zu sein. Sie ist auf jeden Fall die konsequentere, denn eigentlich kann es für die Verfasser aus der Definition heraus nur Wandel als positiven Wert geben; ist doch in Jesus Christus der Gott der Geschichte in die Geschichte eingegangen, um in ihr aufzugehen. Es ist dann nur konsequent, wenn auch der Kirche jede Distanz zur Welt genommen werden soll, damit sie schließlich in der Welt aufgehen kann. Es ist das entscheidende Anliegen der ökumenischen Studie, der Kirche mögliche Distanz zur Welt, zur Geschichte, zum Wandel zu nehmen. Immer wieder wird betont, daß die Kirche ein Teil der Welt ist.

LeerAuch die kenotische Christologie steht im Dienste dieses Anliegens. Sie liefert die Begründung für eine kenotische Ekklesiologie. Meisterhaft formuliert wurde diese Ekklesiologie in ihrem Zusammenhang mit der Christologie von H. J. Schulz: „Kirche findet sich, indem sie sich hergibt. Es ist ihr aufgegeben, sich aufzugeben. Sie er-eignet sich, indem sie sich enteignet. Statt sich in einem Milieu der Selbigkeit zu etablieren, hat sie sich in apostolischer Freiheit auf eine fremde, unkirchliche Welt einzulassen. Sie ist nur da zu Hause, wo sie nicht zu Hause ist. Es gibt keine Welt der Kirche, es gibt nur eine Kirche der Welt. Sie ist letztlich so wenig identifikabel wie der Gott, der sich selbst entäußerte” (Schulz: „Konversion zur Welt”). Der letzte Satz macht darauf aufmerksam, daß auch die kenotische Ekklesiologie damit zusammenhängt, daß Gott nicht mehr als Gegenüber erfahren wird. Gott ist in die Welt aufgegangen, so muß es die Kirche auch.

LeerAuf der anderen Seite läßt dieses Zitat eine Tendenz durchschimmern, die im theologischen Denken dieses avantgardistischen Typos von Kirchenreformbestrebungen sonst durchaus vorhanden ist, die sich aber in der ökumenischen Studie nicht so durchgesetzt hat. Es handelt sich um die Tendenz, die Kirche so zu spiritualisieren, sie so unwirklich und leiblos werden zu lassen, daß sie schon aus diesem Grund jede Beziehung zur Welt als Gegenüber verlieren muß. Die Kirche, die sich ständig aufgibt, die auf jedes eigene Milieu verzichtet, der kein Stück Welt mehr gehört, wird einfach zu unsichtbar, um der Welt gegenübertreten zu können.

Linie

LeerWenn so jede Gegenüberstruktur des Kirche-Welt-Verhältnisses von zwei Seiten her ausgeschlossen wird, nämlich einmal durch Kenosis und zum anderen durch Spiritualisierung, so handelt es sich um einen Vorgang, dessen Parallelen in der ökumenischen Studie auch im Bereich von Christologie und Eschatologie zu finden sind. Dort werden Gott und das Reich Gottes auf der einen Seite als in der Welt aufgehend gedacht, auf der anderen Seite so weit von der Welt abgerückt, daß sie zu beziehungslos werden, um die Welt noch in Frage zu stellen. Daß sich diese zweite Tendenz in der Ekklesiologie der ökumenischen Studie nicht so durchgesetzt hat, hängt wohl damit zusammen, daß die Studie bei aller Skepsis ihrer Verfasser gegenüber der Reformfähigkeit der institutionellen Kirchen doch den Charakter eines Aufrufs an diese Kirchen trägt.

LeerDie Konsequenzen einer kenotischen Ekklesiologie, wie sie der ökumenischen Studie zugrunde liegt, liegen auf der Hand. Die Kirche muß flexibel und anpassungsfähig werden, um sich der Welt, ihren Strukturen und ihrem Wandel möglichst vollkommen anzuschmiegen. Auf diese Weise gibt sie sich am besten selber auf und wird am wenigsten als Kirche erkannt. Alles, was in den Strukturen und Handlungen der Kirche daran erinnert, daß die Kirche sich möglicherweise von der Welt distanzieren könnte, um ihr gegenüberzutreten, ist der ökumenischen Studie ein Dorn im Auge. Am deutlichsten wird das an der negativen Einstellung der ökumenischen Studie zum kirchlichen Amt.

LeerMan muß sich ernstlich fragen, in welcher Weise eine Kirche noch Kirche für die Welt sein kann, wenn sie so, wie in der ökumenischen Studie erstrebt, in der Welt aufgeht. Wahrscheinlich wird man das Anliegen der Verfasser dieser Studie nur verstehen, wenn man ihre „Grundstimmung” immer vor Augen hat. Sie sind einfach nicht mehr davon überzeugt, daß die Kirche der Welt etwas Wesentliches anzubieten hat. Gott scheint für sie entweder tot oder wird jedenfalls nicht mehr als Gegenüber erlebt. Deshalb sind sie eher geneigt, in der Kirche eine Gefahr für den „Wandel”, die positive Weiterentwicklung der Welt zu sehen. Das Positive ist für sie eher in der Welt, das Negative eher in der Kirche beheimatet. Daher die heftige Ablehnung jedes Proselytismus, daher der Christus extra muros ecclesiae (Christus außerhalb der Mauern der Kirche), daher die von ihnen geforderte neue Reihenfolge Gott-Welt-Kirche, anstatt der alten Gott-Kirche-Welt.

LeerDeshalb auch wird die Kirche aufgefordert, sich endlich in den Dienst des in der Welt sich unaufhaltsam entwickelnden Fortschritts zu stellen und ihre kritische Distanz zur Weltentwicklung aufzugeben. Es ist nicht das erste Mal, daß versucht wird, Theologie und Kirche in den Dienst einer Heiligsprechung der Welt, des Fortschritts, des autonomen Menschen oder sonst einer innerweltlichen Größe zu stellen. Wenn der Spuk vorbei ist, fragt sich jedesmal alles entsetzt, wie das passieren konnte. Es gibt auch immer warnende Stimmen. Leider kommen sie selten zu großem Einfluß.

LeerZu diesen warnenden Stimmen gehörte in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts das Berneuchener Buch. Immer wieder wendet es sich mit entschiedenen Worten dagegen, daß irgendeinem Stück der Weltwirklichkeit absolute Bedeutung zugemessen wird. Dies gilt natürlich auch für die Kirche, die auch nach Ansicht der Verfasser des Berneuchener Buches ein Teil der Welt ist. Als solcher besitzt auch die Kirche keine innewohnende Offenbarungsmächtigkeit. Es sei ja gerade die befreiende Tat der Reformation gewesen, diese Wahrheit ans Licht gebracht zu haben.

Linie

LeerIm Berneuchener Buch sind Kirche und Welt nicht voneinander getrennt, aber doch unterschieden und in gewissem Sinne sogar geschieden: „Das Verhältnis der Kirche zur Welt ist immer ein doppelseitiges. Sie ist die Gemeinde der aus der Welt Herausgerufenen; sie sind Zeugen der Wahrheit, die der Welt fremd ist. Aber sie stehen mit der Welt unter dem gleichen Wort und fühlen es als ihre Verpflichtung, dies Wort aller Welt zu sagen.”

LeerDie Einheit von Kirche und Welt ist also durch ihre Stellung Gott gegenüber begründet: Beide stehen gemeinsam unter dem Gerichts- und Heilswort Gottes. So bindet das Gegenübersein Gottes Kirche und Welt zusammen. Gleichzeitig stellt es die Kirche der Welt gegenüber. Denn das Gerichts- und Heilswort, das über beide ergeht, nimmt die Kirche zum Zeugen für sich in Anspruch. Mit diesem Wort tritt die Kirche der Welt gegenüber. Das Gegenübersein Gottes zu Kirche und Welt bildet sich ab im Gegenübersein der Kirche zur Welt.

Leer Wenn demgegenüber die ökumenische Studie einseitig betont, daß die Kirche ein Teil der Welt sei, ist dies für ihre Verfasser eher das, was sie wünschen, als das, was sie schon als wirklich sehen. Der Verlust Gottes als Gegenüber hat ihnen zunächst die vorgegebene Einheit von Kirche und Welt zerfallen lassen. Und nun streben sie an, daß die Kirche der Welt nicht mehr gegenübertritt, sondern in ihr aufgeht.

LeerFür das Berneuchener Buch ist der Zeugenauftrag der Kirche ihre Berufung schlechthin. Dieser Auftrag fordert von der Kirche nicht, in der Welt aufzugehen, sondern ihr gegenüberzutreten. Gleichzeitig verbietet er ein spiritualisiertes Verständnis von Kirche. Denn eine Kirche, die in der Unsichtbarkeit bleibt, ist für die Welt nicht wirklich. Hier spielt der Gleichnisbegriff wieder eine entscheidende Rolle. Die Kirche ist berufen, die Wahrheit Gottes zu verleiblichen, selber ein durchscheinendes Gleichnis für sie zu werden, denn „Geist wird wirklich nur, indem er seinen Leib schafft” - man könnte auch sagen: Indem er ein Stück Welt formt. So läßt also die Kirche, selber ein Stück Welt, sich zum Gleichnis der Wahrheit Gottes formen und tritt als solches der Welt gegenüber. So wird sie zum Zeugen der Wahrheit. Der Formwille der Kirche ist deshalb nichts anderes als der Wille, ihrem Zeugenauftrag zu entsprechen. „Wer sich gegen den Formwillen der Kirche verwahrt, weil die Kirche, an die wir glauben, ja doch die unsichtbare Kirche sei, der gebraucht damit nur eine Ausrede, mit der er seine Flucht und sein Versagen vor der Aufgabe der Versichtbarung, Verlautbarung und Versinnbildlichung des Evangeliums verdeckt.”

LeerDie Kirche steht also unter dem Auftrag, durch ihre Gestalt und ihr Handeln die Wahrheit Gottes über die Welt gleichnishaft zu bezeugen. Dieser Auftrag gilt uneingeschränkt: „Alles Handeln der Kirche ist ein verbum visibile, und nur, sofern es das ist, ist es ein Handeln der Kirche.” Daß die Kirche gegenwärtig an ihrem Auftrag scheitert, ist nach Ansicht der Verfasser des Berneuchener Buches ihre ganze Not. Und es ist auch die tiefste Not der Welt.

LeerAus der Gegenüberstruktur des Gott-Welt-Verhältnisses, die im Berneuchener Buch ständig vorausgesetzt wird, ergibt sich, daß die Wahrheit Gottes, die die Kirche der Welt zu bezeugen hat, einen Doppelaspekt besitzt: Einerseits ist sie der Welt fremd, andererseits ist sie von vornherein auf die Welt bezogen, ist sie Wahrheit über die Welt, ja noch mehr, die Wahrheit der Welt.

Linie

LeerAus dem ersten Aspekt ergibt sich für die Kirche, daß ihr Zeugenauftrag sie von der Welt scheidet. Einfache Anpassung in ihrem Handeln und in ihren Strukturen ist der Kirche verwehrt. Denn auch die Fremdheit der Wahrheit Gottes will gleichnishaft bezeugt werden: „Darum darf die Kirche weder die Formen der Gesellschaft noch die Ordnungen des Staates einfach übernehmen.” Eine Anpassungsideologie, wie sie in der ökumenischen Studie zu finden ist, wird von den Verfassern des Berneuchener Buches abgelehnt.

LeerDie Weltbezogenheit der Wahrheit Gottes manifestiert sich für die Verfasser des Berneuchener Buches dadurch, daß sie in der Welt konkret wird, indem sie sich in ihr Gleichnisse schafft. Der Gleichnisbegriff ist im Berneuchener Buch christologisch begründet. Für die Kirche ergibt sich aus ihm in ihrer Beziehung zur Welt ein Dreifaches:

LeerWenn man erstens die Kirche als einen Teil der Welt ansieht, dann ist sie, wenn immer sie wahrhaft Kirche ist, in ihrer Gestalt und in ihrem Handeln hinweisendes Gleichnis auf die Wahrheit Gottes. Sie ist damit der Teil der Welt, der zu seiner Bestimmung gefunden hat. Ist es doch die in Christus Wirklichkeit gewordene schöpfungsmäßige Bestimmung der Welt, Hinweis auf das Ewige zu sein. Durch ihren Gleichnischarakter ist die Beziehung der Kirche zum Heiligen bestimmt: Zwar besitzt sie keine innewohnende Heiligkeitsqualität, sondern weist über sich hinaus auf das Heilige hin, aber indem sie das tut, wird sie selbst geheiligt.

LeerZweitens ist die Beziehung der Kirche zur Welt dadurch bestimmt, daß sie der Welt als ein Teil der Welt durch ihre Gleichnishaftigkeit deren Bestimmung bezeugt. Die Kirche bezeugt der Welt ihre in Christus Wirklichkeit gewordene Bestimmung, gleichnishaft die göttliche Wahrheit zu bezeugen. Als der Teil der Welt, der durch Christus seine Bestimmung gefunden hat, tritt sie der übrigen Welt gegenüber, ihr ihre eigene schöpfungsgemäße Bestimmung bezeugend.

LeerUnd schließlich schaut die Kirche im Glauben die Welt im Sinne ihrer Bestimmung. Denn für den Glauben der Kirche wird die gesamte Weltwirklichkeit zum Hinweis auf Gottes Wahrheit. Insofern kommt die Welt im Glauben der Kirche zu ihrer Bestimmung, gewinnt im Glauben der Kirche eine Beziehung zum Heiligen und wird so durch den Glauben der Kirche selbst geheiligt. Diese Heiligung der Welt durch die Kirche wird von den Verfassern des Berneuchener Buches streng von jeder Heiligsprechung unterschieden. Während Heiligsprechung bedeutet, daß die Gott gegenüber verschlossene Welt als solche für heilig erklärt wird, bedeutet Heiligung ihre Öffnung gegenüber Gott. Sie geschieht durch das Zeugnis und den Glauben der Kirche und ist die entscheidende Gabe, die die Kirche für die Welt hat. Die Kirche heiligt die Welt allerdings nur, indem sie sich selber heiligt, selber zum durchscheinenden Gleichnis der Wahrheit wird. Bei alledem muß man sich gegenwärtig halten, daß der Gleichnisbegriff des Berneuchener Buches christologisch begründet ist, seine Grundlage und Leitlinie im Christusereignis findet.

LeerDie praktischen Konsequenzen dieser Ekklesiologie werden im Berneuchener Buch in verschiedenen Bereichen durchgespielt. Sowohl das Problem des Gottesdienstes, von Gemeindeaufbau und Kirchenstruktur, als auch Probleme aus dem Bereich der Ethik werden auf dieser Grundlage durchdacht. Am besten scheint das beim Gottesdienstproblem gelungen zu sein. Auch in der Ekklesiologie hat also der Gleichnisbegriff des Berneuchener Buches eine verbindende Funktion. Die Kirche wird für die Welt zum Gleichnis dessen, wofür sie, die Welt, von Gott bestimmt ist. Gleichzeitig wird die Welt für die Kirche im Glauben zum Gleichnis für die Wahrheit, unter der sie beide stehen, ja vor der sie beide eins sind. Indem die Kirche der Welt zweifach zu ihrer Bestimmung verhilft, nämlich sie ihr vorhält und sie im Glauben in ihr schaut, wird sie in Wahrheit „Kirche für die Welt”. Es ist nicht etwas mehr oder weniger Wichtiges, was die Kirche der Welt zu geben hat, es ist das eine, das not tut, nämlich Sinn und Bestimmung.

Quatember 1973, S. 159-167

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
Haftungsausschluss
TOP