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„Das Böse” in Kirchberg
von Jürgen Boeckh

LeerIn einem Seminar über die Taufe, das im Frühjahr 1972 in Kloster Kirchberg stattgefunden hatte, war nach einem Vortrag von Dr. med. Helmut Barz vom C. G. Jung-Institut, Zürich, die Frage offen geblieben, was denn „Integration des Bösen” bedeuten sollte. So luden wir ein Jahr später zu einer weiteren Wochenendtagung über „Das Böse in theologischer und tiefenpsychologischer Sicht” ein. Die 40 Teilnehmer, unter ihnen Ärzte, Psychagoginnen, Sozialarbeiter und Schwestern, kamen hauptsächlich aus Württemberg, dem Elsaß und der Schweiz, einige aber auch aus anderen Ländern der Bundesrepublik. Ein Ehepaar, das den Bericht über die vorjährige Tagung mit Dr. Barz (Quatember H. 4/1972 S. 227 ff. ) gelesen hatte, war sogar aus Dänemark angereist.

LeerIn einer theologischen Einleitung am Freitag abend wies ich auf drei Aspekte des Bösen hin: „Das Böse als Macht, die mir gegenübersteht”, „Das Böse als Unheilszustand der Welt” und „Das Böse in mir”. Ohne daß dies im einzelnen abgesprochen war, fand sich in dem ersten und zweiten Teil des Vortrags von Dr. Barz - über den Ursprung des Bösen und den mit dem Schatten - eine entsprechende Dreigliederung, nur in umgekehrter Reihenfolge: der persönliche Schatten, der kollektive Schatten, der archetypische Schatten. Dr. Barz stellte klar, daß sein Ausgangspunkt die Tiefenpsychologie Jungscher Prägung ist. Da, wo der Theologe vom Bösen spricht, spricht der Tiefenpsychologe vom Schatten. Allerdings, so stellte der Referent eingangs fest, wird durch den Begriff des Schattens nicht alles gedeckt, was wir dem Bösen zurechnen. Das Böse in der Natur und in der Krankheit klammerte Dr. Barz aus. „Laß die Menschen Revue passieren, die dir unsympathisch sind - da hast du deinen Schatten!” Der persönliche Schatten, so hörten wir, enthält nicht nur Böses, sondern auch viele ungelebte Möglichkeiten. Das Böse ist vielfältig, es ist keineswegs für alle Menschen dasselbe. Beim kollektiven Schatten wies der Referent nicht nur auf die Projektionen hin, die das „Volk der Dichter und Denker” sich besonders in den Jahren ab 1933 schuf. Da wir zum Teil aus Bruder- und Schwesternschaften kamen, war für uns wohl besonders wichtig, was Dr. Barz über die „frommen Gemeinschaften” sagte: Je „frömmer” eine Gemeinschaft ist, desto größer ist ihr Schatten. Und in diesem Zusammenhang, im Blick auf einzelne Angehörige solcher Gemeinschaften: Es gibt eine Art, Gutes zu tun, den Nächsten zu lieben, die eine Aufblähung des Schattens zur Folge hat. Wörtlich sagte Dr. Barz: „Ich habe manche Menschen erst als geheilt angesehen, als sie aufhörten, Gutes zu tun.”

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LeerZum archetypischen Schatten äußerte sich der Referent bestimmt, aber zurückhaltend. Es gibt den archetypos des Bösen, den Teufel, das absolut Böse. Wir sollen es nicht hinterfragen. Es ist vorgegeben, nicht erklärbar. In diesem Zusammenhang kam Barz auf die Unterscheidung eines relativen und eines absoluten Bösen. Mit einem Hinweis auf das Grimmsche Märchen von Frau Trude, in dem ein neugieriges Mädchen schließlich verbrennen muß, meinte der Referent: „So kann es jedem ergehen, der meint, er könne das Böse ‚beschnüffeln’.” Auf die Frage, wie man das relativ und das absolut Böse unterscheiden könnte, antwortete Barz: „Das merken Sie sofort!” Vielleicht gilt das in Richtung auf das absolut Böse hin. Daß das relativ Böse von manchen nach wie vor als absolut Böses angesehen wird, zeigte sich in der Aussprache besonders dort, wo es um die Sexualität ging. Barz distanzierte sich von dem alten „christlichen” Rezept, Holz zu hacken, und ordnete auch den Ehebruch dem relativ Bösen zu, das in einzelnen Fällen not-wendig sein kann. Als einzelne Teilnehmer gerade hier heftigen Widerspruch anmeldeten, wurde von anderen darauf hingewiesen, daß partielle Rechtfertigungen einer Übertretung des Gebotes, nicht zu töten, jahrhundertelang in christlichen Kreisen kaum auf Widerspruch gestoßen sind.

LeerIm dritten Teil des Vortrags ging es um die Bedeutung des Bösen im religiösen Leben der Menschen. Die Religion bezeichnete Dr. Barz als ein „Symbolsystem von psychotherapeutischem Wert”. Der „Antichrist” sei jedoch zu wenig im Kultus repräsentiert, ohne Erfahrung des Bösen gäbe es keine Erfahrung Gottes.

LeerAuf einige Meinungsäußerungen wurde schon eingegangen. Ernsthaft wurde in der Diskussion die Frage erörtert, ob man bei Jesus von einem Schatten sprechen könne. Ist der Versucher der Schatten des Christus? Gehörte zu seiner Menschlichkeit wenigstens das relativ Böse, wenn das absolut Böse bei ihm ausgeschlossen ist? Gegen manche Einwürfe wehrte sich der Referent mit der Feststellung: „Ich bin nicht Anwalt des Bösen. Letztlich wünsche ich, das Böse möge verschwinden.”

LeerIn einer der am Samstag nachmittag gebildeten Gesprächsgruppen konnte eine Teilnehmerin aus ihrer besonderen Kenntnis heraus das Gespräch über das Böse und den Schatten im Märchen weiterführen. Dazu wurde das von den Brüdern Grimm überlieferte Märchen „Die beiden Wanderer” herangezogen. Am Samstag abend trafen wir uns in der Klosterschenke und gingen unser Thema noch einmal von einem anderen Ausgangspunkt an: Das Böse in der Literatur. Dr. Bernhard Rang, unseren Lesern durch manche literarische Beiträge bekannt, gab eine Einführung, und wir lasen ausgewählte Stücke von Dostojewski über Kafka bis hin zu Solschenizyn. Wie immer waren Vortrag und Gespräche eingebettet in die vier täglichen Gebetszeiten des Berneuchener Hauses. Am Sonntag früh feierten wir gemeinsam die Evangelische Messe.

LeerDie letzte Gesprächsrunde am Sonntagvormittag zeigte, daß vieles noch offen geblieben war. So wurde im Rückblick auf eine der Diskussionsgruppen gesagt: „Wir wußten nicht mehr, wovon wir ausgehen sollten, von Christus oder von der Psychologie - das als Forderung in den Raum gestellt, gab eine fast unerträgliche Spannung.” Einige Mitglieder des Theologischen Arbeitskreises der Evangelischen Michaelsbruderschaft haben unmittelbar im Anschluß an die Tagung sich noch zwei Tage hindurch weiter mit dem Thema beschäftigt. Einen neuen Ansatz fanden wir dabei durch ein Referat von Martin Neubauer (Markgröningen) über „Das Böse im Alten Testament”. Auch einige Teilnehmer an der Wochenendtagung nahmen als Gäste an unserer Sitzung teil. Der Gesprächsstand wurde nach zwei Tagen in den folgenden zehn Thesen festgehalten:

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Leer1. Die tiefenpsychologische Entdeckung des absolut Bösen im „archetypischen Schatten” legt die Vermutung nahe, daß auch der Mensch in der säkularisierten Gesellschaft des ausgehenden XX. Jahrhunderts durchaus zur Sündenerkenntnis fähig ist, wenn er zur Erkenntnis seines Selbst geführt wird. Psychotherapeutische Praxis kann den verschütteten Zugang zur christlichen Erkenntnis von der Verlorenheit der Welt und ihrer Erlösungsbedürftigkeit frei machen.

2. Die Erfahrung eines übermächtigen Bösen hat immer wieder den Eindruck hervorgerufen, daß in Gott nicht nur das Gute, sondern auch das Böse seinen Ursprung habe. Auch im alttestamentlichen Gottesbild finden sich Spuren einer „Ambivalenz” (2. Mose 4, 21; 1. Sam. 16,14 ff.; 2. Sam. 24, 1/; 1. Chron. 21,1; Mal. 1, 2 f.). Wir werden demgegenüber die Botschaft des Neuen Testaments zu hören haben, nach der Gott in seinem Handeln an uns Liebe ist (1. Joh. 4,16).

Leer3. Das Böse kommt aus dem Herzen des Menschen (Mark. 7, 20 f.), aber es hat seinen Ursprung nicht nur im Menschen. Es tritt ihm als Macht gegenüber (Versuchung Jesu, Matth. 4 par.).

Leer4. Im Glauben erkennt der Christ: Das Böse - wie der Tod - ist mächtig, aber nicht allmächtig. Der „Drachen” im letzten Buch der Bibel steht dem „Engel ”gegenüber (Offbg. Joh. 13), aber nicht Gott dem Herrn, dem Schöpfer und Vollender. Die Frage „Wer ist wie Gott”? kann sowohl im Guten (Michael = Wer ist wie Gott?) als auch im Bösen (die Schlange in 1. Mose 3) gestellt und gehört werden.

5. Weil die Macht des Bösen - der Böse - nicht nur eine in der Psyche des Menschen auffindbare, sondern eine überpersönliche Realität ist, kann sie auch nicht vom Menschen allein überwunden werden, etwa durch technisch-wissenschaftlichen und moralischen Fortschritt. Die Entmachtung des Bösen geschieht immer wieder in der durch Jesus Christus angebotenen Vergebung, durch die wir zu neuem Handeln nach dem lebendigen Willen Gottes ermutigt werden.

LeerDie tiefenpsychologische Unterscheidung zwischen dem relativ Guten und Bösen und dem absolut Guten und Bösen kann eine Hilfe zu einer menschenfreundlichen - evangelischen - Verkündigung der Gebote Gottes sein.

Leer6. Die jeweils aktuelle Auslegung der Gebote ergibt sich sowohl aus der geschichtlichen Stunde als auch aus der persönlichen Situation des handelnden und schuldig werdenden Menschen. Damit ist keine Relativierung des von Gott gesetzten Unterschiedes zwischen Gut und Böse gegeben.

Leer7. Die „Allgemeine Beichte” mit einem gemeinsamen Sündenbekenntnis und einer gemeinsam empfangenen Absolution hat nur dort ihren Platz, wo eine geschlossene Gemeinschaft (feste Gemeindegruppen, Tagungs- oder Freizeitgemeinden, Bruder- und Schwesternschaften) sich versammelt.

Leer8. Die stille Beichte des einzelnen unmittelbar vor Gott und die „geheime” Beichte in Gegenwart eines anderen, haben nach wie vor ihre Bedeutung. Ihre Rechtfertigung liegt in der Erkenntnis, daß der Mensch sich nicht nur vor anderen Menschen, sondern auch als Einzelner vor Gott zu verantworten hat. Darum kann eine „selbstkritische Gruppenaussprache, in der der Einzelne bereit ist, seine eigenen Fehler und Vorurteile zuzugeben und in der Gemeinschaft zur Diskussion zu stellen” („Wege zum Menschen” 3/ 1972, S. 9), die Einzelbeichte nicht er setzen.

Leer9. Während der Arzt und Psychotherapeut die Gesundung des Kranken zu erreichen suchen muß, ist es Auftrag der Kirche, dem kranken wie dem gesunden Menschen das in Christus an gebotene Heil zu verkündigen. Dies geschieht auch in der Praxis der Beichte und dem Zuspruch der Vergebung.

Leer10. Es gibt nicht nur eine „Unfähigkeit zu trauern”, die sich in mangelndem Schuldbewußtsein und, christlich gesprochen, in mangelnder Sündenerkenntnis zeigt, sondern auch eine Unfähigkeit sich zu freuen, die es verhindert, daß wir von unserer Vergangenheit loskommen, die Vergebung annehmen und Mut zu neuem Handeln finden. Von dieser Unfähigkeit sich zu freuen, werden wir befreit, wenn wir auf Jesus, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn, den Offenbarer der Liebe Gottes sehen.

LeerEine Weiterführung des Gespräches mit Dr. Barz soll auf einer Wochenendtagung vom 17. bis 19. Mai 1974 am gleichen Ort stattfinden. Als Thema ist vorgesehen: „Traum - Symbol und Wirklichkeit”.

Quatember 1973, S. 237-241

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-08
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