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von Herbert Goltzen |
In unseren gedruckten Bibeln sind die Schriften in Kapitel und Verse eingeteilt. In älteren Ausgaben ist sogar jeder numerierte Vers einzeln gedruckt, von den andern abgesetzt. Es ist schon eine Verbesserung, daß neuerdings der Text in sinnvolle Abschnitte gegliedert und jeder Abschnitt in fortlaufenden Zeilen gedruckt ist, zwischen denen, oder am Rande des Satzspiegels, die Verszahlen unauffälliger klein gedruckt sind. Natürlich haben die Verfasser der biblischen Schriften ihre Berichte, Zeugnisse, Weissagungen, Briefe und Reden nicht in einzelnen numerierten Sätzen niedergeschrieben. Erst im 13. Jahrhundert hat ein Kardinal die lateinische Bibelübersetzung in Kapitel eingeteilt. Nach Erfindung des Buchdrucks hat der imprimeur du Roi Robert Estienne zuerst 1513 die Psalmen, 1548 die lateinische Vulgata, 1551 ein griechisches Neues Testament mit numerierter Verseinteilung gedruckt. Durch den Druck in abgesetzten bezifferten Versen entsteht zwar ein falsches optisches Bild. Man muß sich immer wieder klar machen, daß eine „Epistel” eben ein wirklicher Brief und nicht eine Blütenlese von einzelnen „Sprüchen” ist. Aber die in allen Sprachen inzwischen eingeführte Einteilung und Numerierung ist praktisch unentbehrlich. Sie ermöglicht uns, in der Bibel eine Stelle zu finden, die in der Predigt, im Unterricht, in wissenschaftlichen Auslegungen behandelt und zitiert wird. Natürlich hebt man aus biblischen Schriften, genau wie aus anderen Werken, die über den Augenblick hinaus Menschen beschäftigen, Zitate heraus, als Text der Predigt, zu Trost und Mahnung, zur Begründung von Glaubenslehren, als Ruf und Losung wie als Beleg in wissenschaftlicher Darlegung. Der Fundort wird nach Kapitel- und Verszahl angegeben. In manchem Bibeldruck werden auch „Kernstellen”, die besonders bekannt und wichtig erscheinen, dick gedruckt oder durch besondere Typen hervorgehoben. Diese praktische Druckanordnung und Kennzeichnung jeder „Stelle” der Bibel hat aber auch ihre Gefahren. In den reformatorischen Kirchen ist die Gründung von Glaube und Verkündigung besonders auf Bibelworte gegründet. Bis in unser Jahrhundert hinein galt ein großer Teil der Bemühung im Unterricht der Einprägung von Bibeltexten; zu den „Hauptstücken” des Katechismus wie als Memorierstoff weiterer Themen der christlichen Unterweisung wurden Bibelsprüche angegeben. In der gelehrten Glaubenslehre der Väter wurden als dicta probantia (Beleg- und Beweisstellen) Bibelstellen zitiert, wie das auch in der heutigen wissenschaftlichen Literatur selbstverständlich (historisch-kritisch) geschieht. Diese handliche Benutzung der Bibel hat aber dazu geführt und . . . verführt, daß sie sich wie eine Fundgrube von einzelnen großen und gewichtigen „Worten” darbietet. Es ist trotz der nicht abzuschätzenden Wirkung der Bibelübersetzung für den evangelischen Volksteil nicht gelungen, was Luther für das christliche Haus erhoffte, das Kirchenvolk zum zusammenhängenden Lesen der Heiligen Schrift zu bringen. Selbst die viel verbreiteten Hilfen zum Bibellesen, die Bibelleseordnungen mit ansprechenden Erklärungen werden oft nur „erbaulich” gebraucht: Man schlägt wohl nur selten den auf dem Blatt des christlichen Abreißkalenders angegebenen Schriftabschnitt auf, ehe man die „Andacht” liest, sondern man liest nur den einen auf dem Andachtszettel ausgedruckten Vers. Aber eben: Dem Kirchenvolk begegnet das biblische Wort in der Gestalt von Bibelsprüchen. Der „Konfirmationsspruch”, der „Trautext”, der Spruch auf der Todesanzeige und für die Trauerpredigt, - ein Spruch, mit dem mancher Pfarrer eine Gruppe von Abendmahlsgästen vom Altar entläßt, - ein Spruch, den ein frommer Lehrer oder Verwandter dem Kind ins Gesangbuch oder ins Album schrieb - ein „Votum”, das einem Kirchenvorsteher bei seiner Einführung oder einem Pastor unter Handauflegung bei seiner Ordination mitgegeben wird - in dieser Form einzelner Sprüche übt die Bibel ihre unbestreitbare Wirkung aus, selbst bei denen, die sie weder im ganzen noch in ihren einzelnen Schriften lesen und verstehen können oder wollen. Dieser einfältige Respekt vor dem einzelnen „Spruch” hat große geschichtliche Wirkungen gehabt. Am eindrücklichsten zeigt er sich in den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Am 3. Mai 1728 gab Graf Zinzendorf zum ersten Mal der Exulantengemeinde eine „Losung für den künftigen Tag”. Bald wurde es dort Übung, daß jeden Morgen ein Bruder aus einem Kästchen mit Bibelsprüchen und Liedstrophen ein Wort herausgriff und es in die Häuser rief. Seit 1732 wurden diese „Losungen” gedruckt. Sie werden bis heute aus einer Sammlung von etwa 1900 Einzelsprüchen des Alten Testaments für jeden Tag eines Jahres „gezogen” und im voraus gedruckt. Dazu wird dann ein passendes Wort des Neuen Testaments als „Lehrtext” gewählt. Dahinter steht das Vertrauen: „So überließen wir der Vorsehung, den auf jeglichen Tag gehörigen Zuruf selbst auszuwählen” (Zinzendorf 1731)! Unzählige Christen haben sich bis heute von den in vielen Sprachen verbreiteten Losungen leiten, trösten, ermutigen und bestätigen lassen. Goethe, Kaiser Wilhelm I., Graf Zeppelin, Bismarck, Hindenburg, Ludendorff, Theodor Heuß und gewiß auch manche heute verantwortlichen Leute nahmen die „Losung” so als Spruch Gottes entgegen. Gott kann auch durch ein solches Mittel zum Gewissen von Menschen reden. Im Neuprotestantismus bis zum Ersten Weltkrieg hat man vielfach Predigten über einzelne Bibelworte gehalten, die nur als „Motto” über einen selbst erdachten Gedankengang gesetzt waren. In einer Predigtsammlung aus dem Weltkrieg fand ich eine Predigt über Richter 7, 18 - und der Illustrator hatte eine Vignette im Jugendstil darüber gezeichnet und das Bibelwort etwas abgeändert: „Hie Schwert des HErrn und - Hindenburg!”, wobei der alte Gideon den Schnauzbart Hindenburgs unter seiner Panzerhaube trug. Und wieviel Predigten sind, auch 1933, gehalten worden: „Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat!” - auch die Predigt am 4. August 1914 wie die am 21. März 1933 (die Namen der ehrwürdigen und bedeutenden Kirchenführer seien taktvoll hier verschwiegen) gingen über einen Kurztext: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?” (Röm. 8, 31) . . . Wir haben es durch die erneuerte Schrifttheologie, damals durch Karl Barth, lernen müssen, nicht über solche Motto-Sprüche als Aufhänger für ein selbstgesuchtes „Thema” zu predigen, sondern einen Schriftzusammenhang zu befragen und ihn im Zusammenhang des ganzen Schriftzeugnisses und der Gesamterfahrung der Kirche auszulegen. Auch die Mitgabe einzelner Sprüche zu den Wendepunkten des Lebens kann ihr Bedenkliches haben - der konfirmierende Pfarrer ist kein Prophet und hat keine Zensur zu erteilen, wenn er den Denkspruch für den Konfirmanden aussucht. Wie oft muß ein Pfarrer (er sollte es jedenfalls!) einem Brautpaar oder trauernden Verwandten den Wunsch ausreden, als Text Offb. 2,10 c zu wählen: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!” Es ist die Mahnung an eine vor dem Martyrium stehende, noch bekennende und bedrohte Gemeinde - nicht eine erbauliche Aussicht für zwei (hoffentlich) vor einer „treulich geführten” jungen Ehe stehende Leute oder eine „Würdigung” eines Ehrenmannes, der treu in seiner Stellung bis zur Pensionsgrenze, treu in seiner blühenden Familie, treu in seinem Dienst während seiner Soldatenzeit und dann sechzig Jahre treu im Kriegerverein und Pensionistenbund die Anerkennung von Gott und Menschen verdient hat. Ich lasse bei solchen Wünschen immer Offb. 2, 8-11 aufschlagen: „Passen Sie unter dies Sendeschreiben? Wollen Sie Märtyrer werden, oder ist in dem vergangenen Leben diese Treue bis an den Märtyrertod abgefordert oder bewährt worden?” Ein lieber Hilfsschüler wünschte sich als Konfirmationsspruch: „Du bist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe” - er hat es sich sagen lassen, als wir Matth. 3, 13-17 miteinander lasen, daß die Anrede dieses Wortes an einen andern gerichtet war. Ein Gespräch an der Kirchtür, bei dem sich oft treue Gemeindeglieder über die Predigt unterhalten, zeigte, daß keinem diese Verkürzung des Textes aufgefallen war; auch der Prediger hatte sich durch die Fassung der Jahreslosung eingrenzen und irreführen lassen. Ich hatte damals (1919!) meinem Konfirmator in einem persönlichen Gespräch mit der unbefangenen Ehrlichkeit und dem aggressiven Selbstbewußtsein eines vierzehnjährigen großstädtischen Gymnasiasten meine Zweifel an der von der Wissenschaft überholten Bibel und meine Kritik an der Rückständigkeit der Kirche gesagt. Eine Antwort war dieser Denkspruch Joh. 8, 31, aber das unverkürzte Wort Christi. Wahrheit ist nicht historisches Sachwissen. „Freiheit” ist keine revolutionäre Parole. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen” - das hätte auch die Schlange, der Versucher, dem Menschen versprechen können! „Wissen macht frei” - die Aussicht auf eine Zukunft ohne „Repression” und „Zwänge”, wo durch Planung und Wissen alle Naturkräfte unterworfen, alle gesellschaftlichen Strukturen rationell geordnet sind? Aber Jesus lädt ein, daß wir uns Ihm anschließen, daß wir „Jünger” werden. Wer sich an Sein Wort hält, wird die Wahrheit erkennen: die Wahrheit über unsern wirklichen Zustand als unfreie Menschen, die unter den Folgen der Abwendung von Gott leiden. Sein Wort: der Freispruch, der uns die Schuld abnimmt - die Botschaft von Seiner Hingabe für uns - der Ruf in die Herrschaft Gottes - die Freiheit von der Problematik des eigenen Ich - die Freiheit für die andern, die „Mitmenschen”, die Brüder. Diese „Wahrheit” lernt man nicht theoretisch. Nur der Lebensversuch wird erweisen, ob sie für uns gilt: „Wenn ihr bleiben werdet. ..” „Christ” ist man nicht dadurch, daß man Kenntnisse von der Bibel, Ansichten über dogmatische Wahrheiten und moralische Grundsätze hat - man wird „Jünger” nur, wenn man sich Jesus anschließt, wenn man „an seiner Rede bleibt”, wenn man mit Ihm, der das Wort ist, lebt. 1971 hieß die Losung: „Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat!” Wer die Evangelische Messe erlebt, dem war diese Stelle bekannt: „Nehmt euch untereinander auf, gleichwie euch Christus aufgenommen hat zu Gottes Lobe!” (Röm. 15, 7). Die Revision des Luthertextes spricht nicht mehr vom „Aufnehmen”, wie Christus uns Hilflose, Schuldiggewordene aufgenommen hat, sondern vom „Annehmen”. Der Psychotherapeut rät uns heute dazu, sich selbst und den Andern mit seinen Schwierigkeiten, Hemmungen und Störungen „anzunehmen”, und in diesem so gefaßten Wort erscheint Jesus als das Vorbild einer solchen gegenseitigen „Annahme”, einer „Übertragung” zwischen Patient und Arzt und umgekehrt. Ob der Gehalt der Botschaft erreicht wird, die Jesus Christus als den zeigt, der den Verlorenen aus dem Fall aufnimmt, der seine Schuld (als das „Lamm Gottes”) trägt und hinwegträgt, ist hier schon zu fragen. Aber warum ist das Motiv für das Wirken Jesu und damit für alles nachfolgende Leben seiner Jüngergemeinde ausgelassen: „gleichwie euch Christus aufgenommen hat zu Gottes Lobe”! Daß der Name Gottes verherrlicht wird, zu dessen Willen der Sohn Ja gesagt hat, dem zu Liebe es dann auch unter den Jüngern Jesu etwas geben kann wie Verstehen, Vergeben, Tragen, Annehmen und Aufnehmen - daß dies „Seht, wie sie einander lieben” nur hinweisen kann auf die annehmende Vaterliebe, die in dem Heilswerk Jesu wirklich geworden ist - dieser Urgrund und dieses Motiv aller Ethik, die aus dem Evangelium von Jesus Christus entspringt - dies ist dem Telegrammstil dieses Kurzverses zum Opfer gefallen. Als vor einigen Jahren diese gefährliche Tendenz zur Verallgemeinerung und Verflachung bei der Auswahl solcher Jahres- und Monatslosungen angesprochen wurde, hat das einem der Mitarbeiter des Textplanausschusses, der die Auswahl der Sprüche vornimmt, weh getan. Er hat versichert - und das ist zweifellos zu glauben -, daß die Kreise, von denen diese Art der volksmissionarischen Arbeit getragen wird, gerade der biblisch-erwecklichen Frömmigkeit verbunden sind und mit den Versuchen nichts zu tun haben wollen, die Botschaft Jesu zu einer bloßen Moral der Mitmenschlichkeit oder einem gesellschaftskritischen Aktionsprogramm umzufunktionieren. Die Kurzfassung habe ausschließlich die Absicht, die Schriftworte dem Menschen der Gegenwart in einer behältlichen, einprägsamen Form in plakativer Kürze herauszustellen; zu lange und schwere Texte überfordern den heutigen Leser und Hörer. Die Zielsetzung und der Einsatz für missionarische Arbeit soll hier nicht kritisiert werden. Aber die angeführten Beispiele können nicht davon überzeugen, daß die zu so plakativer Kürze gestutzten Bibelsprüche noch den Zuspruch und Anspruch des Evangeliums so enthalten, daß der Hörer dadurch zu der Wahrheit eingeladen wird, die in Jesus Christus Gestalt angenommen hat. Ob nicht auch der heutige Mensch in einem eindrücklichen Satz die wenigen Worte oder einen halben Vordersatz mit aufnehmen könnte, die der Kürzung zum Opfer gefallen sind? Wenn aber die Auslassung dieser Worte den Hinweis auf das Lob Gottes, auf den Vorrang des Gottesreiches vor allen andern Werten, auf die Umkehr zum Herrn vor allem Tun, auf die Rettungsmacht des Evangeliums abblendet und damit den tragenden Grund aller Mahnung zu Recht und Barmherzigkeit, damit die Gemeinschaft mit Gott als Voraussetzung jeder rechten Beziehung zum Mitmenschen nicht mehr erwähnt - dann tut eine solche Losung nicht den Dienst, für ein Jahr oder einen Zeitabschnitt der Christenheit oder den Zeitgenossen eine Wegweisung durch das Wort Gottes zu geben, das in Jesus Christus hörbar geworden ist. Mit Zitaten richtig umzugehen, muß auf allen Sachgebieten gelernt sein. Eine Predigt über ein einprägsames Motto, einen Kurzvers, macht es der Gemeinde nur scheinbar leichter. Der Prediger wird gut daran tun, nicht nur bei seiner Vorbereitung, sondern auch bei der Auslegung das ganze Anliegen der apostolischen Verkündigung, das im Evangelium gebotene Zeugnis vom Wirken Jesu als Zeichen, die Heilsbedeutung seines Erlösungswerkes zur Sprache zu bringen. Und wer als Hörer ein Bibelwort betrachten und sich dadurch bewegen lassen will, der sehe zu, wer darin zu ihm oder zur Gemeinde redet, was ihm dadurch zugesagt oder zugemutet werden will, wen und welche Lage das herausgehobene Wort ansprechen will. Die auf der Landkarte oder dem Globus eingezeichneten Linien für die Längen- und Breitengrade sind nützliche Orientierungshilfen, um einen bestimmten Ort zu bezeichnen und zu finden. Aber diese Striche finden sich nicht in der wirklichen Welt, ebenso wie sich die Verszahlen und Druckabsätze zwischen den Versen nicht in dem lebendigen Wort der Zeugen, der Propheten, Evangelisten und Apostel finden. Die Kirche, die sich auf das Wort Gottes gründen will, soll sich nicht von plakativ gekürzten frommen Sprüchen leiten lassen, sondern von dem, der durch alle einzelnen Worte, Sätze und Schriften als das WORT ihr gegenwärtig sein will. Quatember 1974, S. 72-80 Leserbrief von Friedrich Wilhelm Effey |
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