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Michael - eine Engelsmacht in der Geschichte
von Heinrich Beck

LeerEine Thematisierung der Wirklichkeitsdimension der „Engel” mag kühn erscheinen - auch in Anbetracht dessen, daß sie von derzeitiger Theologie und Philosophie kaum beachtet oder gar als „ausgefallener Spezialbereich” angesehen wird. Allein die jüngsten Ereignisse der Geschichte lassen die Frage wieder ernstnehmen, ob hier nicht eine hintergründige Dimension der Wirklichkeit greifbar wird, die unser Denken zu unkonventionellen Frageansätzen oder gar Neuaufbrüchen zwingt. Andererseits zeigt sich - vielleicht gerade dadurch mitausgelöst - neuerdings verstärkt ein rational unkontrollierter Hang zu Formen des Mystizismus und Spiritismus.

LeerDie nachfolgende Erörterung ist daher bewußt in den Zusammenhang des philosophischen Erkenntnisproblems gestellt. Denn sie geht nicht von der Voraussetzung aus, das Thema sei absolutes Reservat der Glaubenstheologie und grundsätzlich für Philosophie unzugänglich, d. h. für eine die Erfahrungsgegebenheiten auf ihre „letzten Gründe” hin aufschließende rationale Reflexion. Eine Glaubensüberzeugung ist ja auch nur dann verantwortlich, wenn sie auf einen An-spruch erfahrener Wirklichkeit ant-wortet, indem sie deren Sinnrichtung in sich hineinnimmt und über die Wißbarkeitsgrenzen hinaus verdeutlicht. Die hier angegangene Frage zielt auf solche philosophisch-theologische Erhellung von Hinter-Gründen der Erfahrungswirklichkeit.

LeerDiese Art von philosophisch-theologischer Rationalität unterscheidet sich wesentlich von jener im neuzeitlichen Sinne technisch-wissenschaftlichen, die die Erfahrungsgegebenheiten lediglich nach vorgefaßten Begriffen „logisch in Griff” zu bekommen sucht, um sie intellektuell zu „beherrschen” und für bestimmte Zwecke verfügbar zu machen. Es handelt sich vielmehr hier um ein problemlösendes und sinnerfragendes Denken, das seine „Logik” aus einer sich anzeigenden Sinnstruktur (einem „Logos”) der Wirklichkeit gewinnt. So suchte der ursprüngliche philosophische Ansatz in der Antike, z. B. bei Aristoteles, die Erfahrungsgegebenheiten nicht nur auf subjektive, sondern vor allem auch auf objektive Bedingungen zurückzuführen, d. h. als Ausdruck einer hereinwirkenden Wirklichkeit zu verstehen.

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LeerDie antagonistischen Seins- und Ereignisformen der materiellen Erfahrungswirklichkeit z. B. erschienen begründet durch letzte geistige Formprinzipien, die Götter. Als Götter galten die „Sterngeister” (oder „Sphärengeister”) des Himmels, die durch umkreisende Bewegung das Geschehen und Leben auf der Erde in kosmischem Gleichgewicht und göttlicher Harmonie halten; die Gesamtordnung aber wurde auf einen höchsten Gott zurückgeführt, wie es etwa in dem aristotelischen Gottesbeweis (Metaphys. XII,1, vgl. auch den Gesamtzusammenhang von 1073 a 14 bis 1074 b 8) deutlich wird.

LeerDas christliche Glaubensverständnis, das an die philosophische Tradition anknüpfte und sich mit ihr auseinandersetzte, erfaßte den einen höchsten Gott nicht nur als Weltenbildner (der aus einem ihm vorgegebenen Stoff Wesen und Ordnungen herausformte), sondern als Schöpfer aus dem Nichts: Er bringt gerade auch die stoffliche Grundlage aller Formen hervor und ist so absolut unabhängig und allmächtig. Die geistigen Sternenbeweger und kosmischen Formprinzipien aber wurden in der frühchristlichen Theologie und Philosophie als die Engel bezeichnet, und es wurde ihnen - in Abhängigkeit von Gott - Herrschaft über den Kosmos, die Himmel und die Elemente zugeordnet, auch die Schutzherrschaft über ganze Völker und die Kirche. Den sieben Planetengöttern z. B. entsprachen die sieben Erzengel. Im Rahmen der göttlichen Weltregierung (gubernatio Dei) wurden die Engel dann als Ausdruck einer besonderen göttlichen Vorsehung (providentia Dei specialissima) betrachtet, was besonders in der protestantischen Orthodoxie thematisiert wurde.

LeerDie Engelsmächte als Dimension des Numinosen können so als von Gott geschaffene reine Geistwesen verstanden werden, die er mit Dienstfunktionen an seinem Schöpfungs- und Erlösungswerk teilnehmen läßt. Der Begriff des „Engels” besagt ein geschaffenes körperloses Ich, das von der in Raum und Zeit ausgedehnten Welt wesentlich verschieden und ihr überlegen ist; solche wesenhafte Unstofflichkeit schließt jedoch nicht aus (sondern ist geradezu die Bedingung dafür), daß der Engel den Stoff in stoffüberlegener Weise bewegt und in ihm wirkt, ja gelegentlich - wenn es seinem Auftrag entspricht - einen Leib annimmt, um in der stofflichen Welt zu „erscheinen”.

LeerIn der Perspektive dieser philosophie- und theologiegeschichtlichen Entwicklung und Tradition ist nun in systematisch-methodischer Form zunächst zu fragen, ob sich im Ausgang von der Erfahrung die Existenz und Einwirkung reiner Geistwesen philosophisch nahelegt. Auf dieser Grundlage kann dann nach der besonderen Bedeutung der Gestalt des „Erzengels Michael” gefragt werden, dem nach christlichen Glaubenszeugnissen eine entscheidende Wirkung in der Geschichte zukommt.

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l. Die Wirklichkeit der Engel

LeerEinen Hinweis auf die Existenz von Engeln vermitteln zunächst alte Quellen religiösen und außerreligiösen Glaubens und entsprechende Symbole in den unbewußten Tiefenschichten der Seele, die in Bräuchen der Völker, Mythen und Träumen greifbar werden und als Ausdruck von allgemeinen, aber weithin verschütteten Menschheitserfahrungen gedeutet werden können Die Existenz von Engeln wird aber auch durch rationale philosophische Argumente nahegelegt. Diese haben in jenen einen umfassenden menschlichen Hintergrund, jene aber gewinnen durch diese das Kriterium eines verbindlicheren Realitätsbezugs.

LeerIn der Welt entstanden und entstehen neue Arten und Gattungen von leblosen, von lebendigen und von bewußten Seinsformen. Diese werden als solche durch die einzelnen Individuen, die an ihnen partizipieren, nicht grundlegend hervorgebracht, sondern nur weitervermittelt, z. B. vom den Vorfahren an die Nachkommen. Die alle Individuen einer Art prägende und umfassende Seinsform wird so von allen gemeinsam empfangen - anfänglich vom „ersten Glied”, von den folgenden vielleicht „voll-kommener”; sie ist dann durch den fortlaufenden Generationsprozeß immer mehr im Kommen. Sie kann dabei aber nicht aus Nichts kommen. Beim Entstehen einer neuen Art sind die auslösenden Faktoren oder Bedingungen (z. B. Erbsprung, Genmutation) und der eigentliche Wesensgrund oder die Seinsquelle (aus der die neue Sinnstruktur der Art erfließt) zu unterscheiden. Ähnlich ist bei einer Melodie wohl das „Material” der Töne, nicht aber der Sinngehalt ihrer Kombination auf physikalische Ursachen zurückzuführen. Wenn also die je neue Wesensstruktur zwar „in” der Welt, aber nicht „aus” ihr kommt (da sie vorher ja nicht in ihr da war), so sind von der Welt verschiedene Wesensgründe anzunehmen. Als von der Welt verschieden subsistieren sie nicht im „Stoff der Welt”, sondern in sich selbst; d. h. es handelt sich um unstoffliche reine Geistenergien oder „Engel”, die als personale Urformen (Archetypen) und Vor-bilder des Seienden im Weltprozeß wirksam sind.

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LeerIhre Existenz jedoch verdankt die Welt nicht dem formenden Einfluß von Engeln, sondern Gott. Denn die Existenz ist keine Form, sondern deren Voraussetzung; nur unter der Bedingung, daß die Welt dabei überhaupt ist, kann sie so oder anders sein und geformt sein. Während sie von einer Form in andere übergeht, strömt ihr die Existenz fortwährend zu - nicht von einem Form-, sondern Seinsgrund, der das Sein als solches meint. Da das Sein als solches aber allem zukommt, was überhaupt ist - allem Stoff, allen Individuen und allen stofflichen wir unsofflichen Formen - , so umfaßt dieser Seinsgrund überhaupt alles. Er ist im Gegensatz zu Engeln schlechthin unbegrenzt und allmächtig - Gott. Also: Während die Welt unter dem in-formierenden Einfluß geistiger Formgründe sich entwickelt, wird sie mit diesen zusammen in ihrem gleichzeitigen Überhaupt-Sein fortwährend von Gott hervorgebracht. Man könnte versucht sein einzuwenden: Wenn die Welt stets unter irgendwelchen Formen existiert und gemäß diesen von Gott ins Sein gerufen wird, so sind die Formgründe als „göttliche Ideen” in Gott selbst anzunehmen und Engelwesen verzichtbar. Doch dann müßte ebenso gelten: Da jedes Individuum die spezifische Form seiner Art in einer einmaligen Ausprägung repräsentiert, in der es von Gott erschaffen wird, so gründet auch diese in göttlichen Ideen, und ihre Hervorbringung oder Vermittlung durch die Eltern, d. h. die elterliche Zeugung selbst, wäre überflüssig. Da jedes So-Sein unter artspezifischem und individuellem Aspekt von Gott in seinem Überhaupt-Sein bewirkt wird, so sind beide Aspekte in göttlichen Ideen notwendig ur-vorgebildet und sowohl Engel (die das artspezifische So-sein prägten) als auch Eltern (die die jeweilige individuelle Naturkonkretion vermittelten) in einem absoluten Sinne nicht notwendig; Allmacht ist auf anderweitige Mitwirkung nicht angewiesen. Jedoch hat „Überflüssigsein” auch - und grundlegend - einen positiven Sinn: Es entspricht dem Allmächtigen, im Maße des Möglichen „über sich hinaus zu fließen”, andere Wesen hervorzubringen und gemäß ihrer Wirk-lichkeit an seinem Wirken teilnehmen zu lassen; warum sollte absolutes Ver-mögen nicht grundsätzlich Mögen bedeuten? So ist es in einem tiefsten Sinne natürlich, daß ebenso wie für die individuelle Bestimmung der Natur des Seienden in der Welt jeweils Eltern existieren und mitverantwortlich sind, so für übergreifendere Aspekte Engel. Dann gilt: Während das Individuum von seinen Eltern in seiner individuellen Natur gezeugt und von seinen Engeln in allgemeineren Strukturen seines Wesens geprägt wird, gibt Gott gleichzeitig die Existenz: ihm, den Eltern und den Engeln.

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LeerEs ist also anzunehmen, daß die Entwicklung des Kosmos in den durchgreifenden Strukturen der Materie, des Lebens und des Bewußtseins (d. h. der Kultur) durch das immanente Wirken transzendenter Geistwirlichkeiten wesenhaft mitbestimmt wird. Dies macht nicht nur den Aufbau und die Bewegung sinnvoller dynamischer Ordnungen, sondern auch gewisse negative Erscheinungen verständlich, die nicht auf den Menschen zurückgehen können: die Naturübel in der Evolution und das Böse in der Geschichte.

LeerWenn z. B. die Katze die Maus zu Tode ängstigt und quält, so liegt solches Verhalten in ihrer Wesensstruktur begründet. Diese aber ist nicht ein Produkt des Menschen, sondern wurzelt ontologisch tiefer und erdgeschichtlich früher. Sie ist als solche aber auch nicht direkt und unmittelbar von einer all-mögenden göttlichen Allmacht herleitbar. - Oder grundsätzlicher gesagt: Die Natur drückt in ihrer Wesensstruktur - vorgängig zu jedem bewußten sinnwidrigen Verhalten des Menschen - eine gestörte Sinnordnung aus. Widersinn aber setzt als seine Grundlage den Sinn voraus, dem er widerspricht (und sagt diesen in seinem Begriff notwendig mit aus); nur dieser Sinn, nicht aber seine Negation ist auf den reinen göttlichen Sinngrund zurückzuführen. Woher dann die Negation und Per-version des Sinns? Denn Widersinn bedeutet nicht lediglich ein Ausbleiben von Sinn (einen Un-sinn), sondern einen „Sinn wider den Sinn als solchen”. - Ebenso: Jede gestörte Ordnung muß grundlegend Ordnung sein, um gestört sein zu können, und gründet in dieser Hinsicht in Gott. Die Gestörtheit in Sinnwidrigkeit (die „Dysteleologie”) ist aber offenbar in der substantiellen Verfaßtheit der Natur mitangelegt. Dies weist nicht auf einen bloßen „Zufall” oder „Unfall” hin, sondern auf eine der Natur vorausgehende („trans-zendente”) anlegende Macht. Es weist hin auf eine Perversion des einwirkenden Urbildes, eine Verkehrung in der archetypischen Sinnwirklichkeit.

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LeerNun determiniert zwar nicht, wohl aber disponiert die materielle Natur auch die individuellen und menschheitlichen geistigen Ereignisse in der Geschichte, die einen ähnlichen Eindruck begründen. Wenn z. B. bei einem Streit eine Zerstörung menschlicher Beziehungen angerichtet wird, die „niemand so gewollt” hatte, und die Wirkung eine ihr adäquate Ursache verlangt: Wo liegt die Instanz, welche die in den Beteiligten unbewußt bereitliegenden Frustrationen, Aversionen und Aggressionen bei situativer Gelegenheit zusammenfügt und das „Material” in die „entsprechende Form” bringt? Woher empfängt die Vielheit negativer Elemente diese gerichtete Einheit? Dazu paßt die mit immer faktisch vorhandenen Neigungen zu destruktiver Reaktion - Überheblichkeit, Haß und Neid, Schadenfreude, maßloser Vergeltung, Lust am Quälen etc. - zu machende Erfahrung: Sobald man einwilligt, verliert man über sich die Kontrolle und erlebt sich „wie von einer höheren Gewalt” fortgerissen. Ähnlich gehen zunehmende kollektive Erscheinungen wie Kriege und Massenhinschlachtungen, atomares Wettrüsten, verführende und hypnotisierende Ideologien, in ihrer verheerenden Wirkung über die Absicht und die Macht aller beteiligten Personen hinaus. Sie zeigen einen eindeutigen Richtungssinn - den Widersinn.

LeerDie „Energie”, d. h. die Wirk-lichkeit der reinen Geistwesen verhält sich wie ein entweder ordnendes oder aber beirrendes Licht, das sich der Welt mitteilt und im Spiel der Evolution gut oder böse mit-spielt sowie im individual- und menschheitsgeschichtlichen Formungsprozeß der Sprache, der Ideen und der Intentionen mit-in-formiert. Dieser permanente Einfluß ist für die Eigenwirklichkeit und Eigentätigkeit des Seienden in der Welt nicht determinativ, sondern dispositiv, d. h. die guten, gemäß den göttlichen Schöpfungsideen einfließenden Engel begünstigen sinnvolle Entwicklungen der Natur und verantwortliche Entscheidungen des Menschen und wirken so befreiend, die bösen jedoch wirken auf sinnwidrige Entwicklungen und Entscheidungen hin und respektieren so nicht die selbstverantwortliche Freiheit - was sich aus dem bereits angeführten Zusammenhang nahelegt, vielleicht auch aus gewissen parapsychologischen Phänomenen.

LeerDas reine Geistwesen als über der Weltmaterie in sich selbst subsistierende Urform ist dabei als einfaches Bei-sich-Sein oder reine Selbstgerichtetheit aufzufassen, und seine positive oder negative Ge-sinnung als einfache und völlige Ent-schiedenheit,. als sich selbst völlig durchdringender („per-sonierender”) und bestimmender Akt. Allgemein aber gilt: Je einfacher, geschlossener und entschlossener ein Seiendes in sich ist und andern gegenübersteht, mit desto mehr Durchdringungs- und Umfassungskraft kann es auch nach außen wirken. Also sind die Engel gerade durch ihre wesenhafte Überlegenheit und Freiheit gegenüber dem materiell-geschichtlichen Kosmos umso tiefer auf ihn bezogen - im Sinne einer „Annäherung durch Abstand”. In diesem Sinne wirken sie nicht durch ein ihrem Wesen nur äußerliches (ak-zidentelles oder gelegentliches) Handeln ein, sondern sind sie ihm durch ihre sub-stantielle Wirk-lichkeit zugeordnet - und ebenso er ihnen durch eine ent-sprechende sub-stantielle Formbarkeit. Beide bilden nach ihrer tiefsten ontologischen Bestimmung eine gemeinsame dynamisch-energetische Seins- und Begegnungsordnung, die als solche in Gott gründet. Auf der Grundlage eines solchen Aufhellungsversuchs zum Wesen und geschichtlichen Wirken von Engeln kann sich nun das Besondere der Per-son eines Michael herausheben. Wer ist er?

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Il. Die Gestalt des Michael

LeerDer Engel als reines Geistwesen durchdringt und bestimmt sich durch seinen Entscheidungsakt durch und durch in seinem Wesen; er ist das, wozu er sich entscheidet, vollkommen. Michael aber bestimmt sich durch eine Frage: „Wer ist wie Gott? ”. Also läßt sich sagen: Michael ist seine Frage; er ist der „Wer ist wie Gott? ” in Per-son.

LeerDer Ausdruck „Mi-cha-el” bedeutet in hebräischer Sprache: „Wer ist wie Gott? ”. Ein Name benennt aber das Seiende in seinem Wesen: Also kann man nicht sagen, daß die Frage des Michael etwas seinem Wesen Zusätzlicher oder Äußerliches sei, oder daß er sie nur bei bestimmten Gelegenheiten - den Begegnungen mit dem Bösen - gestellt hätte. Wenn von einem Engel gesagt wird: „Er ist Michael”, so heißt dies: „Er ist die wesenhafte Wirk-lichkeit: Wer ist wie Gott? ”. Noch weniger handelt es sich hier um eine rein „rhetorische” oder bloße Schein-Frage. Eine solche wäre nicht nur dem Sprecher (d. h. Michael) selbst äußerlich, sondern auch seinem gesprochenen Wort, da dieses ja dann in Wahrheit eine Behauptung und die Frage nur deren äußere Form oder bloßen Schein darstellte. Vielmehr entspricht gerade die Frage seiner ontologischen Wahrheit. Denn da ein Engel ein begrenztes Wesen ist, weiß er auch nur begrenzt, was der unbegrenzte Gott ist: d. h. er weiß es mehr nicht, als daß er es weiß; somit ist die Frage nach Gott einem Engelwesen (wie jedem Geschöpf) angemessen. Sie drückt die Anerkennung eben dieses Verhältnisses der eigenen Begrenztheit zur Unbegrenztheit Gottes aus und bedeutet eine suchende Hinwendung zu Gott; Michael ist das archetypisch subsistierende Unterwegs zu Gott. Nach dem Alten Testament ist Michael einer der höchsten Engel. Er ist auch der himmlische Fürst und Schutzherr (und das bedeutet wohl letztlich: der Archetyp) Israels, also des Volkes, das seiner geschichtlichen Bestimmung nach den Weg Gottes zu bahnen hatte: Dan 10, 13, 21; 21,1.

LeerIm Neuen Testament erscheint Michael noch deutlicher als der Widerpart des Teufels. Er streitet mit ihm um den Leichnam des Moses (Jud 9) und er stürzt als Anführer seiner Engel ihn und seine Engel nach einem siegreichen Kampf vom Himmel auf die Erde (Apk 12,7-12). Diese Stelle, die apostolische Lesung für den Tag des Erzengels Michael, ist vorgebildet im Alten Testament (Ez 28,1 ff.). Jesus sagt: „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel stürzen” (Lk 10,18). Dabei handelt Michael, entsprechend seiner Rolle als Fürst Israels, des Gottesvolkes, als Engel der Gemeinde Jesu (vgl. Apk 12,10 ff.). Im nachbiblischen frühchristlichen Schrifttum ist er als der Engel des christlichen Volkes Fürbitter und Verteidiger gegen das Böse (auch Heiler, Bläser zum Gericht, Seelenwäger); insbesondere steht er den Sterbenden bei und geleitet ihre Seelen in den Himmel, ähnlich dem griech. Gott und Götterboten (d. h. Logosbringer) Hermes (lat. Merkur, vgl. auch den ägypt. Wissensgott Thot). In dieser Funktion ist Michael als „Hermes” also vielleicht auch außerhalb des jüdischen und christlichen Bewußtseins bekannt.

LeerAlle Funktionen und Taten Michaels sind im Zusammenhang mit dem in seinem Namen ausgedrückten Wesen zu sehen. Indem er durch seine Frage das Böse vertreibt und Gott und das Heil heranläßt, verbindet sich z. B. seine Funktion des Gerichtsengels mit der des Wegbereiters und des Heilers.

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LeerMichael stellt nicht eine Behauptung auf; er behauptet nicht, ist nicht die Behauptung: „Niemand ist wie Gott!”. Worin liegt der Unterschied?

LeerEine Behauptung ist auch Selbstbehauptung dessen, der sie ausspricht. Jeder Satz bedeutet eine Setzung, durch die der Betreffende sich auch selber setzt - und dem Hörenden aus-setzt. Dieser blickt und trifft dann nicht primär auf den Behauptungsinhalt, sondern ebenso auf den (sich) hier Behauptenden.

LeerBei der Frage aber tritt der Sprechende völlig zurück und der Hörende ist genötigt, auf die gefragte Sache zu blicken, um die Antwort selbst zu finden. Er ist es nun, der die Behauptung zu fällen und darin auch sich selbst - angesichts der Sache! - zu behaupten hat.

LeerNun richtet Michael nach der Schrift seine Frage an Luzifer als den Engel, der sich selbst wie Gott behauptet. Dadurch wird dieser gezwungen, auf die Wirklichkeit zu blicken, auf die sich seine Behauptung bezieht, und jetzt unverwischbar die Wahrheit zu erkennen. So muß Luzifer im Lichte der Wahrheit sich selbst verurteilen.

LeerDurch die auf ihn gerichtete Frage wird Luzifer gerichtet. Nicht Michael ist es, der ihn richtet - dieser urteilt ja nicht -, auch nicht unmittelbar Gott. Durch die Frage des Michael hindurch trifft ihn der Lichtstrahl der Wahrheit, und in ihm richtet er sich selbst.

LeerDie Frage ist zwar keine Behauptung, sondern soll zu einer solchen erst hinführen. Wohl aber setzt sie ein anfängliches und unausdrückliches Wissen um das Erfragte voraus; sonst wüßte der Fragende überhaupt nicht, wonach er fragt und könnte die Frage gar nicht stellen. Wüßte er es schon vollkommen, so wäre die Frage überflüssig und somit nicht mehr möglich; wüßte er es noch nicht einmal unvollkommen, so wäre die Frage ohne Inhalt und somit noch nicht möglich. - In diesem Sinne weiß Michael also immer schon, wer Gott ist und wer wie Gott ist - nämlich, wie es seinem eigenen begrenzten (und anfänglichen) Wesen entspricht, anfänglich und unvollkommen und in einer ganz und gar der Frage fähigen und bedürftigen Weise (was er durch die Tatsache seines Fragens zum Ausdruck bringt). Luzifer hingegen fragt nicht nach Gott; er überspringt mit der Frage auch seine eigene Endlichkeit und kann deshalb vor der Frage, die die Wahrheit durchläßt, nicht standhalten.

LeerSo verhält sich die Frage gewissermaßen wie ein „Kanal”, der die Wahrheit in einem originären Sinne per-sonal vermittelt und transparent macht. Die Frage ist das reine Medium (Dia-phanum) oder die reine (rezeptiv-produktive) Potenz im Bereich des Geistes. Da nach dem Gesagten der Engel sich selbst durch seine Frage wesenhaft bestimmt und dann seine Frage ist, so folgt: Er macht sich zur reinen Durchlässigkeit und potenten Leere, zum per-sonalen Nichts, das die Wahrheit unbegrenzt durchwirken läßt; diese wird so seine ganze Wirk-lichkeit. Er hält sie nicht fest, sondern gibt sie so, wie er sie empfängt; er gibt sich ihr hin, ohne von sich her irgendeine Selbstbestimmung entgegenzusetzen, und stellt sich ihr uneingeschränkt zur Ver-fügung. So macht er sich zum (archetypischen) „Dien-Mut” für Wahrheit und Sinn im voll entschiedenen „Gegen-Satz” zu (arche-typischer) sinn-widriger Resistenz.

LeerDarum ist Michael der geistige Archetyp der Stofflichkeit und der Weiblichkeit.

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LeerDie Frage des Michael lautet nicht: „Wer ist Gott? ”, sondern: „Wer ist wie Gott?”. Indem Luzifer sich durch sie in seiner Pseudo-Identität fortwährend durchschaut und vernichtet, vor ihr nicht Stand hält und ver-geht, geht die Frage (wie ein „Blitz” oder ein „Schwert”) durch ihn hindurch. Aber wenn nicht Luzifer - wen meint sie eigentlich? Wer ist in Wahrheit wie Gott? Die Frage zielt wesenhaft auf den Logos. Luzifer wird nur wie „zu-fällig” von ihr getroffen, sofern er sich vor den Logos oder an seine Stelle stellt. Sie fragt - d. h. auch: hört - dorthin, wo „jemand” ist wie Gott; dies aber kann nur ein Wort Gottes sein, in dem er sich vollkommen ausspricht und das ihm vollkommen gleich ist.

LeerDie Frage verhält sich wesentlich wie ein „Kanal” oder „Weg”, durch den das, worauf sie sich richtet, herankommen und in Klarheit hervortreten kann. Die Michaelsfrage ruft den Logos herbei und läßt ihn als Richtgrund und Herrn herankommen - dorthin, wo seine Herrschaft und Herrlichkeit noch aussteht. Dies trifft aber letztlich Natur und Geschichte, für die das Geschehen „im Himmel” archetypische Bedeutung hat. So eröffnet die Michaelsfrage dem Logos den Weg in die Welt; die Einstrahlung ihrer dispositiven geistigen Lichtenergie in den Form- und Informationsprozeß der Materie in Evolution und Geschichte bahnt dem Logos den Weg zur Inkarnation.

LeerEine gewisse Resonanz ließe sich im Fernen Osten in philosophisch-ideellen Geistesbewegungen erblicken wie der des Lao-tse oder des Buddha: Nach dem ersteren soll die Einstimmung des Lebens auf das TAO als „unbegrenzte Sinnharmonie des Kosmos” den Geist weiten; nach dem Buddhismus soll die Meditation des KUON den Geist zur Transzendenz aufbrechen. Im Westen ist vor allem auf die griechische Philosophie und besonders die Figur des Sokrates hinzuweisen, der eine „Kunst des Fragens” als „Geburtshilfe (Mäeutik) für den Logos” entwickelte.

LeerDie zum Logos hinführende und den Logos heranführende Einwirkung der Michaelsfrage richtete sich zuletzt auf das Volk Israel, dessen geschichtliche Aufgabe es war, inmitten der Verwirrung und des Dunkels der heidnischen Welt „Platzhalter” des Erlösers zu sein. Die Juden verstanden sich als die „Kinder Abrahams”. Abram aber bestimmte sich zu Abraham durch die Entscheidung, Gott mehr zu glauben als seinen eigenen widerstreitenden Gedanken und Gefühlen, da ihm einerseits ein Sohn verheißen war, auf den Gott den Bund gründen wollte, er andererseits dann aber gerade diesen töten sollte. Abraham traf die Entscheidung, sich Gott bedingungslos anzuvertrauen und zur Verfügung zu stellen - womit er die Michaelsfrage in der Dimension der Geschichte kontinuierte; denn die Bestimmung von „Kindern” ist es, das Leben des Vaters (und das bedeutet: seine geistige „Ek-sistenz”) fortzusetzen.

LeerDiese in der vorbehaltlosen Hingabe empfängnisbereit geöffnete und im Kampf der Geschichte hoffende und harrende Existenz kulminiert in Maria. Mit ihr erreicht der durch die Geschichte herankommende Logos sein Ziel, indem er aus ihr als Mensch persönlich geboren wird. Ihre Entscheidung ist der des Abraham ähnlich: Entgegen ihren eigenen widerstreitenden Gedanken und Gefühlen stellt sie sich Gott zur Ver-fügung. Der „Alte” Bund ist durch den Glaubensakt eines Mannes gegründet, der „Neue” durch den einer Frau.

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LeerDie durch Mitwirkung der Engel vermittelte Inkarnation des Logos ist das metaphysische Thema der Evolution und der Weltgeschichte. Sie wurde zuletzt durch den besonderen geschichtlichen Auftrag der Juden vorbereitet und in Jesus von Nazareth Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist mit Jesus aber erst grundgelegt und begonnen; ihre weitere Ver-wirklichung und Ver-voll-kommnung (d. h. ihr volleres Kommen) ist von da an immer Aufgabe der Zu-kunft. Auf diese zielt das Weinstock-Reben-Gleichnis Jesu (Joh 15,1-18, besonders v.5): „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.” Von daher ist das Thema der Geschichte die Kontinuation der Inkarnation und der in Apk 12,7 ff geschilderte arche-typische Engelskampf im Hinblick auf die an ihm partizipierende Weltgeschichte sowohl vor-zeitlich als auch end-zeitlich zu verstehen. Dies bedeutet aber auch, daß die Wirk-lichkeit des Michael, an der die Juden partizipierten, in den Christen sich fortsetzt.

LeerIm Hinblick darauf gewinnt die Michaelsfrage nun noch eine neue geschichtliche Dimension: die der Beantwortung, die sie in der Geschichte der Menschheit nach Christus erfährt. Nachdem sich die Hoffnung erfüllt und Maria empfangen hat, ist Christ-sein als Fortsetzung des Empfangens auch Fortsetzung der Wirklichkeit des Empfangenen in den Christen, d. h. eine Fortsetzung des Lebens Christi selbst. Da aber Christus als der menschgewordene Logos ist „wie Gott”, bedeutet die Michaelsfrage nun eine Einladung an alle, Christ zu werden; sie ruft alle in Christus zusammen: „Wer (alles) ist wie Gott?”.

LeerAls die für die Welt im Prinzip bereits beantwortete und erfüllte Frage läßt sie den Logos nun noch voller herankommen. In diesem Sinne kommt Michael eine Führungsrolle in der Geschichte zu: Er führt sie zur Entscheidung.

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LeerDiese archetypische Disposition in der Auseinandersetzung mit dem Widersinn spiegelt sich zunächst wiederum in umfassenden, ja weltumspannenden geschichtlichen Ideenbewegungen, die das praktische Handeln bestimmen. Bedeutet es mehr als einen bloßen Zufall, daß sie in der Mehrzahl von Deutschen begründet wurden, wie Thomas v. Aquin (Mutter war Deutsche), Luther, Hegel, Marx, Freud, Einstein, Heidegger, Buber, Adorno und Horkheimer und anderen, die wiederum zum großen Teil Juden gewesen sind?

LeerDie eigentümliche Verflechtung von Juden und Deutschen begegnet bis in die unheimlichen Juden-Massenhinschlachtungen durch Hitler und das „Dritte Reich”, die schon vom ideologischen Ansatz her die natürliche Verstehbarkeit übersteigen. Sollte sich hier eine Konvergenz der geschichtlichen Bestimmung, eine metaphysische Verwandtschaft beider Völker anzeigen? Die auffällige, durch allen Widersinn hindurch möglicherweise noch tiefer sinnhafte Konstellation setzt sich fort, indem die Ereignisse des Dritten Reiches nach dem Kriege zur Wiedergründung des Staates Israel führten. - Vielleicht ist eine hintergründige Dimension angesprochen, wenn ähnlich den Juden in besonderer Weise die Deutschen dem Engel Michael zugeordnet werden, der als ihr „Patron” gilt?

LeerJede in einer konkreten geschichtlichen (oder individuellen) Situation mutig gestellte Frage nach dem Sinn, die den Partner nicht zur Funktion angstvoller oder überheblicher (Selbst?)behauptung degradiert, sondern zur mit-ver-antwortlichen Antwortfindung freigibt, einlädt und herausfordert, partizipiert an der Michaelsfrage und läßt sie geschichtlich wirksam werden. Je ausdrücklicher man sich der geistigen Energie und personalen Macht des Engels unterstellt und anvertraut, desto mehr gibt man ihr Raum. Damit aber weitet sich sein Ruf zu der Frage: Wer ist wie Michael?

Gekürzte und modifizierte Fassung von „Wer ist Michael? Zur Geschichtsmetaphysik des Engels”
In: Grenzgebiete der Wissenschaft 31 (1982) 73-100

Zur anthropologischen Grundlegung: Heinrich Beck - Anthropologischer Zugang zum Glauben. Eine rationale Meditaton - Salzburg/München 1979.
(insbesondere die Abschnitte „Der Mensch als Frage” und „Christus als Antwort”)

In Quatember ist außerdem erschienen: Die Engel als metaphysische Umwelt des Menschen (1984,138)

© Prof. Dr. Dr.h.c. Heinrich Beck
Quatember 1982, S. 196-206

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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