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Die Engel als metaphysische Umwelt des Menschen
von Heinrich Beck

LeerNachdem noch bis vor kurzem die Wirklichkeitsdimension der Engel von Theologie und Philosophie kaum beachtet oder als ausgefallener Spezialbereich angesehen wurde, lassen die jüngsten Ereignisse der Geschichte die Frage wieder ernstnehmen, ob hier nicht eine hintergründige Dimension der Erfahrungswirklichkeit greifbar wird, die unser Denken zu unkonventionellen Frageansätzen oder gar Neuaufbrüchen zwingt. Im Michaelisheft 1983 dieser Zeitschrift wurde bereits über „Michael - eine Engelsmacht in der Geschichte” nachgedacht. Einzelne Passagen aus diesem früheren Aufsatz werden noch einmal aufgenommen, sollen jedoch in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden. Es geht hier um die allgemeinen Grundlagen eines Zugangs zur Wirklichkeit der Engel. Im Gegensatz zur „wissenschaftlich aufgeklärten Neuzeit” war man bei uns in der Antike und ist man in Asien, Afrika und Amerika heute noch in breiten Bevölkerungsschichten überzeugt von der Existenz von rein geistigen Heils- und Unheilsmächten, von Göttern, Engeln und Dämonen. Bei Negern, Indianern und Völkern Ostasiens ist der Verkehr mit ihnen eine Selbstverständlichkeit.

LeerIm europäischen Abendland artikulierte sich die subjektive Überzeugung aber auch in einem rationalen Bewußtsein. So suchte der ursprüngliche philosophische Ansatz in der Antike, zum Beispiel bei Aristoteles, die Erfahrungsgegebenheiten als Ausdruck einer über-sinnlichen (meta-physisch) hereinwirkenden Wirklichkeit zu verstehen. Die antagonistischen Seins- und Ereignisformen der materiellen Erfahrungswirklichkeit erschienen dann begründet durch letzte geistige Formprinzipien, die Götter. Als Götter galten die „Sterngeister” (oder „Sphärengeister”) des Himmels, die durch umkreisende Bewegung das Geschehen und Leben auf der Erde in kosmischem Gleichgewicht und göttlicher Harmonie halten; die Gesamtordnung aber wurde auf einen höchsten Gott zurückgeführt, wie es etwa in dem aristotelischen Gottesbeweis (Metaphys. XII, vgl. auch den Gesamtzusammenhang von 1073 a 14 bis 1074 b 8) deutlich wird.

LeerDas christliche Glaubensverständnis, das an die philosophische Tradition anknüpfte und sich mit ihr auseinandersetzte, erfaßte den einen höchsten Gott nicht nur als Weltenbildner (der aus einem ihm vorgegebenen Stoff Wesen und Ordnungen herausformte), sondern als Schöpfer aus dem Nichts: Er bringt gerade auch die stoffliche Grundlage aller Formen hervor und ist so absolut unabhängig und allmächtig. Die geistigen Sternenbeweger und kosmischen Formprinzipien aber wurden in der frühchristlichen Theologie und Philosophie als die Engel bezeichnet, und es wurde ihnen - in Abhängigkeit von Gott - Herrschaft über den Kosmos, die Himmel und die Elemente zugeordnet, auch die Schutzherrschaft über ganze Völker und die Kirche. Den sieben Planetengöttern zum Beispiel entsprachen die sieben Erzengel. Im Rahmen der göttlichen Weltregierung (gubernatio Dei) wurden die Engel dann als Ausdruck einer besonderen göttlichen Vorsehung (providentia Dei specialissima) betrachtet, was besonders in der protestantischen Orthodoxie thematisiert wurde.

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LeerDie Engelsmächte als Dimension des Numinosen konnen so als von Gott geschaffene reine Geistwesen verstanden werden, die er mit Dienstfunktionen an seinem Schöpfungs- und Erlösungswerk teilnehmen läßt. Der Begriff des „Engels” meint ein geschaffenes körperloses Ich, das von der in Raum und Zeit ausgedehnten Welt wesentlich verschieden und ihr überlegen ist; solche Unstofflichkeit schließt jedoch nicht aus (sondern ist geradezu die Bedingung dafür), daß der Engel den Stoff in stoffüberlegener Weise bewegt und in ihm wirkt, ja gelegentlich - wenn es seinem Auftrag entspricht - einen Leib annimmt, um in der stofflichen Welt zu „erscheinen”.

LeerIn der Perspektive dieser philosophie- und theologiegeschichtlichen Entwicklung und Tradition ist nun in systematisch-methodischer Form zunächst zu fragen, ob sich im Ausgang von der Erfahrung die Existenz und Einwirkung reiner Geistwesen philosophisch nahelegt. Auf dieser Grundlage kann dann eine noch weiterführende theologische Ausdeutung ansetzen, die zu einem vertieften Verständnis rational aufgeschlossener Erfahrungswirklichkeit im Glauben und der Aussagen des Glaubens aus der Erfahrung führen kann.

LeerEinen Hinweis auf die Existenz von Engeln vermitteln zunächst alte Quellen religiösen und außerreligiösen Glaubens und entsprechende Symbole in den unbewußten Tiefenschichten der Seele, die in Bräuchen der Völker, Mythen und Träumen greifbar werden und als Ausdruck von allgemeinen, aber weithin verschütteten Menschheitserfahrungen gedeutet werden können. Die Existenz von Engeln wird aber auch durch rationale philosophische Argumente nahegelegt. Die Verstandesargumente haben in den Mythen einen umfassenden menschlichen Hintergrund, die mythische Schau aber gewinnt durch die rationale Reflexion einen verbindlicheren Realitätsbezug. Nämlich:

LeerIn der Welt entstanden und entstehen neue Arten und Gattungen von leblosen, von lebendigen und von bewußten Seinsformen. Diese werden als solche durch die einzelnen Individuen, die an ihnen partizipieren, nicht grundlegend hervorgebracht, sondern nur weitervermittelt, z. B. von den Vorfahren an die Nachkommen. Die alle Individuen einer Art prägende und umfassende Seinsform wird so von allen gemeinsam empfangen - anfänglich vom „ersten Glied”, von den folgenden vielleicht „vollkommener”; sie ist dann durch den fortlaufenden Generationsprozeß immer mehr im Kommen. Sie kann dabei aber nicht aus nichts kommen. Wenn also die je neue Wesensstruktur zwar „in” der Welt, aber nicht „aus” ihr kommt (da sie vorher ja nicht in ihr da war), so sind von der Welt verschiedene Wesensgründe anzunehmen. Als von der Welt verschieden existieren sie nicht im „Stoff der Welt”, sondern in sich selbst; d. h. es handelt sich um unstoffliche reine Geistenergien Oder „Engel”, die als personale Urformen, als Archetypen oder Vor-Bilder des Seienden im Weltprozeß wirksam sind.

LeerInsbesondere ist auch zu sehen, daß eine Wesensnatur, die innerhalb einer Generationskette durch Zeugung weiterer Individuen von Glied zu Glied weitergegeben wird, vom ersten Glied dieser Reihe nicht aus nichts hervorgebracht, sondern grundlegend empfangen wird; denn aus nichts kommt nichts. Beim Entstehen einer neuen Art (z. B. durch Erbsprung oder Genmutation) sind nämlich sehr wohl zu unterscheiden: die auslösenden materiellen Faktoren oder Bedingungen einerseits und der eigentliche Formgrund der neuen Wesensstruktur, das heißt die Seinsquelle, aus der der neue Sinngehalt der Art erfließt, andererseits. Ähnlich ist bei einer Melodie wohl das „Material” der Töne, nicht aber der Sinngehalt ihrer Kombination auf physikalische Ursachen zurückzuführen. Im Gegensatz zu einer Melodie oder einem beliebigen Kunstwerk kommen bei den ganzheitlichen Wesensstrukturen der Natur nur außermenschliche Geistenergien als sinnstiftende Formprinzipien infrage; ebenso mitursächlich auch bei den übergreifenden Sinnkomplexen der Kultur, den Gebilden des „objektiven Geistes”, wie Denkformen, Sprachen, Ideologien, Kunststilen.

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LeerWohl das Spiel ihrer Formen verdankt so die Welt dem formenden Einfluß von Engeln, nicht jedoch ihre Existenz überhaupt; mit dieser entspringt sie vielmehr unmittelbar aus Gott. Denn die Existenz ist keine Form, sondern deren Voraussetzung; nur unter der Bedingung, daß die Welt dabei überhaupt ist, kann sie so oder anders sein und geformt sein. Während sie von einer Form in andere übergeht, strömt ihr die Existenz fortwährend zu - nicht von einem Form-, sondern Seinsgrund, der das Sein als..solches meint. Da das Sein als solches aber allem zukommt, was überhaupt ist - allem Stoff, allen Individuen und allen stofflichen wie unstofflichen Formen -, so umfaßt dieser Seinsgrund überhaupt alles. Er ist im Gegensatz zu Engeln schlechthin unbegrenzt und allmächtig - Gott. Also: Während die Welt unter dem informierenden Einfluß geistiger Formgründe sich entwickelt, wird sie mit diesen zusammen in ihrem gleichzeitigen Uberhaupt-Sein fortwährend von Gott hervorgebracht. (Vgl. hierzu die Arbeit des Verfassers: Anthropologischer Zugang zum Glauben. Eine rationale Meditation. Verlag Anton Pustet Salzburg-München, 2. Aufl. 1982)

LeerMan könnte versucht sein einzuwenden: Wenn die Welt stets unter irgendwelchen Formen existiert und gemäß diesen von Gott ins Sein gerufen wird, so sind die Formgründe als „göttliche Ideen” in Gott selbst anzunehmen und Engelwesen verzichtbar. Doch dann müßte ebenso gelten: Da jedes Individuum die spezifische Form seiner Art in einer einmaligen Ausprägung repräsentiert, in der es von Gott erschaffen wird, so gründet auch diese in göttlichen Ideen, und ihre Hervorbringung oder Vermittlung durch die Eltern, d. h. die elterliche Zeugung selbst, wäre überflüssig. Da jedes So-Sein unter artspezifischem und individuellem Aspekt von Gott in seinem Überhaupt-Sein bewirkt wird, so sind beide Aspekte in göttlichen Ideen notwendig urvorgebildet und sowohl Engel (die das artspezifische Sosein prägten) als auch Eltern (die die jeweilige individuelle Naturkonkretion vermittelten) in einem absoluten Sinne nicht notwendig; Allmacht ist auf anderweitige Mitwirkung nicht angewiesen. Jedoch hat „Überflüssigsein” auch - und grundlegend - einen positiven Sinn: Es entspricht dem Allmächtigen, im Maße des Möglichen „über sich hinaus zu fließen”, andere Wesen hervorzubringen und gemäß ihrer Wirklichkeit an seinem Wirken teilnehmen zu lassen; warurn sollte absolutes Vermögen nicht grundsätzlich Mögen bedeuten? So ist es in einem tiefsten Sinne natürlich, daß ebenso wie für die individuelle Bestimmung der Natur des Seienden in der Welt jeweils Eltern existieren und mitverantwortlich sind, so für übergreifendere Aspekte Engel. Dann gilt: Während das Individuum von seinen Eltern in seiner individuellen Natur gezeugt und von seinen Engeln in allgemeineren Strukturen seines Wesens geprägt wird, gibt Gott gleichzeitig die Existenz: ihm, den Eltern und den Engeln.

LeerVon da aus ergibt sich eine noch tiefere philosophische Begründung für die Existenz von Engeln. Wenn Gott personal ist, das heißt in der Dimension von Ich und Du lebt, so schafft er auch personal auf ein Du hin. Nun aber stellten die verschiedenen und gegensätzlichen Strukturbereiche der materiellen Welt - sowohl der Natur als auch der Kultur - je für sich kein personales Gegenüber zu Gott dar, wenn sie nicht jeweils in einem reinen Geistwesen ihr personales Zentrum hätten, das Gott letztlich als sein Du meint, wenn er einen Seinsbereich schöpferisch hervorruft, und das dann auch als der „Herr” dieses Seinsbereichs vor Gott und für ihn verantwortlich steht. So spricht zum Beispiel die HI. Schrift von Engeln als Fürsten von Völkern; das Buch Daniel nennt den Erzengel Michael den Fürsten und Schutzherrn Israels. Im betreffenden Engel ist die Seinsform eines Seinsbereichs personal zusammengefaßt und als ein „Ich” - das heißt ein anrufbares und zutiefst gemeintes Du Gottes - geistig bei sich und ihrer selbst inne. Der Antagonismus von Seinsbereichen erscheint dann als Widerspiegelung eines entsprechenden transzendenten personalen Geschehens - wozu wiederum das Alte Testament mit Hinweisen auf einen Kampf von Engelsfürsten der Völker Parallelen gibt.

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LeerDoch läßt sich im Ausgang von der Erfahrung auch für jedes Einzelindividuum der Welt, zumindest für jede menschliche Person, eine archetypische Engelsmacht als gleichsam metaphysische Schutzhülle annehmen. Wie Hans André gezeigt hat (vgl. Ausbergungs- und Schutzhüllenereignungen in der Schöpfung. In: F. Poggeler [Herausg.], Innerlichkeit und Erziehung, Freiburg 1964), ist im Grundbau der Schöpfung auf jedes individuelle Wesen Rücksicht genommen und für es eine genaue entsprechende Schutzeinrichtung vorgesehen; anders könnte kein Individuum existieren. So sind atomare Teilchen durch einen „Potentialwall” vor Zerstörung geschützt, das Leben auf der Erde durch Schichten der Atmosphäre vor gefährlicher kosmischer Einstrahlung, das ungeborene Kind durch die Filterungswände der Placenta im Uterus vor unzuträglichen Blutsubstanzen der Mutter, der Mensch nach der Geburt durch den bergenden Raum der Familie - Adolf Portmann nennt ihn den „Sozialuterus” - vor schädlichen Einflüssen aus der umgebenden Gesellschaft; später übernehmen entsprechende Funktionen die umfassenderen sozialen und politischen Einrichtungen. Wenn also, wie die Erfahrungsforschung zeigt, die Analogie der individuellen Schutzhülle einen durchgängigen Grundzug der Schöpfung in allen Seinsbereichen darstellt - legt sich dann nicht die Annahme nahe, daß auch dem metaphysisch-existentiellen Daseinsraum des Menschen eine solche Schutzhülle zugeordnet ist? Der je individuelle Schutzengel wäre das per-sonale Uber-Ich jedes Menschen, Ausdruck einer sehr persönlichen und intimen Vorsehung Gottes.

LeerAn diesem Beispiel wird bespnders deutlich, daß der geistig formende Einfluß der Engel nicht determinativ, sondern dispositiv zu denken ist, das heißt nicht festlegend, die Eigenwirklichkeit und Eigentätigkeit des Seienden ausschließend, sondern sie vielmehr ermöglichend, begünstigend und schützend, ihr neue Räume erschließend.

LeerEngel sind dienend an der Schöpfung Gottes mitwirkende Wesen, die deren positive Entwicklung und Verwirklichung assistierend fördern. Dies kann sich noch an einigen naturalen und zwischenmenschlichen Phänomenen verdeutlichen. In der Begegnung und Gemeinschaft mit bestimmten Menschen zum Beispiel können wir Eigenschaften aktivieren, über die wir sonst nicht verfügen, wie vielleicht eine besondere Strahlkraft unserer Persönlichkeit, Eloquenz oder Klarsicht: wir erfahren uns durch die Urnstände disponiert. Es ergeht uns ähnlich wie den Tönen einer Melodie, die im Verbund der Komposition Eigenschaften besitzen, „Ganzheitsqualitäten”, die sie für sich nicht aufweisen; das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Woher aber kommt in solchen Situationen das Plus an Form, die höhere Disposition dieser Ganzheitsqualität, wodurch ein Mensch buchstäblich „über sich hinauswächst”?

LeerOder wir erfahren uns an bestimmten Orten, sei es in einer Landschaft, einer Stadt oder einem besonderen Gebäude, etwa einer Kirche„,höher gestimmt” und zu Handlungen disponiert, die außerhalb so kaum moglich sind. Wir sagen dann, der Ort hat eine charakteristische geistige Atmosphäre oder steht unter einem bestimmten Geist. Die Rede vom „Genius loci” weist in dieselbe Richtung.

LeerÄhnlich gibt es in unserem individuellen Leben wie in der Geschichte der Menschheit so benennbare „hohe Zeiten”, die durch die Konstellation der Urnstände Einsichten und Entscheidungen ermöglichen, die von grundlegender und wesentlicher Bedeutung sind. Es handelt sich wie um Angebote des Schicksals, die man wahrnehmen oder auch unbeachtet verstreichen lassen kann. Wer aber fügt diesen „Kairos”, das - wie die Alten deuteten - „Glücksspiel der Götter”?

LeerDamit erhebt sich die sachliche metaphysische Frage, wie solcher nicht determinierende, sondern disponierende Einfluß von Engeln zu denken ist. Einen Hinweis vermitteln die Aussagen der kirchlichen Liturgie, wonach der grundlegende Daseins- und Lebensakt der Engel im Lobgesang Gottes besteht. Das heißt philosophisch, ihre geistige Energie ist Rhythmus von Erkenntnis und Liebe, eine Schwingung von Licht und Hingabe. Schwingung aber kann in der Berührung für andere zur Anregung werden, im Mit-Schwingen das eigene Sein aktivieren, in Zusammen-Klang und Überein-Stimmung mit jener tieferen archetypischen geistigen Wirklichkeit, worin ein Aspekt der Wahrheit des eigenen Seins liegt. Die geistige Wirklichkeit des Engels wirkt ein, indem sie in der materiellen Wirklichkeit der Welt Resonanz findet und so diese zu typischem Eigenwirken präformiert und disponiert.

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LeerMit dieser Sicht kongruiert die alte philosophische Tradition einer Weltharmonik von Pythagoras über Platon, Kepler, Leibniz, Thimus, bis auf Hans Kayser und Rudolf Haase in unseren Tagen - auch die Physiker Albert Einstein, Max Planck und Carl Friedrich v. Weizsäcker wären in etwa zuzuordnen -, wonach die Welt in den Grundstrukturen der Natur und Kultur nach mathematischen Proportionen figuriert ist, die ästhetische Urqualitäten bedeuten und als „kosmische Musik” interpretiert werden können. So drückte man nach dem pythagoraischen Weltbild den Abstand der Sonne zur Erde durch eine Quint aus, den der Sonne zu dem als fest gedachten Himmel, dem Firmament, durch eine Quart, und entsprechende Tonverhältnisse wurden auch den Planeten zugeschrieben.

LeerOder auch: Die rhythmische Anordnung der Laubblätter bei Pflanzen, der Organe beim lebendigen Organismus, wie deren gesamte Bauform und Ausdrucksgestalt, gehorchen bestimmten mathematischen Gesetzen, die den Ausgleich und das Zusammenspiel der Gegensätze, die gegenseitige Ergänzung der Teile zur harmonischen Einheit des lebendigen Ganzen vorzeichnen und ermöglichen. Solche Bio- und Onto-Rhythmik findet in unserer Umgangssprache immer schon Ausdruck durch musikalische Bezeichnungen wie Magen-Verstimmung, Überein-Stimmung zwischen Menschen, geistig-personale Selbst-be-Stimmung usw. . Auch die Architektur und die Werke der Kunst - man denke zum Beispiel an griechische Tempel oder barocke Kirchen - genügen harmonikalen Grundgesetzen, und die verschiedenen Kunststile, ja sogar die Kulturbereiche der individuellen und gesellschaftlichen Lebensformen und vor allem die Sprachen der Völker unterscheiden sich grundlegend durch ihr jeweiliges rhythmisches Strukturprinzip. Nach antiken und mittelalterlichen Auffassungen besteht die Aufgabe der Kultur, und damit auch der Staatskunst, zutiefst darin, die harmonikale Anlagedisposition der Natur durch entsprechende freie Selbstbestimmung im menschlichen Zusammenleben und in der Gesellschaft nachzuahmen und weiterzuverwirklichen. Demgemäß unterschied man drei Gattungen von Musik: die Vokal-, die Instrumental- und die kosmische Musik - wobei die gewöhnliche Unhörbarkeit der letzteren lediglich darauf zurückgeführt wurde, daß sie die Fassungskraft der normalen Einstellung unseres Ohres überschreitet; jedoch ist es am Institut für Harmonikale Grundlagenforschung in Wien unter Leitung des schon zitierten Rudolf Haase gelungen, solche „kosmische Musik” in eine für unser gewöhnliches Ohr zugängliche Tonlage zu transponieren und z. B. den rhythmischen Aufbau von Pflanzen und anderen organismischen Verhaltnissen für uns hörbar zu machen (worauf sich moderne medizinische Ansätze einer „Musiktherapie” von Funktionsstörungen und Disharmonien im Organismus beziehen können).

LeerUnsere metaphysische Frage lautet nun: Ist solche Sphärenharmonie, die durchgehend die Grunddisposition der Materie, der lebendigen Natur und menschlichen Kultur bestimmt, letztlich als resonantielle Antwort der materiellen Welt auf das Ein- und Durchwirken einer „Engelsmusik”, des Gesangs und Spiels von Engeln zu verstehen? Dazu stünden moderne physikalische Hypothesen nicht im Widerspruch, wonach die Welt als Evolutionsereignis kein geschlossenes, sondern ein offenes System von Regelkreisen darstellt, in welchem sich zwar die materielle Gesamtenergie konstant erhält, aber der Grad ihrer Differenziation und Komplexität, also ihrer Ordnung und Geformtheit, ihres Gehalts an Information, ständig zunimmt; was aber sind dann die informierenden, hereinformenden Mächte? Es ist also anzunehmen, daß die Entwicklung des Kosmos in den durchgreifenden Strukturen der Materie, des Lebens und des Bewußtseins (d. h. der Kultur) durch das immanente Wirken transzendenter Geistwirklichkeiten wesenhaft mitbestimmt wird.

LeerDies macht nicht nur den Aufbau und die Bewegung sinnvoller dynamischer Ordnungen, sondern auch gewisse negative Erscheinungen, tiefe Disharmonien in der Wesensverfassung der Welt verständlich, die nicht auf den Menschen zurückgehen können: die Naturübel in der Evolution und das Böse in der Geschichte. Auch die Dämonen gehören zur metaphysischen Urnwelt des Menschen. Der philosophische Zugang zur Wirklichkeit des Dämonischen soll in einem späteren Heft behandelt werden.

© Prof. Dr. Dr.h.c. Heinrich Beck
Quatember 1984, S. 138-145

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-08
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