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Jungfrau und Mutter, Tochter des Sohnes
von Jürgen Boeckh

Leer„Nach evangelischer Überzeugung hat Maria keine eigene Heilsbedeutung. Eine Stellung im Heilswerk Gottes kommt ihr nur insofern zu, als in Jesus von Nazareth das ewige Wort Gottes Fleisch und Blut geworden ist (Joh. l,14). Das setzt die Geburt von einer irdischen Mutter voraus (Gal. 4,4).” So heißt es in den „Grundsätzen einer evangelischen Sicht Marias” des Catholica-Arbeitskreises der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Ich könnte diesen Satz auch unterschreiben, wenn ein Wort geändert würde. Statt „nur” würde ich „aber” sagen: „Eine Stellung im Heilswerk Gottes kommt ihr a b e r insofern zu, als in Jesus von Nazareth das ewige Wort Gottes Fleisch und Blut geworden ist.” Warum das ein- schränkende „nur”? Ist es nicht etwas Staunen-Erregendes, etwas Kaum-zu- Glaubendes, daß ein Mensch auserwählt wird, Mutter des logos, des ewigen Wortes Gottes zu werden? Spricht nicht aus dem „nur” die alte protestantische Angst, ja nicht zu viel von Maria zu sagen? In dem Arbeitspapier „Maria / Evangelische Fragen und Gesichtspunkte / Eine Einladung zum Gespräch”, aus dem unser erstes Zitat stammt, wird in Erinnerung gebracht, daß auf dem 3. ökumenischen Konzil, 431 in Ephesus, der Titel „Gottesgebärerin” (so wörtlich aus dem Griechischen) verbindlichen Charakter erhielt. Dieser Titel, im Deutschen mit „Gottesmutter” oder „Mutter Gottes” wiedergegeben, gehört zum Dogmenbestand der ersten fünf Jahrhunderte, der „für alle christlichen Kirchen maßgebend ist, also auch für die evangelischen Kirchen.” Es wird allerdings zu bedenken gegeben, „in welchem Sinn diese Formulierungen der Alten Kirche für die Christen heute verbindlich sind”. Die Gefahr der Marienverehrung sah Martin Luther darin (so wird aus einer Predigt vom 8. September 1522 zitiert), „daß man sie höher hält, denn man soll, ... daß Christus dadurch verkleinert wird, indem man mehr hat die Herzen auf Maria gestellt denn auf Christus selbst.” Aber es wird auch gesagt, „daß die Reformatoren die Mutter Jesu hoch geachtet und die altkirchliche Lehre über die jungfräuliche Gottesmutter bejaht haben.” An dieser Stelle wird auf Luthers Auslegung des „Magnificat” vom Jahre 1521 verwiesen. Wer das „Magnificat” des Reformators zum ersten Mal liest, wird als evangelischer - und katholischer - Christ staunen über die herzliche Art, in der Luther trotz mancher Abgrenzungen von - und zu! - Maria spricht. So heißt es an einer Stelle: „Ei du selige Jungfrau und Mutter Gottes, wie hat uns Gott so einen großen Trost in dir erzeigt, weil er deine Unwürdigkeit und Nichtigkeit so gnädig angesehen hat. Dadurch werden wir hinfort ermahnt, er werde uns arme, nichtige Menschen deinem Exempel nach auch nicht verachten und gnädig ansehen.”



LeerDie Schrift des Catholica-Arbeitskreises ist kein „geistliches Wort”, sondern ein theologisches Arbeitspapier. Es spricht eine nüchterne Sprache. Dennoch fällt auf, daß nur in Zitaten von der Jungfrau und Gottesmutter gesprochen wird. Im Unterschied zu Martin Luther geht der Titel „Mutter Gottes” heutigen evangelischen Christen offenbar schwer über die Lippen. Manche protestantische Theologen reden und schreiben sogar von „der Maria”, obwohl sie wohl kaum von „dem Jesus” sprechen werden. Auch Reintraud Schimmelpfennig, Autorin der „Geschichte der Marienverehrung im Protestantismus” (Paderborn 1952) hat in einem Gesprächsbeitrag festgestellt: „Die Denkschrift entgeht ... nicht einer gewissen kühlen Distanziertheit, die im Gegensatz steht zu der Wärme, mit der Luther von der Mutter unseres Herrn gesprochen hat. ” Ähnlich hat sich Reinhard Mumm, Ältester der Evangelischen Michaelsbruderschaft, geäußert: „Insgesamt stehe ich unter dem Eindruck einer mehr sachlich korrekten und eben darum kühlen Darstellung. Es fehlt die Liebe, der Luther einen so warmen Ausdruck gegeben hat.”

LeerDie Verfasser des Arbeitspapieres mögen aus diesen Äußerungen, die unabhängig voneinander entstanden sind, ersehen, daß evangelische Spiritualität im Blick auf Maria weiter geht, als nach ihrer Darstellung zu vermuten ist. Allerdings ist ebenso festzustellen, daß der größere Teil der evangelischen Christen in Frömmigkeit und Theologie noch hinter dem zurückbleibt, was nach dem Arbeitspapier im evangelisch-lutherischen Raum für möglich gehalten und gewünscht wird. Darum ist diese „Einladung zum Gespräch” unbedingt zu begrüßen.

LeerDaß Christen wie Maria zu glauben und zu leben aufgerufen sind, ist unbestritten. In der „Augsburgischen Konfession”, der grundlegenden Bekenntnisschrift für evangelisch-lutherische Christen, gibt es keinen besonderen Artikel über Maria, aber einen Artikel (XXI) „Vom Dienst der Heiligen”. Da heißt es, „daß man der Heiligen gedenken soll, auf daß wir unsern Glauben stärken ... dazu, daß man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf...” Merkwürdigerweise wird hier als Heiliger König David angeführt, an dem sich der Kaiser in den Türkenkriegen ein Beispiel nehmen soll, Maria als „Exempel des Glaubens” wird uns von Luther in seinem „Magnificat” vor Augen gestellt. Wilhelm Stählin hat in seiner schönen Betrachtung über die Verkündigung der Geburt des Herrn, „Freu dich, Begnadete”, die Jungfrau Maria als Bild der Kirche - figura ecclesiae - und des einzelnen Christen dargestellt. Daß die „gläubige Seele” sich als „Die geistliche Maria” verstehen kann, weiß auch Angelus Silesius:
„Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,
Soll er mich ewiglich der Seligkeit gewähren.”
LeerNicht nur als Wartende und Hoffende ist sie uns ein Beispiel des Glaubens, Auch die Mutter des Herrn, die das Kind geboren hat, die es anschaut und anbetet, ist Vor-Bild eines jeden Christen, der vor dem Kind in der Krippe, dem Kind in Mariens Schoß, still wird, anbetet. Paul Gerhardts Lied „Ich steh an deiner Krippen hier” könnte ein Lied der Mutter sein: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen . . . ” Evangelische Christen feiern in der Regel ohne theologische Bedenken Weihnachten, das Fest der Geburt Christi, obwohl weder das Fest als solches noch das Datum unmittelbar aus dem Neuen Testament ableitbar sind, obwohl es erst im 4. Jahrhundert bezeugt ist, einige Jahrzehnte vor dem Konzil von Ephesus. Wenn es ein Wachsen und Reifen im Glauben und in der Liebe für den einzelnen Christen gibt, warum nicht dann auch für die Kirche als ganze?



LeerEinen Schritt weiter gehen wir, wenn wir nicht nur versuchen, wie Maria zu glauben und zu leben, sondern auch bewußt mit Maria vor Gott stehen. Als ich zur Einleitung des Magnificat in der Vesper einmal sagte „Laßt uns Gott loben mit Maria, der Mutter des Herrn!”, mußte ich mir anschließend den Protest eines Gemeindegliedes anhören - eines gläubigen Christen pietistischer Herkunft. Ich versuchte, ihm die Legitimität meiner Worte mit der dritten Strophe des „Quempas” klar zu machen: „Freut euch heute mit Maria in der himmlischen Hierarchia, da die Engel singen alle in dem Himmel hoch mit Schalle.”

LeerWährend man die Heiligen, sofern sie nur als „Exempel des Glaubens” gelten, lediglich als historische Gestalten anzusehen braucht, ist die historische Dimension verlassen, wenn wir mit Maria das Magnificat beten oder wenn wir in der Eucharistischen Feier sagen : „Vater, erbarme dich über uns alle, daß wir das ewige Leben erlangen und mit Maria, den Aposteln und allen Heiligen, die Deine Gnade gefunden haben von Anbeginn der Welt, Dich loben und preisen durch Deinen Sohn Jesus Christus... ” In dieser Formulierung, wie sie neben anderen Eucharistiegebeten in der Evangelischen Michaelsbruderschaft gebraucht wird, ist die Bezeichnung „selige Jungfrau und Gottesmutter”, die im zweiten Hochgebet der römisch-katholischen Gemeindemesse für Maria gebraucht wird, fortgelassen worden. Trotzdem habe ich auch hier schon zweimal - in jüngster Zeit - Anfragen gehabt, von Pfarrern übrigens. „Maria” wirkt für viele als Reizwort. Sollte sie nicht mit gemeint sein, wenn wir - auf pietistische Art - singen: „Wenn die Heilgen dort und hier, Große mit den Kleinen, Engel, Menschen mit Begier alle sich vereinen ... ” (EKG 275,4). Daß wir  m i t  den in Gott Vollendeten, die nach frühchristlichem Sprachgebrauch „Selige”, bald aber (in Umkehrung dieses Sprachgebrauches) „Heilige” genannt wurden, den Herrn loben und preisen, ist im Neuen Testament bezeugt, davon zeugen auch viele unserer Lieder. Leider aber werden unsere Glaubenszeugen (wenn überhaupt) meist nur als Menschen, die einmal hier auf dieser Erde gelebt h a b e n betrachtet, nicht als solche, die heute in der Herrlichkeit Gottes  l e b e n, mit denen wir in der „Gemeinschaft der Heiligen” verbunden sind. Liegt es daran, daß in der Liturgie und in den Liedern ihre Namen nicht vorkommen?

LeerWenn Maria im Glauben unser Vorbild ist, warum sollte sie dann nicht auch in der Gemeinschaft der Heiligen, die „Himmel und Erde” umfaßt, unsere Vorbeterin sein?

LeerBis zu diesem Punkt müßte ein evangelischer Christ, der die Bibel in der Sicht der reformatorischen Tradition des 16. Jahrhunderts als sein Fundament betrachtet, mitgehen können. Aber an dieser Stelle ist nun auch zu fragen: wenn die Einheit der Christen in faith and order als Ziel auch hinter dem Gespräch über Maria steht, kann dann den Katholiken zugemutet werden, daß sie sich auf das Minimum lutherischer Einschätzung der Mutter Gottes beschränken, oder umgekehrt, kann von Protestanten erwartet werden, daß sie die katholische Marienverehrung und Mariologie übemehmen? - Eine Einigung über die Eucharistie, ja sogar über das kirchliche Amt ist bedeutend wahrscheinlicher als eine „Einigung” in Marienfrömmigkeit und -lehren. Dafür zeugen unter anderem die Dokumente der gemeinsamen römisch-katholisch / evangelisch-lutherischen Kommission zum „Geistlichen Amt in der Kirche” und zum „Herrenmahl”. Aber ist es nicht denkbar, daß eine gegenseitige Anerkennung der Kirchen erfolgt, auch wenn die eine sich nicht mit der anderen in ihrer Art, Maria zu sehen, sie in das Glaubens- und Gebetsleben einzubeziehen oder nicht, identifizieren kann?



LeerIm Blick auf einzelne Christen gibt es ja ohne Zweifel eine solche „Anerkennung”. In der Frömmigkeit vieler katholischer Christen (auch in der Theologie mancher katholischer Theologen) spielt Maria eine geringe Rolle, umgekehrt gibt es evangelische Christen, die über das hinausgehen, was in ihrer Kirche - offiziell - für möglich gehalten wird. Ulrich Wickert berichtet, wie sich vor Jahren auf einem Kongreß lutherischer Theologen herausstellte, „daß etliche der dort versammelten Pfarrer für sich daheim den Rosenkranz beteten.” (Ein evangelischer Theologe schreibt über Maria, Morus-Verlag Berlin 1979, S. 23). Ein evangelischer Theologe schrieb mir kürzlich, nachdem ich über den „Christus-Rosenkranz” von Romano Guardini referiert hatte : „Er ist nicht zu den glücklichsten Einfällen Guardinis zu zählen - ein künstliches Gebilde und für diejenigen ein Alibi, die sich an Maria vorbeistehlen. Den marianischen Rosenkranz zu beten ist im übrigen für die ecclesia universalis: de necessitate salutis. Denn ‚JETZT’ ist Mariens Zeit!” Mag dies ein extremes Zeugnis sein, sicher ist, daß man bei vielen Christen (und ich denke da durchaus an solche, die sich ihres Glaubens bewußt sind), lediglich von einer partiellen Identifikation mit der Konfessionskirche, der sie angehören, sprechen kann. In der Regel werden diese „Grenzgänger” heute hier wie dort toleriert. Warum sollte dann nicht auch Toleranz von Kirche zu Kirche möglich sein, genauer: Einheit auch mit dieser Verschiedenheit? In diesem Zusammenhang ist es angebracht, eine katholische Anfrage zur Kenntnis zu nehmen. Der Benediktiner Gerhard Voß hat sich in seinem Artikel „Maria zwischen den Konfessionen” („Una Sancta” / Zeitschrift für Ökumenische Begegnung, Meitingen / Freising, H. 1/1981, S. 76-88) dagegen verwahrt, daß „das konfessionell Reformatorische, die ‚Summa Evangelii’ nach reformatorischem Verständnis, zum Sachkriterium, zum kritischen Maßstab des Ökumenischen” gemacht wird. Und er stellt fest: „Alles, was darüber hinausgeht, - alles ‚Katholische’ z. B. - wird dann zur Sondertradition. Das aber besagt, daß es einen gar nicht mehr ernsthaft in Frage stellen kann; daran festzuhalten ist dann von vornherein unökumenisch.”

LeerSollten wir uns nicht ernsthaft fragen, ob nicht auch das reformatorische Christentum eine „Sondertradition” darstellt? Es ist uns doch heute klar, wesentlich aufgrund der historisch-kritischen Schriftforschung, daß schon im Neuen Testament verschiedene „Christentümer” trotz ihrer Verschiedenheit zu einer Einheit zusammengefaßt sind. Innerhalb des Neuen Testaments selbst finden wir jedoch kein Kriterium dafür, ob eins von diesen „Christentümern”, etwa das des Johannes, das „eigentliche” ist. Von verschiedenen Voraussetzungen ausgehend kann ich darüber zu ganz verschiedenen Schlüssen kommen. Gilt nicht das gleiche für die verschiedenen „Christentümer” heute, die ja in gewisser Weise denen des Neuen Testamentes entsprechen?



Leer„Evangelischerseits gibt es kein Gebet, in dem Maria angerufen wird.” So heißt es lapidar in dem Arbeitspapier der VELKD. Leider wird in dem Abschnitt über „Die Hochschätzung Marias bei den Reformatoren” verschwiegen, daß der Reformator durchaus Maria angerufen hat. Nicht nur seine Auslegung des Magnificat, aus der wir schon zitiert haben, zeugt davon. Auf die Anfrage des Pfarrers von Eilenberg, Georg Kunzelt, wie die Predigt begonnen und geschlossen werden solle, antwortet er: „Daß das Wort Gottes uns fruchtbar sei und Gott angenehme, so lasset uns zuvor seine göttliche Gnade anrufen, und sprechet ein inniges Ave Maria oder Paternoster” (Briefe II, 300). An anderer Stelle sagt er: „Betrachten wir, was das Ave Maria ist; es ist nämlich kein Bittgebet, sondern nur Lob; denn es wird (darin) nur gepriesen; diese Worte sind Preisungen.” (WA 11,60). Hier wird deutlich, daß Luther lediglich den ersten, dem Lukas-Evangelium (1,28 b. 42 b.c) entnommenen Teil des (heute üblichen) Ave Maria empfiehlt. Ein historisches Kurisorium ist es, daß die erste Urkunde, die das Ave Maria in der heutigen Form bringt und zugleich bezeugt, daß es als Volksgebet betrachtet wurde, aus dem Jahre 1483, dem Geburtsjahr Luthers also, stammt. Die heutige Form der Bitte wurde erst im Jahre 1568 für das römische Brevier vorgeschrieben (F. M. Willam, Die Geschichte und Gebetsschule des Rosenkranzes, Herder, Wien 1948, S. 101). Vielleicht ist der Reformator - wie in manch anderer Beziehung - auch hierin mehr ein Bewahrer des Alten als ein Neuerer gewesen! Andererseits hat er im „Magnificat” geschrieben: „Anrufen soll man sie, daß Gott durch ihren Willen gebe und tu, worum wir bitten. So sind auch alle anderen Heiligen anzurufen, daß das Werk immer ganz allein Gottes bleibe.” Und am Schluß: Wir „bitten Gott um rechtes Verstehen dieses ‚Magnificat’, das nicht allein leuchte und rede, sondern brenne und lebe in Leib und Seel': Das verleihe uns Christus durch Fürbitte und Willen seiner lieben Mutter Maria. Amen.” Luther hat in ihr wohl eine F ü r b i t t e r i n , nicht aber eine F ü r s p r e c h e r i n gesehen. Von einer Fürsprecherin wird erwartet, daß sie bei Christus und Gott dem Vater ihre Verdienste als die „Heiligste der Frauen” zugunsten des sie als Fürsprecherin Anrufenden geltend macht und zu dessen Begnadigung mitwirkt. Die Fürbitterin im Himmel tut dagegen das gleiche, was eine Fürbitterin auf Erden auch tut, wenn sie für jemand anderen betet. Diese Unterscheidung entspricht durchaus dem Neuen Testament: Fürsprecher, parakletos werden dort allein der Heilige Geist (Joh. 14, 16. 15,26. 16,7) und Jesus Christus (1. Joh. 2,1) genannt. Die Apostel beten für andere und bitten andere um ihre Fürbitte.

LeerMartin Luther hat uns nicht nur Maria als Exempel des Glaubens vor Augen gestellt, er hat sich auch nicht nur mit ihr verbunden gewußt in der Gemeinschaft der Heiligen, er hat sich auch an Maria gewandt und trotz aller Vorbehalte gegenüber einer wuchernden Marienfrömmigkeit - wiederum im „Magnificat” - gesagt: „Was glaubst du, daß ihr lieber begegnen mag, als daß du durch sie zu Gott kommst und aus ihr lernst, auf Gott zu trauen und zu hoffen, wenn du auch verachtet und vernichtet wirst? Wann es auch geschehe, im Leben und Sterben, sie will nicht, daß du zu ihr kommst, sondern durch sie zu Gott.”



LeerWenn schon über die Hochschätzung Marias durch die Reformatoren gesprochen wird, sollte man solche Aussagen nicht übergehen, Die protestantische Befangenheit diesem Bereich gegenüber wurde mir vor kurzem wieder deutlich, als ein bewußt lutherischer Pfarrer, angesprochen auf die positiven Äußerungen Luthers zu Maria, sofort dagegenhielt: „Luther ist für uns kein Papst, Luther ist nicht unfehlbar.” Andererseits ist eben auch für uns heute wenig gewonnen, wenn wir feststellen, daß für Luther die Jungfrau-Mutter Maria eine weitaus größere Bedeutung gehabt hat als es im nachlutherischen Protestantismus der Fall ist. Durch Überrnittlung von Kenntnissen ist in geistlichen Dingen wenig getan. Nur neue Erfahrungen, auch mit und über der Heiligen Schrift, in Meditation und Gebet, können dazu helfen, daß Maria für evangelische Christen an Bedeutung gewinnt, Solche Erfahrungen gibt es in unserem Jahrhundert. Die Stalingrad-Madonna, die hier abgebildet ist (vgl. unseren Bericht auf S. 230) ist ein Zeugnis dafür.

LeerNicht nur im Kessel von Stalingrad, sondern darüber hinaus an manchen Orten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren, wo immer das Bild auftauchte, haben Menschen es betrachtet und in Mutter und Kind ein Gegenüber gefunden. Weihnachten 1944 hat der damalige Marineoberpfarrer Arno Pötzsch (Michaelsbruder wie Kurt Reuber, Autor des Liedes „Du hast zu Deinem Abendmahl” [EG 224, weitere Lieder: EG 408 und EG 533], † 1956) das Heft „Die Madonna in Stalingrad / Ein Gedenken vor der Weihnachtsmadonna von Stalingrad” in „die Hände der Freunde gelegt”. Im Dezember 1945 konnte es gedruckt werden (Verlag H. H. Nölke GmbH, Hamburg 20.) [Mehrere Gedichte und weitere Informationen finden Sie in: Die Madonna von Stalingrad]. Neben zehn Sonetten - angesichts der Madonna und eines Selbstbildnisses von Kurt Reuber - finden wir das damals verbreitete Gedicht „Die Mutter Gottes von Stalingrad”. Die letzte der zehn Strophen lautet:
„Die Mutter Gottes von Stalingrad
aus Liebe vom Himmel entboten,
sie hat gesegnet in schauriger Welt,
in Gräbem und Gruben, in grausigem Feld,
die Lebenden und die Toten,”
LeerIn einem als Manuskript in geringer Anzahl vervielfältigten Heft mit dem Titel „Unter Gottes Hand” hat der Berliner Pfarrer Eugen Weschke (einer der Gründer des Pfarrernotbundes, Michaelsbruder ab 1951, † 1981) das Gedicht „An eine Madonna im Felde” zu Weihnachten 1944 Freunden zugänglich gemacht, Gedruckt erscheint es hier in unserer Zeitschrift zum ersten Mal.
An eine Madonna im Felde

Du fühlst die dunklen Mächte, die uns überschatten;
um deine müden Schultern legt sich Grauen.
Du spürst die Seele preisgegeben dem Ermatten,
Das fast wie Sterben ist. Im stillen Schauen

Des Wunders aber, das verhüllt die Weite
Der Himmel in sich trägt, bist du geborgen
In Gott, Maria, Mutter, du Gebenedeite.
Dein Kind bringt in die Nacht den hellen Morgen.

Eugen Weschke, 1944


LeerWeschke hat damals als Erläuterung hinzugefügt : „Das Marienbild, auf das sich dieses Gedicht bezieht, wurde von dem Pfarrer und Oberarzt und Maler Dr. Kurt Reuber an der Front auf die Rückseite einer großen russischen Landkarte gezeichnet. Vor dieser Mutter mit dem Jesuskind haben die einsamen Männer am heiligen Abend 1942 und auch später sinnend beim Kerzenschein gesessen... ” Denen, die diese Mutter Gottes von Stalingrad betrachtet haben - und vielleicht auch heute betrachten - ist sie nicht nur figura ecclesiae, ein Bild der Kirche, sondern ein Gegenüber, zu dem man „Du” sagen kann, eine Schutzmantelmadonna neuer Art, bei deren Anblick der Betrachter sich mit dem Kind identifizieren oder sich neben dieses Kind, das uns Bruder wurde, gestellt sehen kann. „So ist das Kind uns geschenkt”, sagt Martin Luther (WA 11,224), „und wir sind Kinder Mariens.” Hier ist der Ansatzpunkt, in Maria die „Mutter der Gläubigen”, die „Mutter der Kirche” zu sehen.

LeerDie Stalingrad-Madonna hat auch etwas in sich von der Mutter Gottes, wie sie im orthodoxen Rußland gesehen wird, mehr der Erde verbunden als dem Himmel (Carl-Gustav Jung hat einmal darauf hingewiesen, daß ihr dort oft die braune Farbe eignet, während im Westen die blaue Farbe der „Himmelskönigin” vorherrscht). Kurt Reuber hat selbst zu seinem Bild geschrieben: „Dieses Erdhaft-Gegenständliche wird mit transparent für die ewigen Hintergründe - und am Ende wird es Weihnachten, und dann tritt die Madonna vor uns hin. ” (Martha Reuber-Iske, Antlitz und Gestalt / Handzeichnungen und Aquarelle von Kurt Reuber, Bärenreiter-Verlag Kassel und Basel 1951, S, 18, vergriffen.)

LeerAus dem gleichen Jahr wie die Stalingrad-Madonna stammt ein Sonett von Reinhold Schneider „An die Mutter des Herrn”. Reinhold Schneider war Katholik, aber seine Gedichte wurden auch von evangelischen Christen dankbar aufgenommen. Die zweite Strophe des Sonettes lautet:
„Du bist die Mutter auch der Scheu'n und Blinden,
Die nie zu dir und deinem Sohn gefleht;
Da durch ein Herz das Schwert der Liebe geht,
So muß es dich und deinen Sohn empfinden.”
LeerEine Mutter, gute Protestantin ihrer Herkunft nach, erzählte mir einst, wie sie nach dem Tod ihres Sohnes in der Kriegszeit in eine geöffnete katholische Kirche ging und spontan vor einem Seitenaltar mit der Gestalt der Mutter Maria niederkniete. Die Mater Dolorosa mag mancher Mutter in unserem Jahrhundert zum „Trost der Betrübten”, wie es in der Lauretanischen Litanei heißt, geworden sein.

LeerWir haben schon die Worte Luthers aus dem Magnificat zur Kenntnis genommen: „Sie will nicht, daß du zu ihr kommst, sondern durch sie zu Gott.” Per Mariam ad Deum - das ist wohl das größte Ärgernis für protestantische Theologen. Luther sagt ganz unbefangen, „... durch sie zu Gott”, obwohl für ihn doch ohne Zweifel Jesus Christus der einzige „Mittler” ist. Und in Art. XXI des Augsburgischen Bekenntnisses, der sich gegen die Anrufung der Heiligen richtet, wird betont: „Es ist ein einiger Versühner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus, 1. Tim. 2,5, welcher ist der einige oberste Priester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott, Röm. 8,34.” In den „Schmalkaldischen Artikeln” vom Jahre 1537 heißt es darüber hinaus in dem Abschnitt „Von Anrufung der Heiligen”: „Das ist Abgötterei (idolatricium) und solche Ehre gehört Gott allein.” Im Arbeitspapier der VELKD wird diese Aussage bekräftigt: „Niemals ist Maria Adressat des Gebets, sondern immer nur der dreieinige Gott. Nach reformatorischer Lehre ist nicht auszuschließen, daß die Heiligen im Himmel Fürbitte leisten für die Christen auf der Erde. Aber sie darum anzurufen, fiele unter das Verdikt der Abgötterei.”



LeerHierzu hat Gerhard Voß OSB bemerkt: „Den Vorwurf der ‚Abgötterei’ können wir nur schlicht zurückweisen. Solange er noch erhoben wird, hat das ökumenische Gespräch nicht den geringsten Fortschritt gemacht. (Es gibt katholischerseits an die evangelische Adresse keinen Vorwurf von vergleichbarer Härte und Konsequenz für eine Kirchengemeinschaft!).” (Katholische Bemerkungen zu: Maria - Evangelische Fragen und Gesichtspunkte, in : „Una Sancta”, H. 2/1983, S, 156.)

LeerHinter dem Vorwurf der „Abgötterei” steht die Annahme, daß Maria zur „Göttin” erhoben wird, oder zumindest als „Zwischen-Macht” in einer Weise verehrt wird, wie sie nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes, besonders des Hebräerbriefes, allein dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, zukommt. Im 8. Kapitel der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche” über „Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche” hat sich das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich auf das Apostel-Wort 1. Tim. 2,5, das im Augsburgischen Bekenntnis als Argument gegen die Anrufung der Heiligen verwendet wird, berufen: „Ein einziger ist unser Mittler nach dem Wort des Apostels: ‚Es gibt nämlich nur einen Gott und nur einen Mittler Gottes und der Menschen, den Menschen Jesus Christus, der sich selbst als Erlösung für alle gegeben hat’ (1. Tim. 2,5-6).” Dennoch heißt es kurz darauf von Maria: „In ihrer mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes ... Deshalb wird die selige Jungfrau in der Kirche unter dem Titel der Fürsprecherin, der Helferin, des Beistandes und der Mittlerin angerufen. Das ist aber so zu verstehen, daß es der Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers, nichts abträgt und nichts hinzufügt.” Protestanten fällt es schwer, dieser Denkweise zu folgen. Sie sehen eine solche Argumentation in der Regel als den untauglichen Versuch an, einen Widerspruch zu glätten. Für sie heißt es „Christus  o d e r  Maria”, wo Katholiken - wenn sie im Rahmen der kirchlichen Lehre bleiben - „Maria  i n  Christus” sehen. Hier haben wir die verschiedenen Denkstrukturen vor uns, auf die Gerhard Voß hingewiesen hat („Maria zwischen... ”, S. 79). Die konfessionelle Problematik ist allerdings auch in der gegenseitigen Nötigung der abendländischen Konfessionen begründet, dogmatisch, theologisch zu definieren, was in Gottesdienst und Frömmigkeit gewachsen ist.

LeerAn der Beantwortung der Frage, ob oder wie Maria neben oder in dem einen Mittler (mediator) Jesus Christus Mittlerin (mediatrix) genannt werden kann, entscheidet sich vermutlich unser Gespräch über Maria und damit auch die Möglichkeit der Anerkennung der anderen Konfessionen, auch wenn ihre Lehre und Praxis nicht übernommen werden.

LeerNicht nur evangelische, auch katholische Christen wissen, daß es als Randerscheinung des römischen Katholizismus eine primitive Muttergottesreligion gibt, in der Maria oft nicht einmal mehr „Mittlerin”, sondern „Göttin” ist. In dem Zusammenhang muß aber auch bedacht werden, daß wir als Gegenstück dazu auf protestantischer Seite einen naiven Herrgottsglauben kennen („Brüder, überm Sternenzelt...”), in dem Jesus Christus als Mittler überhaupt keine Rolle spielt. Während die Muttergottesreligion Rückfall ins Heidentum ist („Abgötterei”), ist der Herrgottsglaube Vorstufe des bewußten Atheismus und oft genug schon praktische Gottlosigkeit. Christen, die hier wie dort Jesus Christus als ihren einzigen Mittler bekennen, sollten bedenken, warum es im Bereich ihrer eigenen Kirche zu solchen Fehlentwicklungen kommen konnte.



LeerMag es in der katholischen Kirche, wie Wilhelm Stählin einmal gesagt hat, immer wieder eine „Kapitulation vor der Volksfrömmigkeit” geben, so provoziert oft genug auf protestantischer Seite eine exzentrische Theologie die Entleerung des Glaubens- und Gebetslebens. Für liberale Theologen um die Jahrhundertwende war Jesus selten der „Mittler zwischen Gott und den Menschen”, und heute kommt es oft erst dann zu einer Betonung des Mittlertums Christi, wenn es um die Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche geht. Im Bedenken vieler Gespräche mit evangelischen und katholischen Christen, die ich geführt habe, kann ich nicht feststellen, daß für Christen „mit Maria” Jesus Christus  w e n i g e r  im Mittelpunkt ihres Glaubens und Betens steht als für Christen „ohne Maria”. Eher ist das Gegenteil der Fall. Paul Tillich hat in einem Kapitel über die „Neuerschließung des trinitarischen Symbolismus” (Systematische Theologie, III, Stuttgart 1966, S. 336) geschrieben: „Die wachsende symbolische Macht des Bildes der Heiligen Jungfrau, vom 5. Jahrhundert an bis in unsere Zeit, stellt den Protestantismus vor ein schwieriges Problem. Im Kampf der Reformation gegen alle menschlichen Mittler zwischen Gott und dem Menschen war dieses Symbol beseitigt worden, und mit diesem Reinigungsprozeß war das weibliche Element in dem symbolischen Ausdruck dessen, was uns unbedingt angeht, weitgehend ausgeschaltet. Der Geist des Judentums mit seinem exklusiv männlichen Symbolismus hatte sich in der Reformation durchgesetzt. Ohne Zweifel war dies einer der Gründe für die großen Erfolge der Gegenreformation gegenüber der ursprünglich überlegenen Reformation. Im Protestantismus selbst führte dieses Fehlen des weiblichen Elementes zum Entstehen eines stark verweiblichten Jesus-Bildes im Pietismus.”

LeerTillich bezweifelt, daß „der Protestantismus das Symbol der Heiligen Jungfrau jemals wieder gebrauchen wird,” stellt aber die Frage, ob es im genuin protestantischen Symbolismus Elemente gibt, „die die Alternative ‚männlich-weiblich’ transzendieren.” Er denkt an den Ausdruck „Grund des Seins”, der, insofern er (auch) symbolisch ist, auf das „Mütterliche” hinweist. Aber „Grund des Seins” ist doch mehr eine philosophische Redeweise, die der auch von Tillich empfundenen Einseitigkeit des Protestantismus noch nicht aufhilft. Zu Recht behandelt er diese Frage im Rahmen der „trinitarischen Symbole”! In diesem Rahmen versuchen wir auch - ansatzweise - eine Antwort.

LeerGegenüber den Juden ist evangelischen und katholischen Christen gemeinsam, daß sie Jesus Christus als „Priester und Versühner aller seiner Diener” (EKG 275,2) bekennen. Das Gebet der Christen richtet sich an den  e i n e n  Gott. Wir glauben, daß er derselbe ist wie der, der sich Mose, dem Mittler des alten Bundes, und damit zunächst nur dem Volk Israel offenbart hat. Das Gebet der Christen richtet sich nicht „an Gott und Christus” (so ein Zitat in dem Arbeitspapier der VELKD), sondern an den  e i n e n  Gott, der sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist zuwendet. Nicht nur der Schöpfer und Vater ist Gott, sondern auch der Sohn, auch der Heilige Geist. (Der heute als solcher meist gar nicht mehr erkannte Subordinatianismus übersieht das und provoziert damit den Widerspruch einer feministischen Theologie.) Aber der unsichtbare Gott jenseits der Symbole Vater, Sohn und Geist ist nicht (nur) Vater, sondern Vater und Mutter. Ist Gott als Mutter gemeint, wenn Maria als Fürbitterin angerufen wird? „Mutter Gottes” ist Symbol im vollen Sinne des Wortes - wie auch „Sohn Gottes” Symbol ist. Der 33. Gesang des Paradiso in Dantes Divina Commedia beginnt: „O Jungfrau, Mutter, Tochter Deine Sohnes!” In diesen paradoxen Aussagen ist das Mysterium angedeutet.

„Die Wahrheit will sich uns im Widerschein
Geformter Bilder streitend offenbaren”,
Leersagt Reinhold Schneider. Ist das Bild der Mutter εικων, Ikone, Abbild oder ειδωλον, Idol, Götzenbild? Kann nicht auch Jesus, der Mensch, zum Idol werden, wenn er nicht mehr als der  G o t t - Mensch geglaubt wird und damit dann auch nicht mehr „Mittler” ist?

LeerEs ist an der Zeit, den pauschalen Vorwurf der „Abgötterei”, den viele einzelne evangelische Christen schon längst nicht mehr erheben, von seiten der reformatorischen Kirchen her gegenüber der römisch-katholischen Kirche (wenn nicht zurückzunehmen, dann doch) nicht mehr auszusprechen.

LeerNoch einmal Gerhard Voß (Maria - Evangelische Fragen ..., S. 145) : „Das Marianische ist ein integraler Bestandteil katholischer Theologie und Spiritualität: Nicht nur christologische und ekklesiologische, auch soteriologische, d. h, den erlösten Menschen ins Auge fassende Glaubenswahrheiten werden marianisch gesagt. Zugleich aber kann in der Tat nahezu alles, was marianisch gesagt wird, auch anders artikuliert werden.”

LeerKönnten Protestanten sich dazu bereit finden, sofern sie selbst nicht willens sind, „das Symbol der Heiligen Jungfrau zu gebrauchen”, anzuerkennen, dar „nahezu alles” (oder doch sehr vieles) nun eben  a u c h  marianisch artikuliert werden kann?

© Jürgen Boeckh
Quatember 1983, S. 193-206
Anmerkungen in [ ] wurden hinzugefügt

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-31
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