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von Jürgen Boeckh |
„Nach evangelischer Überzeugung hat Maria keine eigene Heilsbedeutung. Eine Stellung im Heilswerk Gottes kommt ihr nur insofern zu, als in Jesus von Nazareth das ewige Wort Gottes Fleisch und Blut geworden ist (Joh. l,14). Das setzt die Geburt von einer irdischen Mutter voraus (Gal. 4,4).” So heißt es in den „Grundsätzen einer evangelischen Sicht Marias” des Catholica-Arbeitskreises der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Ich könnte diesen Satz auch unterschreiben, wenn ein Wort geändert würde. Statt „nur” würde ich „aber” sagen: „Eine Stellung im Heilswerk Gottes kommt ihr a b e r insofern zu, als in Jesus von Nazareth das ewige Wort Gottes Fleisch und Blut geworden ist.” Warum das ein- schränkende „nur”? Ist es nicht etwas Staunen-Erregendes, etwas Kaum-zu- Glaubendes, daß ein Mensch auserwählt wird, Mutter des logos, des ewigen Wortes Gottes zu werden? Spricht nicht aus dem „nur” die alte protestantische Angst, ja nicht zu viel von Maria zu sagen? In dem Arbeitspapier „Maria / Evangelische Fragen und Gesichtspunkte / Eine Einladung zum Gespräch”, aus dem unser erstes Zitat stammt, wird in Erinnerung gebracht, daß auf dem 3. ökumenischen Konzil, 431 in Ephesus, der Titel „Gottesgebärerin” (so wörtlich aus dem Griechischen) verbindlichen Charakter erhielt. Dieser Titel, im Deutschen mit „Gottesmutter” oder „Mutter Gottes” wiedergegeben, gehört zum Dogmenbestand der ersten fünf Jahrhunderte, der „für alle christlichen Kirchen maßgebend ist, also auch für die evangelischen Kirchen.” Es wird allerdings zu bedenken gegeben, „in welchem Sinn diese Formulierungen der Alten Kirche für die Christen heute verbindlich sind”. Die Gefahr der Marienverehrung sah Martin Luther darin (so wird aus einer Predigt vom 8. September 1522 zitiert), „daß man sie höher hält, denn man soll, ... daß Christus dadurch verkleinert wird, indem man mehr hat die Herzen auf Maria gestellt denn auf Christus selbst.” Aber es wird auch gesagt, „daß die Reformatoren die Mutter Jesu hoch geachtet und die altkirchliche Lehre über die jungfräuliche Gottesmutter bejaht haben.” An dieser Stelle wird auf Luthers Auslegung des „Magnificat” vom Jahre 1521 verwiesen. Wer das „Magnificat” des Reformators zum ersten Mal liest, wird als evangelischer - und katholischer - Christ staunen über die herzliche Art, in der Luther trotz mancher Abgrenzungen von - und zu! - Maria spricht. So heißt es an einer Stelle: „Ei du selige Jungfrau und Mutter Gottes, wie hat uns Gott so einen großen Trost in dir erzeigt, weil er deine Unwürdigkeit und Nichtigkeit so gnädig angesehen hat. Dadurch werden wir hinfort ermahnt, er werde uns arme, nichtige Menschen deinem Exempel nach auch nicht verachten und gnädig ansehen.” Die Verfasser des Arbeitspapieres mögen aus diesen Äußerungen, die unabhängig voneinander entstanden sind, ersehen, daß evangelische Spiritualität im Blick auf Maria weiter geht, als nach ihrer Darstellung zu vermuten ist. Allerdings ist ebenso festzustellen, daß der größere Teil der evangelischen Christen in Frömmigkeit und Theologie noch hinter dem zurückbleibt, was nach dem Arbeitspapier im evangelisch-lutherischen Raum für möglich gehalten und gewünscht wird. Darum ist diese „Einladung zum Gespräch” unbedingt zu begrüßen. Daß Christen wie Maria zu glauben und zu leben aufgerufen sind, ist unbestritten. In der „Augsburgischen Konfession”, der grundlegenden Bekenntnisschrift für evangelisch-lutherische Christen, gibt es keinen besonderen Artikel über Maria, aber einen Artikel (XXI) „Vom Dienst der Heiligen”. Da heißt es, „daß man der Heiligen gedenken soll, auf daß wir unsern Glauben stärken ... dazu, daß man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf...” Merkwürdigerweise wird hier als Heiliger König David angeführt, an dem sich der Kaiser in den Türkenkriegen ein Beispiel nehmen soll, Maria als „Exempel des Glaubens” wird uns von Luther in seinem „Magnificat” vor Augen gestellt. Wilhelm Stählin hat in seiner schönen Betrachtung über die Verkündigung der Geburt des Herrn, „Freu dich, Begnadete”, die Jungfrau Maria als Bild der Kirche - figura ecclesiae - und des einzelnen Christen dargestellt. Daß die „gläubige Seele” sich als „Die geistliche Maria” verstehen kann, weiß auch Angelus Silesius: „Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,Nicht nur als Wartende und Hoffende ist sie uns ein Beispiel des Glaubens, Auch die Mutter des Herrn, die das Kind geboren hat, die es anschaut und anbetet, ist Vor-Bild eines jeden Christen, der vor dem Kind in der Krippe, dem Kind in Mariens Schoß, still wird, anbetet. Paul Gerhardts Lied „Ich steh an deiner Krippen hier” könnte ein Lied der Mutter sein: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen . . . ” Evangelische Christen feiern in der Regel ohne theologische Bedenken Weihnachten, das Fest der Geburt Christi, obwohl weder das Fest als solches noch das Datum unmittelbar aus dem Neuen Testament ableitbar sind, obwohl es erst im 4. Jahrhundert bezeugt ist, einige Jahrzehnte vor dem Konzil von Ephesus. Wenn es ein Wachsen und Reifen im Glauben und in der Liebe für den einzelnen Christen gibt, warum nicht dann auch für die Kirche als ganze? Während man die Heiligen, sofern sie nur als „Exempel des Glaubens” gelten, lediglich als historische Gestalten anzusehen braucht, ist die historische Dimension verlassen, wenn wir mit Maria das Magnificat beten oder wenn wir in der Eucharistischen Feier sagen : „Vater, erbarme dich über uns alle, daß wir das ewige Leben erlangen und mit Maria, den Aposteln und allen Heiligen, die Deine Gnade gefunden haben von Anbeginn der Welt, Dich loben und preisen durch Deinen Sohn Jesus Christus... ” In dieser Formulierung, wie sie neben anderen Eucharistiegebeten in der Evangelischen Michaelsbruderschaft gebraucht wird, ist die Bezeichnung „selige Jungfrau und Gottesmutter”, die im zweiten Hochgebet der römisch-katholischen Gemeindemesse für Maria gebraucht wird, fortgelassen worden. Trotzdem habe ich auch hier schon zweimal - in jüngster Zeit - Anfragen gehabt, von Pfarrern übrigens. „Maria” wirkt für viele als Reizwort. Sollte sie nicht mit gemeint sein, wenn wir - auf pietistische Art - singen: „Wenn die Heilgen dort und hier, Große mit den Kleinen, Engel, Menschen mit Begier alle sich vereinen ... ” (EKG 275,4). Daß wir m i t den in Gott Vollendeten, die nach frühchristlichem Sprachgebrauch „Selige”, bald aber (in Umkehrung dieses Sprachgebrauches) „Heilige” genannt wurden, den Herrn loben und preisen, ist im Neuen Testament bezeugt, davon zeugen auch viele unserer Lieder. Leider aber werden unsere Glaubenszeugen (wenn überhaupt) meist nur als Menschen, die einmal hier auf dieser Erde gelebt h a b e n betrachtet, nicht als solche, die heute in der Herrlichkeit Gottes l e b e n, mit denen wir in der „Gemeinschaft der Heiligen” verbunden sind. Liegt es daran, daß in der Liturgie und in den Liedern ihre Namen nicht vorkommen? Wenn Maria im Glauben unser Vorbild ist, warum sollte sie dann nicht auch in der Gemeinschaft der Heiligen, die „Himmel und Erde” umfaßt, unsere Vorbeterin sein? Bis zu diesem Punkt müßte ein evangelischer Christ, der die Bibel in der Sicht der reformatorischen Tradition des 16. Jahrhunderts als sein Fundament betrachtet, mitgehen können. Aber an dieser Stelle ist nun auch zu fragen: wenn die Einheit der Christen in faith and order als Ziel auch hinter dem Gespräch über Maria steht, kann dann den Katholiken zugemutet werden, daß sie sich auf das Minimum lutherischer Einschätzung der Mutter Gottes beschränken, oder umgekehrt, kann von Protestanten erwartet werden, daß sie die katholische Marienverehrung und Mariologie übemehmen? - Eine Einigung über die Eucharistie, ja sogar über das kirchliche Amt ist bedeutend wahrscheinlicher als eine „Einigung” in Marienfrömmigkeit und -lehren. Dafür zeugen unter anderem die Dokumente der gemeinsamen römisch-katholisch / evangelisch-lutherischen Kommission zum „Geistlichen Amt in der Kirche” und zum „Herrenmahl”. Aber ist es nicht denkbar, daß eine gegenseitige Anerkennung der Kirchen erfolgt, auch wenn die eine sich nicht mit der anderen in ihrer Art, Maria zu sehen, sie in das Glaubens- und Gebetsleben einzubeziehen oder nicht, identifizieren kann? Sollten wir uns nicht ernsthaft fragen, ob nicht auch das reformatorische Christentum eine „Sondertradition” darstellt? Es ist uns doch heute klar, wesentlich aufgrund der historisch-kritischen Schriftforschung, daß schon im Neuen Testament verschiedene „Christentümer” trotz ihrer Verschiedenheit zu einer Einheit zusammengefaßt sind. Innerhalb des Neuen Testaments selbst finden wir jedoch kein Kriterium dafür, ob eins von diesen „Christentümern”, etwa das des Johannes, das „eigentliche” ist. Von verschiedenen Voraussetzungen ausgehend kann ich darüber zu ganz verschiedenen Schlüssen kommen. Gilt nicht das gleiche für die verschiedenen „Christentümer” heute, die ja in gewisser Weise denen des Neuen Testamentes entsprechen? Martin Luther hat uns nicht nur Maria als Exempel des Glaubens vor Augen gestellt, er hat sich auch nicht nur mit ihr verbunden gewußt in der Gemeinschaft der Heiligen, er hat sich auch an Maria gewandt und trotz aller Vorbehalte gegenüber einer wuchernden Marienfrömmigkeit - wiederum im „Magnificat” - gesagt: „Was glaubst du, daß ihr lieber begegnen mag, als daß du durch sie zu Gott kommst und aus ihr lernst, auf Gott zu trauen und zu hoffen, wenn du auch verachtet und vernichtet wirst? Wann es auch geschehe, im Leben und Sterben, sie will nicht, daß du zu ihr kommst, sondern durch sie zu Gott.” Nicht nur im Kessel von Stalingrad, sondern darüber hinaus an manchen Orten in der Endphase des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren, wo immer das Bild auftauchte, haben Menschen es betrachtet und in Mutter und Kind ein Gegenüber gefunden. Weihnachten 1944 hat der damalige Marineoberpfarrer Arno Pötzsch (Michaelsbruder wie Kurt Reuber, Autor des Liedes „Du hast zu Deinem Abendmahl” [EG 224, weitere Lieder: EG 408 und EG 533], † 1956) das Heft „Die Madonna in Stalingrad / Ein Gedenken vor der Weihnachtsmadonna von Stalingrad” in „die Hände der Freunde gelegt”. Im Dezember 1945 konnte es gedruckt werden (Verlag H. H. Nölke GmbH, Hamburg 20.) [Mehrere Gedichte und weitere Informationen finden Sie in: Die Madonna von Stalingrad]. Neben zehn Sonetten - angesichts der Madonna und eines Selbstbildnisses von Kurt Reuber - finden wir das damals verbreitete Gedicht „Die Mutter Gottes von Stalingrad”. Die letzte der zehn Strophen lautet: „Die Mutter Gottes von StalingradIn einem als Manuskript in geringer Anzahl vervielfältigten Heft mit dem Titel „Unter Gottes Hand” hat der Berliner Pfarrer Eugen Weschke (einer der Gründer des Pfarrernotbundes, Michaelsbruder ab 1951, † 1981) das Gedicht „An eine Madonna im Felde” zu Weihnachten 1944 Freunden zugänglich gemacht, Gedruckt erscheint es hier in unserer Zeitschrift zum ersten Mal. An eine Madonna im Felde Die Stalingrad-Madonna hat auch etwas in sich von der Mutter Gottes, wie sie im orthodoxen Rußland gesehen wird, mehr der Erde verbunden als dem Himmel (Carl-Gustav Jung hat einmal darauf hingewiesen, daß ihr dort oft die braune Farbe eignet, während im Westen die blaue Farbe der „Himmelskönigin” vorherrscht). Kurt Reuber hat selbst zu seinem Bild geschrieben: „Dieses Erdhaft-Gegenständliche wird mit transparent für die ewigen Hintergründe - und am Ende wird es Weihnachten, und dann tritt die Madonna vor uns hin. ” (Martha Reuber-Iske, Antlitz und Gestalt / Handzeichnungen und Aquarelle von Kurt Reuber, Bärenreiter-Verlag Kassel und Basel 1951, S, 18, vergriffen.) Aus dem gleichen Jahr wie die Stalingrad-Madonna stammt ein Sonett von Reinhold Schneider „An die Mutter des Herrn”. Reinhold Schneider war Katholik, aber seine Gedichte wurden auch von evangelischen Christen dankbar aufgenommen. Die zweite Strophe des Sonettes lautet: „Du bist die Mutter auch der Scheu'n und Blinden,Eine Mutter, gute Protestantin ihrer Herkunft nach, erzählte mir einst, wie sie nach dem Tod ihres Sohnes in der Kriegszeit in eine geöffnete katholische Kirche ging und spontan vor einem Seitenaltar mit der Gestalt der Mutter Maria niederkniete. Die Mater Dolorosa mag mancher Mutter in unserem Jahrhundert zum „Trost der Betrübten”, wie es in der Lauretanischen Litanei heißt, geworden sein. Wir haben schon die Worte Luthers aus dem Magnificat zur Kenntnis genommen: „Sie will nicht, daß du zu ihr kommst, sondern durch sie zu Gott.” Per Mariam ad Deum - das ist wohl das größte Ärgernis für protestantische Theologen. Luther sagt ganz unbefangen, „... durch sie zu Gott”, obwohl für ihn doch ohne Zweifel Jesus Christus der einzige „Mittler” ist. Und in Art. XXI des Augsburgischen Bekenntnisses, der sich gegen die Anrufung der Heiligen richtet, wird betont: „Es ist ein einiger Versühner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus, 1. Tim. 2,5, welcher ist der einige oberste Priester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott, Röm. 8,34.” In den „Schmalkaldischen Artikeln” vom Jahre 1537 heißt es darüber hinaus in dem Abschnitt „Von Anrufung der Heiligen”: „Das ist Abgötterei (idolatricium) und solche Ehre gehört Gott allein.” Im Arbeitspapier der VELKD wird diese Aussage bekräftigt: „Niemals ist Maria Adressat des Gebets, sondern immer nur der dreieinige Gott. Nach reformatorischer Lehre ist nicht auszuschließen, daß die Heiligen im Himmel Fürbitte leisten für die Christen auf der Erde. Aber sie darum anzurufen, fiele unter das Verdikt der Abgötterei.” Hinter dem Vorwurf der „Abgötterei” steht die Annahme, daß Maria zur „Göttin” erhoben wird, oder zumindest als „Zwischen-Macht” in einer Weise verehrt wird, wie sie nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes, besonders des Hebräerbriefes, allein dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, zukommt. Im 8. Kapitel der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche” über „Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche” hat sich das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich auf das Apostel-Wort 1. Tim. 2,5, das im Augsburgischen Bekenntnis als Argument gegen die Anrufung der Heiligen verwendet wird, berufen: „Ein einziger ist unser Mittler nach dem Wort des Apostels: ‚Es gibt nämlich nur einen Gott und nur einen Mittler Gottes und der Menschen, den Menschen Jesus Christus, der sich selbst als Erlösung für alle gegeben hat’ (1. Tim. 2,5-6).” Dennoch heißt es kurz darauf von Maria: „In ihrer mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes ... Deshalb wird die selige Jungfrau in der Kirche unter dem Titel der Fürsprecherin, der Helferin, des Beistandes und der Mittlerin angerufen. Das ist aber so zu verstehen, daß es der Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers, nichts abträgt und nichts hinzufügt.” Protestanten fällt es schwer, dieser Denkweise zu folgen. Sie sehen eine solche Argumentation in der Regel als den untauglichen Versuch an, einen Widerspruch zu glätten. Für sie heißt es „Christus o d e r Maria”, wo Katholiken - wenn sie im Rahmen der kirchlichen Lehre bleiben - „Maria i n Christus” sehen. Hier haben wir die verschiedenen Denkstrukturen vor uns, auf die Gerhard Voß hingewiesen hat („Maria zwischen... ”, S. 79). Die konfessionelle Problematik ist allerdings auch in der gegenseitigen Nötigung der abendländischen Konfessionen begründet, dogmatisch, theologisch zu definieren, was in Gottesdienst und Frömmigkeit gewachsen ist. An der Beantwortung der Frage, ob oder wie Maria neben oder in dem einen Mittler (mediator) Jesus Christus Mittlerin (mediatrix) genannt werden kann, entscheidet sich vermutlich unser Gespräch über Maria und damit auch die Möglichkeit der Anerkennung der anderen Konfessionen, auch wenn ihre Lehre und Praxis nicht übernommen werden. Nicht nur evangelische, auch katholische Christen wissen, daß es als Randerscheinung des römischen Katholizismus eine primitive Muttergottesreligion gibt, in der Maria oft nicht einmal mehr „Mittlerin”, sondern „Göttin” ist. In dem Zusammenhang muß aber auch bedacht werden, daß wir als Gegenstück dazu auf protestantischer Seite einen naiven Herrgottsglauben kennen („Brüder, überm Sternenzelt...”), in dem Jesus Christus als Mittler überhaupt keine Rolle spielt. Während die Muttergottesreligion Rückfall ins Heidentum ist („Abgötterei”), ist der Herrgottsglaube Vorstufe des bewußten Atheismus und oft genug schon praktische Gottlosigkeit. Christen, die hier wie dort Jesus Christus als ihren einzigen Mittler bekennen, sollten bedenken, warum es im Bereich ihrer eigenen Kirche zu solchen Fehlentwicklungen kommen konnte. Tillich bezweifelt, daß „der Protestantismus das Symbol der Heiligen Jungfrau jemals wieder gebrauchen wird,” stellt aber die Frage, ob es im genuin protestantischen Symbolismus Elemente gibt, „die die Alternative ‚männlich-weiblich’ transzendieren.” Er denkt an den Ausdruck „Grund des Seins”, der, insofern er (auch) symbolisch ist, auf das „Mütterliche” hinweist. Aber „Grund des Seins” ist doch mehr eine philosophische Redeweise, die der auch von Tillich empfundenen Einseitigkeit des Protestantismus noch nicht aufhilft. Zu Recht behandelt er diese Frage im Rahmen der „trinitarischen Symbole”! In diesem Rahmen versuchen wir auch - ansatzweise - eine Antwort. Gegenüber den Juden ist evangelischen und katholischen Christen gemeinsam, daß sie Jesus Christus als „Priester und Versühner aller seiner Diener” (EKG 275,2) bekennen. Das Gebet der Christen richtet sich an den e i n e n Gott. Wir glauben, daß er derselbe ist wie der, der sich Mose, dem Mittler des alten Bundes, und damit zunächst nur dem Volk Israel offenbart hat. Das Gebet der Christen richtet sich nicht „an Gott und Christus” (so ein Zitat in dem Arbeitspapier der VELKD), sondern an den e i n e n Gott, der sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist zuwendet. Nicht nur der Schöpfer und Vater ist Gott, sondern auch der Sohn, auch der Heilige Geist. (Der heute als solcher meist gar nicht mehr erkannte Subordinatianismus übersieht das und provoziert damit den Widerspruch einer feministischen Theologie.) Aber der unsichtbare Gott jenseits der Symbole Vater, Sohn und Geist ist nicht (nur) Vater, sondern Vater und Mutter. Ist Gott als Mutter gemeint, wenn Maria als Fürbitterin angerufen wird? „Mutter Gottes” ist Symbol im vollen Sinne des Wortes - wie auch „Sohn Gottes” Symbol ist. Der 33. Gesang des Paradiso in Dantes Divina Commedia beginnt: „O Jungfrau, Mutter, Tochter Deine Sohnes!” In diesen paradoxen Aussagen ist das Mysterium angedeutet. „Die Wahrheit will sich uns im Widerscheinsagt Reinhold Schneider. Ist das Bild der Mutter εικων, Ikone, Abbild oder ειδωλον, Idol, Götzenbild? Kann nicht auch Jesus, der Mensch, zum Idol werden, wenn er nicht mehr als der G o t t - Mensch geglaubt wird und damit dann auch nicht mehr „Mittler” ist? Es ist an der Zeit, den pauschalen Vorwurf der „Abgötterei”, den viele einzelne evangelische Christen schon längst nicht mehr erheben, von seiten der reformatorischen Kirchen her gegenüber der römisch-katholischen Kirche (wenn nicht zurückzunehmen, dann doch) nicht mehr auszusprechen. Noch einmal Gerhard Voß (Maria - Evangelische Fragen ..., S. 145) : „Das Marianische ist ein integraler Bestandteil katholischer Theologie und Spiritualität: Nicht nur christologische und ekklesiologische, auch soteriologische, d. h, den erlösten Menschen ins Auge fassende Glaubenswahrheiten werden marianisch gesagt. Zugleich aber kann in der Tat nahezu alles, was marianisch gesagt wird, auch anders artikuliert werden.” Könnten Protestanten sich dazu bereit finden, sofern sie selbst nicht willens sind, „das Symbol der Heiligen Jungfrau zu gebrauchen”, anzuerkennen, dar „nahezu alles” (oder doch sehr vieles) nun eben a u c h marianisch artikuliert werden kann? © Jürgen Boeckh Quatember 1983, S. 193-206 Anmerkungen in [ ] wurden hinzugefügt |
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