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„Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht” (Jes 7,9)
Geschichtstheologische Reflexionen an der Schwelle einer neuen Epoche
von Ulrich Wickert

Vortrag aus Anlaß eines „Dies Academicus” an der Kirchlichen Hochschule Berlin

LeerI. Nur zögernd ergreife ich im Rahmen dieses „Dies Academicus” das Wort. Der Anlaß , der uns hier zusammenführt, scheint zwar eindeutig und in diesem Sinn gewissermaßen einfach zu sein. Es geht vordergründig um die Frage, ob unter den gegebenen waffentechnischen Bedingungen ein Christ sich noch guten Gewissens zu der alten römischen Maxime bekennen darf: Si vis pacem, para bellum - Wenn du den Frieden willst, rüste zum Kriege! Es müßte doch leicht sein, so meint man, je nach dem theologischen Standort zu dieser Frage politischer Ethik Stellung zu nehmen.

LeerBei weiterem Nachdenken erweist sich aber der theologische Sachverhalt als überaus kompliziert, und es ist zweifelhaft, ob es im Blick auf die skizzierte Problematik noch möglich ist, einen der üblichen und nun sattsam bekannten „Standorte” zu beziehen. Um rasch auf den wesentlichen Punkt zu kommen: Die 1938/39 von Otto Hahn und Fritz Straßmann geleistete Entdeckung der Kernspaltung des Urans ist nur eines unter vielen umwälzenden Ereignissen unseres Jahrhunderts gewesen; Ereignissen, die durch eine jeweils spezifische Grenzüberschreitung sukzessive den Menschen in eine neue, und zwar bodenlose Weise geschichtlichen Existierens versetzen. Wer hier noch meint, einen vorgegebenen „Standort” beziehen zu können, der hat wohl schwerlich begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Die im Vergleich zu allem, was je gewesen ist, völlig neuartige Situation, die uns Karl Jaspers als die in der Menschheitsgeschichte erstmals so zu nennende weltgeschichtliche Situation verstehen lehrte, hat eine einheitliche und umfassende Deutung noch nicht erfahren. In der immer klarer empfundenen Bodenlosigkeit geschichtlichen Existierens sind wir von Aporien geschüttelt. Wir wissen nicht mehr - oder noch nicht wieder - um das Ganze, und doch wissen wir, daß alles einzelne nur zu bewältigen ist, wenn wir es zum Ganzen begreifen.

LeerIn dieser Situation und über diese Situation zu Ihnen zu sprechen, ist kein Vergnügen. Es übersteigt die Kräfte dessen, der reden soll, und es bereitet denen, die hören wollen, Enttäuschung. Denn es kann nicht sofort und in erster Linie um „Praxis” gehen, die von Teilaspekten und Teilinteressen geleitet, das Geschehen in eine aus verengtem Gesichtskreis gewählte Richtung lenkt. Was not tut, ist die gründliche und allseitige Erhellung der Situation. Wer sich darauf einläßt, braucht vor allem Geduld. Er braucht ein festes Herz, denn nach Lage der Dinge, wenn er die Augen nicht schließt, wird er sofort mit dem Ungeheuren konfrontiert, das seine mitgebrachten Maßstäbe zerbricht und ihn zwingt, aus großen Horizonten zu denken. Insbesondere der Christ aber sollte wohl zusehen, daß er den seinem Glauben angemessenen Blickpunkt wählt. Es ist kindlich, und es ist theologisch falsch, sich die Sache so vorzustellen: Der liebe Gott hat für seine Menschen alles Gute gewollt. Aber da sind Bösewichte, die verderben ihm das Konzept, indem sie die Welt an den Abgrund führen. Ihnen muß man mit den geeigneten Mitteln widerstehen, um das Leben zu retten, und die Theologie soll hierzu die geeigneten Rezepte liefern. In Wahrheit verhält sich die Sache ganz anders. Daß wir uns heute im Bodenlosen einrichten müssen, dies, meine Damen und Herren, ist Gottes Werk. Von langer Hand hat es sich vorbereitet, in einem übergreifenden Geschehen, und mag der Mensch in seinen einzelnen Handlungen einen Spielraum von Freiheit haben - aufs Ganze gesehen setzt sich von alters her ein Richtungssinn durch, auf den wir offensichtlich nicht den geringsten Einfluß haben.

LeerEs sieht so aus, als waren wir im Zuge der geschichtlichen Entwicklung nunmehr an eine Grenze gelangt, an welcher wir rückblickend wie durch fallende Nebel allmählich die Umrisse eines Ganzen erkennen. Wenn es sich wirklich um die von Jaspers so genannte weltgeschichtliche Situation handelt, so müßte diese ja auch tief und weit genug sein, alles, was je gewesen ist, unter der besonderen Perspektive dieses einen geschichtlichen Moments zu rekapitulieren. Sollten wir aber wirklich ein Stück weit erkennen, so bleibt die wichtigste Frage doch immer - nicht, was wir wollen, und was uns richtig dünkt, sondern was Gott von uns will, und was es für uns heißt, gehorsam zu sein. Es versteht sich, daß ich jetzt nur abgekürzt und stark vereinfachend spreche. Es soll nun doch ein Ganzes skizzenhaft vor Sie hingestellt werden. Ich werde in einer Anzahl von Schritten dem Gebirge entlang die wichtigsten Gipfel nur gerade benennen, ohne sie jetzt mit Ihnen besteigen zu können. Mit Begründungen kann ich mich hier nicht lange befassen, und die ungelösten Probleme, deren Zahl Legion ist, bilden unausgesprochen den Hintergrund. Das Ziel ist, versuchsweise und in nuce, eine Deutung der Situation, nicht nur, insofern wir sie schon vorfinden, sondern auch, insofern wir für sie verantwortlich sind. Aus der Deutung erwächst darum die Frage: Was sollen wir tun? Die Antwort impliziert eine Revolutionierung unserer Denkungsart.

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LeerII. Der Untertitel meines Vortrags spricht von geschichtstheologischen Reflexionen an der Schwelle einer neuen Epoche. Vorausgesetzt ist, daß die vorhin berührte, in einer Vielzahl umwälzender Ereignisse sich durchsetzende Übergangsphase, die uns durch Grenzüberschreitungen in eine neue Situation bodenlosen Existierens versetzt, vermutlich kurz vor dem Abschluß steht. Abschluß bedeutet aber hier so viel wie das Treffen ins Ziel, die wirklich und unwiderruflich geleistete Ankunft im Neuen, welche Ankunft das Bewußtsein davon allererst noch schärfen muß, welches der unverfügbare Grund ist, der das Existieren auch und gerade im Bodenlosen gleichwohl ermöglicht. An dieser Stelle kommt der Spruch des Propheten Jesaja zum Tragen, der den Titel meines Vortrags bildet, und der mit Bedacht in der originellen Übersetzung Martin Luthers hingestellt ist: Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht - nämlich im Bodenlosen.

LeerIch benenne zunächst den Ausgangsort, von welchem her die einzelnen Schritte dieses Vortrags ihren Fortgang nehmen. Dieser Ausgangsort ist mit der Einsicht und dem Appell des Philosophen Jaspers gegeben. Zu allen Zeiten hat im Vorfeld der Theologie Philosophie klärend gewirkt, gleichsam als Außenposten einer unentbehrlichen Einsicht in das jeweilig vorgegebene Substrat von „Welt”. Karl Jaspers ist ein Denker, der im vernünftigen Wissen um die aus dem Umgreifenden von Transzendenz sich gewinnende menschliche Existenz die Situation der omnipräsenten weltgeschichtlichen Krise gründlich und allseitig erhellt. Im Jahre 1958 veröffentlichte Karl Jaspers sein Buch: „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen”. Zu einer Zeit, als wir Jungen noch träumten, sah der große alte Mann mit einer Klarheit, die uns heute betroffen macht, die durch die Entdeckung der Kernspaltung unwiderruflich eingetretene Situation, und was er sah, das sprach er aufrichtig und unbestechlich aus. Ich entnehme dem 500 Seiten starken Buch einige charakteristische Sätze: „Vor uns sehen wir das mögliche, für den Verstand wahrscheinliche Ende der Menschheit. Alle wissen: Nur der Weltfriede kann helfen. Einige fügen hinzu: Dieser Friede kann nicht allein durch Verträge und Rechtsordnung erreicht werden, sondern diese selber setzen zur Wirksamkeit eine Umkehr der Menschen voraus.”

Leer„Der Atombombe, als dem Problem des Daseins des Menschen schlechthin, ist nur ein einziges anderes Problem gleichwertig: Die Gefahr der totalitären Herrschaft mit ihrer alle Freiheit und Menschenwürde vertilgenden terroristischen Struktur. Dort ist das Dasein, hier das lebenswerte Dasein verloren. An beiden äußersten Möglichkeiten kommen wir heute zum Bewußtsein dessen, was wir wollen, wie wir leben mochten, wozu wir bereit sein müssen. Beide Probleme scheinen schicksalsgemäß zusammenzugehören. Sie sind wenigstens praktisch untrennbar miteinander verbunden. Das eine ist nicht ohne das andere zu lösen. Die Lösung beider aber fordert Kräfte des Menschen, die aus solcher Tiefe hervortreten müssen, daß er selbst in seiner sittlich-vernünftig-politischen Erscheinung sich wandelt in einem Maße, daß es der Wendepunkt der gesamten Geschichte wäre.”

Leer„Wir müssen immer wiederholen: Heute ist die neue, durch den Menschen selbst hervorgebrachte Situation, daß er die Fähigkeit erlangt hat, die Menschheit und alles Leben auf Erden zu vernichten. Früher hat das Unheil Staaten und Völker vernichtet, doch das menschliche Leben selber war wieder da. Unheil und Leben gingen immer weiter. Jetzt aber kann es enden. Der Grundvorgang des Unheils ist der uralte, der jetzt zum ersten Male statt des bisherigen partikularen Verderbens den totalen Untergang der Menschheit herbeiführen kann. Seit Jahrzehnten werden wir uns bewußt, entweder vor dem Untergang oder vor den Toren zu einer neuen Wirklichkeit zu stehen. Der Eintritt in sie ist noch nicht gefunden. Wir stehen heute in der Situation, in der die Geschichte der Menschheit zu der nicht mehr nur geistigen, sondern realen Krise kommt, aus der der Untergang der Menschheit hervorgehen wird oder eine neue Wirklichkeit des Menschen selbst” (S. 251 f. und S. 22 der Neuausgabe von 1982 in der Serie Piper).

LeerDiese Sätze sind 25 Jahre alt. Sie klingen, als wären sie heute für uns geschrieben. Ihre Pointe liegt in der von Jaspers zuletzt ausgesprochenen Alternative: Untergang der Menschheit - oder eine neue Wirklichkeit des Menschseins selbst, durch welche nicht nur der Griff nach der Waffe als solcher, sondern vorab wurzelhaft die terroristische Selbstbehauptung des seinem eigensten Wesen entfremdeten Menschen abgetan wäre. Jaspers denkt solche Umkehr als die Tat des je einzelnen Menschen. Aber die vielen einzelnen zusammen sind die Menschheit. Die Umkehr der Menschheit wäre ein weltgeschichtliches Ereignis, sie brächte den Wendepunkt der gesamten Geschichte.

LeerWenn man sich Jaspers' Denken ins Christliche übersetzt - nicht, um sich seiner zu bemächtigen, sondern um ihn zu verstehen -, so zeigt sich: In seinem unermüdlichen Bestreben, so etwas wie eine neue Qualität der Menschengeschichte herbeiführen zu helfen, will er im Grunde nichts anderes als das innergeschichtliche antizipierte Eschaton. Der Mensch muß sich durch Umkehr wandeln, damit seine Politik sich wandle. Jaspers ist sich des gleichsam Utopischen seiner Gedankenführung bewußt - das kommt in seinem dialektischen, auf weitem Umweg zu sich zurückkehrenden Denken immer wieder zum Ausdruck. Jedoch die unerbittliche Grenze, an welche die Menschheit geführt ist, zwingt ihn, den nüchtern wagenden Mann, dazu, die vermeintliche Utopie als die geschichtliche Möglichkeit des in sein wahres Wesen einkehrenden Menschen zu denken; wobei ihm die andere Möglichkeit des Scheiterns klar vor Augen steht: Bezeichnenderweise nicht eigentlich tragisch, sondern aus der durch Denken erworbenen Gelassenheit einer sich opfernden Hingabe an das Umgreifende von Transzendenz. In Jaspers, der den Propheten des Alten Bundes und von einer Seite auch Jesus so nahe ist, lebt etwas von dem Pathos des 73. Psalms: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.” Und so kann er am Ende seines Buches sagen: „Aus der Gegenwärtigkeit des Ewigen kann eine Folge sein, daß der Selbstmord der Menschheit abgewehrt wird. In dieser Gegenwärtigkeit wird aber auch die Hoffnung bleiben noch im Scheitern von Vernunft und Dasein”(S. 501).

LeerDieser Ausklang des Buches macht es unmöglich, sich Jaspers gegenüber hinter seiner christlichen Orthodoxie zu verschanzen, etwa unter Hinweis auf das simul iustus, simul peccator, auf die fremde Gerechtigkeit die, solange wir leben, nicht auszurottende Sünde ins Feld zu führen und den Philosophen, weil er den Schritt vorwärts in die heile Zeit des Ewigen wagt, der Schwärmerei oder des Illusionismus zu zeihen. Denn insofern Jaspers alles in der Schwebe beläßt, ist er aus seinem philosophischen Blickpunkt völlig im Recht. Er sagt, was die Stunde geschlagen hat. Er zeigt die geschichtliche Möglichkeit auf. Er sagt nicht, daß die Möglichkeit auch ergriffen wird: Das Gegenteil kann geschehen. Aber selbst dann, wenn alles zerbricht, bleibt Hoffnung in der Selbstüberantwortung der menschlichen Existenz an Transzendenz.

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LeerIII. Durch Umkehr in eine neue Wirklichkeit des Menschseins gelangen und mit dieser neuen Wirklichkeit des Menschseins in die heile Zeit der Gegenwart des Ewigen Eingang finden: Wir wollen uns gleichsam experimentierend dies geschichtliche Ziel philosophierenden Denkens zu eigen machen und nach den Bedingungen forschen, unter denen es jetzt zu gewinnen wäre. Die erste Bedingung ist die, durch welche das Denken auf ein antizipiertes Eschaton hin überhaupt erst in Gang gebracht ist: Die neuzeitliche säkularisierte Welt ist durch das aus ihr selbst hervorgebrachte technische Können an ihr mögliches, nicht mehr bloß gedachtes, sondern reales Ende gelangt. Das Schiff ist im Sinken begriffen, man muß es verlassen. Der Überschritt in die dahinter sich öffnende heile Zeit ist jetzt zu leisten. Freilich doch nicht so, wie ein sinkendes Schiff verlassen wird. Der Überschritt in jene geschichtliche Tiefe, aus welcher die heile Zeit hervorgehen wird, kann sich von dem, was gewesen ist, nicht dispensieren. Der Überschritt in die heile Zeit dient vielmehr gerade dazu, den Bestand der im Modus der Säkularisierung an ihr Ende gekommenen Welt doch zu wahren, sie in die heile Zeit - verwandelnd - zu integrieren. Der Exodus geschieht also in einer Hinsicht um der Rückwendung willen. Er ist nicht Flucht. Die ihrer möglichen Vernichtung überantwortete Menschen-Welt wird gleichsam verlassen, um sie aus einer stärkeren Position in die Hut zu nehmen.

LeerWir müssen jedoch zunächst nicht dem Überschritt, sondern dem Verlust von Welt unsere Aufmerksamkeit widmen. Die Situation läßt sich etwa folgendermaßen umschreiben: Der Mensch, seiner Vernunft entfremdet, die das Umgreifende von Transzendenz wahrzunehmen vermag, auf seinen Verstand und das von diesem versehene technische Machen zurückgeworfen; zugleich von der Wurzel seines verkehrten Wesens her auf Selbstbehauptung bedacht: Er hat sich und seine Welt an den Rand des Abgrunds gebracht. - Dies mag wohl zutreffen, nur hat man sich, wenn man es ausspricht, davor zu hüten, daß es nicht etwa im Ton einer Kapuzinerpredigt herauskommt. Denn in, mit und unter aller menschlichen Sünde ist Gottes übergreifendes Handeln am Werk. Daß nach schwachen Ansätzen in der vorchristlichen Antike im christlichen Abendland seit Beginn der Neuzeit immer schneller und zuletzt in rasendem Tempo dem Menschen das technische Vermögen in die Hand gelegt ist, das ist eines der Geheimnisse geschichtlichen Daseins, die (trotz Heidegger) der Deutung immer noch harren. Die Entwicklung der Technik gehört aber in den Kontext der von ihrem geschichtlichen Ursprung her christlichen Welt, die seit ihren Anfängen gegen Ende des ersten Jahrhunderts in einer fortschreitenden Emanzipation des Denkens begriffen ist.

LeerWo also soll man den Anfang des Unheils suchen? Soll man die Aufklärung und die vielgescholtene Autonomie des modernen Menschen verantwortlich machen? Beides weist zurück auf die Renaissance, auf Humanismus, Reformation. Aber nicht erst das der Kirche des Mittelalters sich entfremdende Denken: Schon das Denken der mittelalterlichen Kirche selbst ist auf dem Weg zu einer emanzipativen ratio begriffen. Wie Anselm von Canterbury sich gleichsam neben den Glauben stellt, um dessen Sätze aus purer ratio mit Notwendigkeit zu beweisen: Das zeigt, wie weit seine freier gewordene Subjektivität sich vom vergleichsweise noch archaisch gebundenen Denken Augustins entfernt hat. Jedoch Augustinus, dieser lateinische Grieche, hat sich vom still leuchtenden Geist eines Origenes in einen entschieden höheren Grad rationaler Bewußtheit abgesondert. Und so könnte man immer weiter rückwärts gehen, und es würde sich zeigen: Es ist nicht möglich, den „Sündenfall” zu datieren, um hinter ihn in den Urstand des vom Geist noch nicht angekränkelten unschuldigen Gerechten zurückzukehren.

LeerWir müssen hier eine eigene Art von Großmut walten lassen. Von Anfang an scheint die von ihrem geschichtlichen Ursprung her christliche Welt darauf angelegt zu sein, das, was im Menschen ist, in einer langen Entwicklung hervorzubringen. Aber gerade das, was im Menschen ist, hat konsequent auch dafür Sorge getragen, daß sich erfüllt, was Paulus schreibt: „Die Gestalt dieser Welt vergeht.” Wir finden erst dann in die heilsame Gelassenheit, die imstande ist, weise und gut zu entscheiden, wenn wir Geburt und Tod, den Beginn und das Ende des irdischen Daseins aus ganzem Vertrauen von Gott entgegennehmen - nicht nur im persönlichen Leben, sondern grundsätzlich auch, wie es scheint, im Ganzen von Welt. Nicht auf sich selbst bauen, sondern auf den Gott, der die Toten erweckt: Diese Maxime des 2. Korintherbriefs gilt auch im Umgang mit der Welt als Geschichte.

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LeerIV. Die auch in ihrer neuzeitlich-säkularisierten, technisch-rationalen Gestalt vom geschichtlichen Ursprung her christliche Welt ist in die Möglichkeit ihres realen Endes versetzt. Um das zu verstehen, empfiehlt es sich, die Menschen-Welt dort aufzusuchen, wo sie zuerst theologisch bewußt zugleich einerseits mit Gottes noch erhaltendem Schöpferwillen, und andererseits mit der auf ihr Ende zielenden Botschaft von Christus verklammert wurde. Das ist nicht schon in urchristlicher Zeit geschehen, wo mehr oder minder intensiv die Naherwartung herrschte; wo die Menschenwelt schon grundsätzlich vor dem Kommen des Herrn zur Gleichgültigkeit des im Grunde Nichtigen verblaßt war. Nein, die theologische Aufwertung des Kosmos geschah an der Schwelle zur Großkirche, als in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts die hellenistische Synagoge sich taufen ließ. Denn die hellenistische Synagoge hatte die schöpferische Synthese geleistet, kraft welcher der Gott Israels nunmehr als Schöpfer des griechisch, philosophisch, geozentrisch konzipierten Kosmos geglaubt werden konnte. Zu dieser wohlverstandenen communio zwischen dem Gott der Bibel und der hellenistischen Welt gesellte sich durch die Mission als „Dritter im Bunde” der Christus, und in dieser Dreiheit wurde nunmehr die Menschen-Welt von der Vorsehung auf die Bahn der Geschichte gelenkt. Großartig war der 1. Klemensbrief vom Jahr 96, mit welchem Text die Geschichte der christlichen Welt beginnt: Vom Himmel über die Erde zur Unterwelt ist Gottes Wille am Werk, im Frieden seiner Hände ruht, was sich regt und lebt, insbesondere wir, die wir uns durch Jesus Christus seinem Erbarmen anvertraut haben. Daß der Christ der eigentliche Weltbürger sei, ist das Pathos der Kirchenväter. Ende des 2. Jahrhunderts kann es von den Christen heißen, sie seien im Kosmos, was die Seele im Leib.

LeerUnd doch wurde von Anfang an emsig daran gearbeitet, eben diesen christlichen Kosmos aus den Angeln zu heben. „Es komme die Gnade, es vergehe die Welt”: So lautet ein Gebet in der ältesten erhaltenen Kirchenagende. Das Ende dachte man sich etwa gleichsam als Einbruch des wiederkehrenden Christus in das Gefüge des Kosmos von der anderen Seite. Der Alexandriner Origenes konzipierte die Eigenbewegung der Welt aufs Eschaton hin. Augustinus dachte den langen Marsch der beiden civitates durch die Geschichte, bis einst das Jüngste Gericht zwischen Gottesstaat und Teufelsstaat scheidet. Grenzüberschreitungen noch und noch im Denken von Welt bei den Christen - und nicht nur im Denken, auch im geschichtlichen Handeln wurde durch fortgesetzte Grenzüberschreitung die vom geschichtlichen Ursprung her christliche Welt entschränkt; sei es, zu Beginn des Mittelalters, durch den Übergang der Kirche aus der Mittelmeerwelt zu den Germanen; sei es, zu Beginn der Neuzeit, durch die großen Entdeckungsreisen; sei es, vor dem Ende der Neuzeit, durch die Eroberung des Luftraums. Vom Beginn der christlichen Ära an ein fortschreitender gleichsam Emanzipationsprozeß über alle Grenzen hinaus! Um von allem übrigen zu schweigen: Am deutlichsten sieht man, was heute geschieht, wenn man die Entdeckung der Kernspaltung mit der Entwicklung der Raketentechnik zusammenhält. Jene hat uns an die letzte Grenze unserer irdischen Welt geführt und das reale Ende ermöglicht. Diese hat uns in den Stand gesetzt, die Schwerkraft der Erde zu überwinden und im Aufschwung der Materie eine Art innerweltlicher Transzendenz zu begründen: Deutlich eine Transposition des früher von Platonikern und Mystikern geleisteten geistig-ekstatischen Überstiegs. Es gibt tief zu denken, wie sich hier einerseits gleichsam der abendländische Nihilismus vollendet, während sich andererseits im physisch-ekstatischen Aufschwung des Menschen noch Hoffnung verbirgt. Die innerweltliche Transzendenz und das innergeschichtlich antizipierte Eschaton korrespondieren einander. In beiden Richtungen geschieht Überschritt: Dort in der Vertikale, hier in der Horizontale.

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LeerV. Wenn die vom geschichtlichen Ursprung her christliche Welt an ihr mögliches reales Ende gelangt und die 2000 Jahre entweichen, wie ein Buch zusammengerollt wird, dann wird alles bodenlos, und wir stürzen. Aber während wir stürzen, erblickt das an geschichtliche Dimensionen geübte Auge die - hinter der nicht mehr tragfähigen christlichen Welt - nun aufscheinende urchristliche Zeit. Genauer: Der Glaube versteht, daß Gottes Wort in Ewigkeit bleibt, und daß dort, wo wir am Abgrund stehen, der eine Grund, der gelegt ist, Jesus Christus in einer neuen Aktualität zum tragenden Grund geschichtlichen Existierens wird. Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht! Freilich wäre es aus dem hier gebrauchten Bild der falsche Schluß, nach dem Vorbild früherer Generationen die urchristliche Zeit als solche als das verlorene Paradies zu betrachten, in das wir zurückkehren sollten. Die urchristliche Zeit ist, wie wir heute wissen, diffus gewesen; ähnlich diffus, wie es die christlichen Konfessionen sind. Wir haben uns dessen zu erinnern, daß die Wahrheit perspektivisch durch die Zeiten geht. Die Reformation, dieser, nach Ferdinand Christian Baur, Wendepunkt der Kirchengeschichte hat die urchristliche Wahrheit heilsam auf einen konzentrierten Begriff gebracht, mit dem sich in der vor uns liegenden Epoche leben läßt. In der Tat ist Luther, aus Gründen, die in der Geschichte liegen, der erste „Kirchenvater” gewesen, der die paulinische Verkündigung genuin aus ihr selbst zu verstehen vermochte. Er hat sie aus der Urzeit des Christentums gleichsam herübergehievt und mit ihr die Großkirche, der er angehörte, eschatologisch qualifiziert.

LeerHanns Rückert hat 1954 auf einem Tübinger „Dies universitatis” gesagt, die von Martin Luther entdeckte Wahrheit sei älter als das Älteste und neuer als das Neueste; darum entziehe sich die Reformation der Einordnung in „das geläufige geistesgeschichtliche Schema von Mittelalter und Neuzeit. Die Reformation läßt sich nicht zwischen den Zeiten verrechnen, sie zeigt - ohne aufzuhören, selber ein Moment der Geschichte zu sein - einen die Geschichte übergreifenden Charakter. Die im 16. Jahrhundert erschlossene Grundsituation ist so tief und so weit, daß sie sich durchhält auch dann, wenn die vom geschichtlichen Ursprung her christliche Welt an ihr Ende gelangt. Die von den Reformatoren erschlossene geschichtliche Grundsituation ist, auf den Begriff gebracht, der eschatologische Augenblick „jetzt”. Diese Einsicht hat aber als Aufgabe zur Folge, die Reformation aus der historischen Beschränkung des 16. Jahrhunderts zu lösen, zu fragen, was es heute und hier bedeutet, daß die von den Reformatoren entdeckte neue Wirklichkeit des Menschseins - in Jesus Christus ein für allemal unter uns leibhaftig geworden - durch göttliches Versprechen (promissio) unserem Glauben (fides) zugesagt ist. Vermutlich wird sich zeigen, daß die von den Reformatoren erschlossene Grundsituation mit der von Jaspers so genannten weltgeschichtlichen Situation am Ende koinzidiert, denn in der Tat: Die weltgeschichtliche Situation, aus dem Grunde verstanden, ist das innergeschichtlich antizipierte Eschaton. Dementsprechend wird es sich beim Überschritt in die neue Epoche um die Frage handeln, welches die Bedingungen sind, unter denen die Reformation, in aller Länge, Breite, Höhe und Tiefe, heute und hier zum weltgeschichtlichen Ereignis zu werden vermag.

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LeerVI. Eine der Bedingungen dafür, daß die Reformation in der vor uns liegenden Epoche zum weltgeschichtlichen Ereignis wird, soll in diesem Kapitel flüchtig umschrieben werden. Was hierüber zu sagen wäre, ist freilich im protestantischen Raum schwer zu verstehen, noch schwerer zu ertragen. Es erzeugt erfahrungsgemäß von dieser Seite nicht Gesprächsbereitschaft, sondern Aggression: zum Beweis, daß die Erben der Reformation sich in Selbstbehauptung dagegen sträuben, die von den Reformatoren erschlossene Grundsituation ins Ganze der Geschichte freizugeben. Wir sind in der geschichtlichen Entwicklung an eine Station gelangt, wo scheinbar Fremdestes sich als verwandt begrüßt. Das antizipierte Eschaton ist die geschichtliche coincidentia oppositorum - Einheit der Gegensätze.

LeerIm dritten Kapitel wurde gesagt: „Der Überschritt in die sich öffnende heile Zeit ist nunmehr zu leisten. Freilich doch nicht so, wie ein sinkendes Schiff verlassen wird. Der Überschritt in jene geschichtliche Tiefe, aus welcher die heile Zeit hervorgehen wird, kann sich von dem, was gewesen ist, nicht dispensieren. Der Überschritt in die heile Zeit dient vielmehr gerade dazu, den Bestand der im Modus der Säkularisierung an ihr Ende gekommenen Welt zu wahren, sie verwandelnd in die heile Zeit zu integrieren.” Ich stelle die Frage, ob die genannten Bedingungen dadurch erfüllt sind, daß mit dem Ende der neuzeitlichen, säkularisierten Welt die von den Reformatoren erschlossene Grundsituation mit der von Jaspers so genannten weltgeschichtlichen Situation koinzidiert, dergestalt, daß in der nun bleibenden bodenlosen Abgründigkeit die iustificatio gratis propter Christum per fidem - die Rechtfertigung umsonst, um Christi willen, durch den Glauben den Grund des Existierens hergibt? Oder anders gefragt: Läßt sich das Weltproblem, in der auf das antizipierte Eschaton hin zugespitzten Fragestellung, exklusiv christologisch lösen? Ist die Weltsituation gleich dem exklusiv verstandenen solus Christus? Genügt also der wohlverstandene Rekurs auf das 1. Kapitel des Kolosser-Briefes, wenn man unter dem All, das durch Christus geschaffen wurde und in ihm Bestand hat, nichts anderes versteht als die derzeit im Sturz begriffene vorfindliche Welt? Wo bleibt die Schöpfung, wenn die Menschen-Welt endgeschichtlich verdampft? Ist sie nur im auferstandenen Christus präsent? Man kann die Frage auch anders stellen: Ware das von Heidegger erörterte Problem von Sein und Zeit christologisch zu lösen? Offenbar nicht, da der klassischen Dogmatik zufolge das, was an Christus unter die Prädikation des „Seins” fällt, göttlich und nicht zeitlich ist, hinwiederum das, was an Christus unter die Prädikation der Zeit fallt, menschlich und nicht in Heideggers Sinne „seins”haft ist.

LeerIch habe zuerst 1968 ausgesprochen und 1973 zuerst drucken lassen, daß im Blick auf die sich endgeschichtlich manifestierende Abgründigkeit von Welt, und unter Berücksichtigung dessen, was die gesamtkirchliche Tradition einschlägig hergibt, das Weltproblem nicht exklusiv christologisch, sondern - auf der Grundlage der Christologie - mariologisch zu lösen ist. Ich muß mich hier mit wenigen Worten begnügen, was nicht darüber täuschen darf, daß an dieser Stelle für die vor uns liegende Epoche eine der grundlegenden Entscheidungen fallen muß.

LeerMaria, schon im vierten Evangelium als die eschatologische Existenz par excellence, von den Vätern des 2. Jahrhunderts als die neue Eva heilsgeschichtlich geortet, in der Alten Kirche als die kreatürliche „Fassung des nicht zu fassenden Gottes” erkannt und gefeiert: Sie hat sich im Bewußtsein der nichtprotestantischen Christenheit als die geschaffene Weisheit, als die mit Christus vereinte kreatürlich umgreifende Instanz zur Geltung gebracht. Maria Assumpta repräsentiert die eigentliche Dimension von „Welt”, nämlich die durch Christus gerechtfertigte und erlöste Schöpfung, die sich dem Glauben zeigt, sobald der Kosmos im Nichts verschwindet (die Kirche erkennt die apokalyptische Frau von Offb 12 in ihr). In ihr ist das Paradox der unweltlichen Welt gegeben, die nur der Glaube erkennt: Eine grundstürzend modifizierte Rückkehr zur Metaphysik nach dem Ende der Neuzeit. Maria ist die kreatürlich umgreifende Grund-Existenz, die mit Christus vereint die eschatologische Existenz aus Glauben - nicht ermöglicht (das sei ferne!), aber bestärkt. In ihr ist die grundgeschichtliche Tiefe verborgen, aus welcher die heile Zeit hervorgehen wird. Wenn es mithin wahr ist, daß das reformatorische „Christus allein” nur unter der Bedingung legitim sein kann, daß die mit Christus vereinte Kreatur von ihm nicht ausgeschlossen, sondern mitgemeint ist: So hat die Reformation schwerlich eine Chance, zum weltgeschichtlichen Ereignis zu werden, wenn sie es verschmäht, kraft Überschritts in die neue Epoche jenen von ihr verlorenen Schatz zurückzugewinnen. Denn ohne den „übrigen Ort”, den ich die Grundexistenz nenne, ist die Geschichte der von ihrem geschichtlichen Ursprung her christlichen Welt jetzt schon am Ende.

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LeerVII. Wenn die vom geschichtlichen Ursprung her christliche, aber säkularisierte Welt an ihr mögliches reales Ende gelangt, dann wird alles bodenlos, und wir stürzen. Aber während wir stürzen, hat unser Glaube verstanden, daß dort, wo der Abgrund sich auftut, der eine Grund, der gelegt ist, Jesus Christus uns aufnimmt und radikal eschatologische Existenz aus Glauben ermöglicht. Zugleich umgibt uns bergend, das Leben aus Glauben nicht ermöglichend, aber bestärkend die heile Zeit der marianischen Grundexistenz: Uns ist verstattet, die gefährdete Schöpfung ans Herz zu ziehen und liebend, unter Einsatz des Lebens, in die Hut zu nehmen.

LeerDer höchst nötige Exodus aus Glauben in den zwiefach tragenden Grund der heilen Zeit kann jedoch nur gelingen, wenn er nicht Sache des vorausschauenden Denkens oder des frommen Gemütes bleibt. Er ist in die politische Wirksamkeit des in sein wahres Wesen einkehrenden Menschen zu übersetzen. Der Überschritt in die neue Epoche der heilen Zeit muß weltweit institutionell gesichert sein, oder alles ist verloren. Man hat also zu fragen, wo in der Menschengeschichte eine Institution sich bereit hält, die unter grundstürzend gewandelten Bedingungen auch selber gewandelt die Sicherung des aus heiler Zeit aufkeimenden Weltfriedens zu leisten vermag.

LeerDie einzige Instanz, an die hier überhaupt gedacht werden kann, ist das römische Papsttum. Im Unterschied zur Genfer Zentrale des Ökumenischen Weltrats der Kirchen, die eine Koordinierungsstelle ist und darüber hinaus nichts, ist Rom von je eine geschichtliche Entelechie. Die autokephalen Kirchen der Orthodoxie haben es von ihrer griechischen Herkunft her an sich, in die im Grunde geschichtslose Präsenz geistlicher Poleis zerstreut zu sein. Die protestantischen Denominationen haben es von ihrer reformatorischen Herkunft her an sich, nicht minder in eine im Grunde geschichtslose Präsenz zerstreut zu sein, denn die reformatorische Botschaft meint nicht die sich dehnende Zeit; sondern den eschatologischen Augenblick je jetzt. Allein das christliche Rom repräsentiert, im Zusammenklang von Tradition und Fortschritt, eine seit 2000 Jahren durch Höhen und Tiefen mit sich identisch gebliebene Geschichtsmächtigkeit.

LeerDas Haus muß auf geschichtliche Fundamente gestützt werden, sonst stürzt es ein. Freilich ist die Bedingung hierfür, daß es möglich sei, die Fundamente gewandelt in die neue Epoche herüberzunehmen und auf den Glauben zu stellen, ohne den nichts bleibt (Jes 7,9). Man zeige mir auch in dieser Hinsicht einen von der Geschichte vorbereiteten Baugrund, der mit Rom konkurrieren könnte! In der Person Johannes XXIII. hat das Papsttum zuerst in die Umkehr einer aus innen geschehenden Öffnung gefunden. Daß die damit inaugurierte Entwicklung, trotz retardierender Momente, unaufhaltsam im Fortschreiten ist, scheint das soeben publizierte Schreiben Johannes Pauls II. zum 500. Geburtstag Martin Luthers zu zeigen. Die auf ein greifbares Resultat dringende Aufrichtigkeit, mit welcher hier der Dialog des Glaubens gesucht wird, läßt alles hinter sich, was bisher vom päpstlichen Stuhl zur Reformation gesagt worden ist.

LeerIm Jahre 1977 ist auf Anforderung des katholischen Ökumenikers Albert Brandenburg mein Beitrag erschienen: „Und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder; der Bischof von Rom und die Einheit der Christen” (Petrus und Papst, hrsg. v. Brandenburg/Urban). In dieser Abhandlung findet sich der folgende Passus: (Es kann) „zunächst nicht darum gehen, daß Rom, um die Einheit der Christen zu realisieren, zu sich einlädt. Im Gegenteil, um die paradoxe Zumutung handelt es sich, daß Rom sich entäußere - freilich nicht, um selbst zur lutherischen Kirche zu werden, sondern (sich entäußere) in das, die geschichtlichen Konkretionen der Kirche ... umgreifende Geheimnis des Leibes Christi hinein. Eine spezifische Selbstentäußerung also ist vom Papsttum zu erhoffen, wenn anders er, der Einheit der Christen zugut, die faktische Partikularität seines Geltungsbereichs zum Ganzen der Kirche hin überschreiten wollte, zu keinem anderen Zweck, als mit sich selbst auch alle übrigen Kirchenkörper in das Umgreifende des Leibes Christi verantwortlich zu integrieren” (S. 199).

LeerErgänzend hierzu finden sich in einer 1981 von mir beim Heiligen Stuhl eingereichten Denkschrift die folgenden Sätze: „Der Papst wird dazu gelangen, seinen Universalepiskopat wirklich auszuüben, wenn er die nichtrömischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dazu einlädt, innerhalb des vom Papst verkündigten Umgreifenden der Mater Ecclesiae (Mutter der Kirche) ..., jeweils an ihrem geschichtlichen Ort und ... mit der von ihnen jeweils gesichteten perspektivischen Wahrheit, sich anzusiedeln und mit der Römischen Kirche zusammen und untereinander in jenen ‚Lernprozeß’ einzutreten, der sie am Ende dazu befähigen kann, sich auf neue Weise zum Ganzen zu begreifen.” Der Grundgedanke in solchen Texten ist der, daß Rom die weltgeschichtliche Aufgabe zukommt, die Einheit der Christen nicht schon als in der Ecclesia Romana gegeben zu behaupten, vielmehr die Einheit allererst dadurch möglich zu machen, daß Rom in Gemeinschaft mit den übrigen geschichtlich gewachsenen Christentümern in den offenen Horizont der heilen Zeit hinaustritt, um aus dem Umgreifenden des Leibes Christi die sich dann ergebende neue Ordnung zu wagen. Es besteht hohe Wahrscheinlichkeit, daß die begonnene Umkehr Roms in dieser Weise zum Ziel kommt: Dad der römische Bischof durch einen Akt wohlverstandener Selbstverleugnung zu der aus dem Kairos auf ihn zukommenden universalgeschichtlichen Aufgabe allererst durchbricht. Das ist in der uralten Tradition der lateinischen Kirche selber begründet, wo vom Ursprung her der römische Bischof als in besonderen Graden mit dem Mysterium der Mutter Kirche betraut gilt - aber nicht im Modus der Herrschaft, sondern des Dienens. Von Cyprian von Karthago wäre in dieser Hinsicht Entscheidendes zu lernen.

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LeerVIII. Die Menschen-Welt ist an ihr mögliches, nicht bloß gedachtes, sondern reales Ende gelangt. Wir stürzen, aber im Sturz fängt uns der Glaube auf, der durch die Reformation in die Geschichte gültig eingebracht wurde. Aus dem mit dem Christus des Glaubens verbundenen Mysterium Marianum erwächst uns heile Zeit, in welcher wir die verwundete Schöpfung noch im Sturz in die Hut nehmen. Voraussetzung dafür, daß dieser bergende Akt weltweit gelingt, wäre die vom römischen Bischof geschichtlich zu ermöglichende Einheit der Christen - nicht im Sinne einer „Rückkehr” der Christentümer unter römische Herrschaft, sondern so, daß aus dem Umgreifenden heiler Zeit die Vielfalt des vom Geist Gewirkten in eines versammelt wird.

LeerUnter der Voraussetzung, daß alle diese Bedingungen erfüllt wären; daß wie eine Insel aus dem Meer, so die eine Christenheit aus der Menge der Volker geboren wäre; daß weltweit aus allen Völkern, Sprachen und Zungen diejenigen, die dem Evangelium von Christus glauben, plötzlich zusammenstünden: Unter dieser Voraussetzung würden Dinge geschehen, von denen wir uns jetzt bloß wie durch Milchglas hindurch eine Vorstellung machen. Vor allem wäre dieser Überschritt in die Epoche heiler Zeit eine über alles bisher Dagewesene hinausführende Grenzüberschreitung und Entschränkung von Welt, zustandegebracht durch die von der weltgeschichtlichen Situation ermöglichte Umkehr von Christen, so wie sie in Christus, durch die marianische Grundexistenz bestärkt, unserem Glauben zugesagt ist. Nicht, als würden wir sündlos, sondern so, daß sich uns nunmehr aus einem weitestmöglichen geschichtlichen Horizont, nämlich aus dem Umgreifenden heiler Zeit die „fremde Gerechtigkeit” zuspricht. Es würden Grenzen fallen. Verschlossene Türen würden sich auftun. Die politische, die geistige Landschaft wäre rasch verwandelt. Vor allem aber wäre überall, wo Christen wirken und mit Gottes Hilfe ihre Sünde im Zaum halten könnten, der Friede möglich. Aus der neuen Einsicht in das Wesen der weltgeschichtlichen Situation würde Ereignis werden, was wir im 2. Kapitel des Jesajabuches lesen: Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Wer so radikal, wie es dann gegeben sein wird, aus Glauben existiert, der darf nicht mehr Krieg führen: Es ist ihm verboten. Voraussetzung wäre zum einen die straffe Organisation der Kirche um den ganzen Globus herum; zum anderen die Integration der Völker ins neue Corpus Christianum, wobei die Frage der dann in Erscheinung tretenden, übergreifenden weltlichen Instanz eine spezifische Antwort erfordert, weil eben diese Instanz ihre eigene Unmittelbarkeit zu Gott haben dürfte, wenn es denn richtig ist, daß Maria die eigentliche Dimension von „Welt” repräsentiert.

LeerWenn ich dies alles ausspreche, so rase ich doch nicht, wie einst Festus meinte, daß Paulus rase. Ich denke mir auch nichts aus, sondern ich spreche an, was jetzt geschichtlich möglich ist. Doch muß ich nun meinerseits dringend zur Nüchternheit raten. Denn der Völkerfriede in heiler Zeit, noch unter den Bedingungen des alten, wiewohl zu Ende gehenden Äons, ist alles andere als das Reich des Ewigen Friedens. Ich erinnere daran, daß auf die Erscheinung der Apokalyptischen Frau hin (Offb 12) auch prompt der Drache zur Stelle ist. Wenn aus einem weitestmöglichen geschichtlichen Horizont das Geheimnis erscheint, findet auch der Schatten seine größte Flache. Walther Eltester, dieser aus der kritischen Schule stammende Theologe, hat einmal die tiefsinnige Bemerkung getan, der Antichrist sei eine verzerrte Christusgestalt, und er habe die Neigung, sich „einzunisten”. Die Einnistung in eine zuvor gegebene schöpferische Ordnung: Das ist es. Die Entgrenzung und Entschränkung von Welt in der Epoche heiler Zeit wird nicht nur dem Guten, sondern auch dem Bösen unvorstellbare Chancen einräumen. Und auch hierfür liegt in der Geschichte schon alles bereit. Was vor uns liegt, ist noch nicht der heile Endzustand. Ein Leidensweg der Nachfolge Christi zeichnet sich ab. Die apokalyptische Frau liegt in Wehen und - schreit.

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LeerIX. Der Überschritt in die neue Epoche ist teils hohe Freude, teils tiefe Bangigkeit. Aber in beidem ist es der Gehorsam gegenüber dem Herrn. Die Frage ist, was wir tun können, um diesen Überschritt jetzt zu vollziehen, vorausgesetzt, daß die in diesem Vortrag laut gewordene Zeitansage stimmt. Zu tun wäre zunächst das, was wir immer tun, nur unter veränderten Vorzeichen. Es obliegt uns, zu beten und zu arbeiten, aber wir können theologisch nicht immer so fortmachen wie bisher. Sei es, daß wir bei den Einsichten des 16. Jahrhunderts auf der Stelle treten und lediglich einen Fortschritt des kritischen Bewußtseins konzedieren; sei es, daß wir uns von den Einsichten des 16. Jahrhunderts entfernen, um die säkularisierte Welt mit weithin säkularistischen Mitteln zu ordnen: In jedem Fall bleiben wir vor der Grenze stehen, an welcher standzuhalten und die zu überschreiten unsere Aufgabe wäre. Im Grunde wartet die ganze Menschengeschichte darauf, unter den Bedingungen dessen, was hier die „heile Zeit” genannt worden ist, in unserem Bewußtsein rekapituliert zu werden.

LeerFerner sollten wir möglichst rasch der soeben durch den Papst bekundeten Bereitschaft zum Dialog des Glaubens ein konkretes Echo geben. Es tut not, dem Papst zu sagen, was er aus seinem eigenen, dem Horizont der römischen Kirche nicht wissen kann, wie es umgekehrt not tut, daß der Papst uns sagt, was wir aus unserem eigenen, dem Horizont der reformatorischen Kirchen nicht wissen können. Denn die Wahrheit geht perspektivisch durch die Zeiten: Aber heute konvergieren alle Perspektiven. Beten und arbeiten, und den Papst bestürmen und bedrängen: Alles Übrige ist cura posterior. Wir kommen in der Geschichte nicht weiter, bevor nicht der Papst das Seine getan hat. Und alles dies ist auch der angemessene Friedensdienst. Jetzt irgendwo demonstrieren, irgend jemandem, der auch nichts dafür kann, in die Arme fallen: Das ist müßig. Man muß die Sache richtig anfassen: Der Überschritt in die neue Epoche heiler Zeit ist das einzige Mittel.

Quatember 1984, S. 2-16

[In Quatember Jahrgang 1984 wurden mehrere Stellungnahmen veröffentlicht, die hier wiedergegeben werden.]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-18
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