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Die Wirklichkeit der Engelwelt
Vor 50 Jahren
von Walter Blankenburg

LeerIm Evangelischen Jahresbrief 1937 hat Walter Blankenburg das Lied „Heut singt die liebe Christenheit” mit Text und Melodie den Lesern vorgestellt. Nach der lateinischen Vorlage von Philipp Melanchthon (1539) hat Nikolaus Herman es 1560 ins Deutsche übertragen. Im damaligen Evangelischen Gesangbuch war es nicht enthalten, aber es war gerade (1936) in den bei Bärenreiter erschienenen „Liedern für das Jahr der Kirche” veröffentlicht worden. Heute finden wir es unter Nr. 116 im Evangelischen Kirchengesangbuch. Die jetzige Strophe 6 fehlte 1936/37. Der Autor unseres Aufsatzes war damals 33 Jahre alt, Pfarrer in Vaake/Weserbergland. Im vorigen Jahr haben wir von dem Dreiundachtzigjährigen Abschied genommen (siehe Quatember, 50. Jg./1986, S. 124 f.).

LeerAn keiner Stelle des christlichen Glaubenslebens hat sich der Rationalismus so verheerend ausgewirkt wie im Glauben an die Welt der Engel. Noch Luther hat - das wird heute wieder oft ausgesprochen - den Michaelistag am 29. September als das vierte christliche Hauptfest angesehen; gedenkt er doch einer unbestreitbaren und grundlegenden religiösen Wahrheit, nämlich des Kampfes zwischen den Mächten des Lichtes und denen der Finsternis, der sich durch unser ganzes Leben hindurchzieht. Es ist der Kampf, der sich um den letzten Sinn des Menschenlebens überhaupt bewegt. Bei dem scheinbaren Siegeszug der Vernunft in der Neuzeit fiel diese allerdings unvorstellbare Wahrheit von der Engelwelt mit an allererster Stelle; von den „dienstbaren Geistern” weiß man hinfort nur im spaßhaften Sinne zu reden. Das ist bis auf den heutigen Tag so. Und die Sucht, alles tatsächlich Existierende von den Vorstellungen der sinnlich wahrnehmbaren Welt her begreifen zu wollen, macht auch in der Gegenwart noch die Hauptschwierigkeit aus, in der Welt der Engel mehr als nur ein Kapitel aus der Märchenwelt zu erblicken. Deshalb wird heute die Betrachtung eines Liedes, das wie das vorstehende von dieser Welt singt - es ist nach der Ordnung der „Lieder für das Jahr der Kirche” das Lied für den Michaelistag - vor allem Hilfen bieten müssen, in dieser Welt nicht eine schöne Fabel, sondern eben ein Stück Lebenswirklichkeit zu erkennen. Sie kann das aber nur, wenn wir uns von vornherein von den Vorstellungen der Sinnenwelt lösen, die es etwa zu übertragen gäbe auf die doch immer unvorstellbare höhere Gotteswelt.

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LeerAuch das wird hier nicht zum ersten Male ausgesprochen, daß der heutige Mensch an die Wirklichkeit der Engelwelt dann am ehesten herangeführt wird, wenn man ihn an die Existenz von dämonischen Mächten, von „gefallenen Engeln” erinnert. Wer redete nicht vom leibhaftigen Teufel, der in dem oder jenem Menschen stecken soll, der ihn wider Willen lenkt, so daß er ohne Sinn und Verstand handelt, in blinder Wut lebt, seiner selbst nicht mächtig ist, unter fremder verborgener Gewalt steht? Von solch' geheimnisvoller, unberechenbarer Macht weiß auch der ärgste Rationalist, nur daß er sich das selbst nicht eingesteht und für sie keinen Platz in seinem Denken hat. Noch an einer anderen Stelle verrät sich der moderne Mensch, der sonst „an nichts glaubt”, wie man auf dem gesund denkenden Lande ihn zu kennzeichnen pflegt, daß er um eine geheimnisvolle Kraft weiß, dann nämlich, wenn er besonders vom „Glück” abhängig ist, z. B. beim Autofahren. Lange Zeit hat er es mit einem Talismann in Gestalt einer Puppe versucht, aber da dieser allzu häufig seine Hilfe versagt hat und die Zahl der Verkehrsunfälle nicht geringer geworden ist, hat er ihn wieder in Ungnaden entlassen. Aber er hat sich dabei entlarvt. Und wenn der moderne Mensch so gemeinhin von Glück und Unglück redet, so versucht er - bewußt oder unbewußt - damit nur einen auch bei ihm tatsächlich vorhandenen Glauben an eine unberechenbare Welt zu umschreiben. Wo und wann in uns selbst diese Welt noch Zweifel hervorruft, sollten wir uns auf solche Erfahrungen selbst zur Rede stellen und den gleichen Dienst freilich auch unseren Mitmenschen erweisen.

LeerNoch aber sind wir bei der Erinnerung an solche Lebenserfahrungen nicht beim Hauptinhalt unseres Liedes angelangt. Es ist ja so bezeichnend, daß dem undankbaren Menschen der Neuzeit im allgemeinen nur das Unglück zur Frage wird und nicht auch das Glück. Nun handelt aber unser Lied -gerade darin erweist sich sein ganz zentraler christlicher Charakter - von den Engeln der Liebe, von den Schutzengeln, an deren Spitze der Erzengel Michael steht und deren Schöpfer und Meister Christus ist.

LeerWir alle sollen unseren Engel nach Christi Liebeswillen haben, der unser Leben nach allen Richtungen hin behütet, unser geistlich-seelisches ebenso wie das äußerlich-leibliche; denn der Teufel geht auf das Ganze. Nicht allein der Unglaube kommt von ihm, der Zweifel, die Ablehnung, der Streit und die Zersetzung, sondern auch das Leid, die Krankheit und der Unglücksfall. Mit seinem zerstörerischen Sinn rastet und „feiert er nicht”, er will den Menschen nicht zur Ruhe und Besinnung kommen lassen (Vers 5), denn eine Ruhepause könnte ja den Menschen den Satan auf seine wahre Absicht hin durchschauen lassen. Unmöglich für uns, unsere Zeit nicht immer wieder unter dem Schriftwort „der Teufel weiß, daß er wenig Zeit hat” (Offenbarung 12, Vers 13) zu bedenken!

LeerWiederum bedeutet es vielleicht eine Hilfe, wenn wir unsere Frage besonders vom leiblichen Leben her betrachten. Wie oft wandeln wir am Abgrund und wissen es nicht; erst hinterher wird es uns bewußt, daß das Leben an einem seidenen Faden gehangen hat. War es Zufall oder Glück, daß wir davon gekommen sind? Christenmenschen wissen, daß es keinen Zufall auf Erden gibt und daß das Unglück vom Teufel kommt. „Wo ihm nicht wehrt der Engel Schar, unser Leib, Seel, Blut, Haut und Haar kein Stund blieb unverletzet.”

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LeerMan kann das Leben von zwei Seiten her betrachten; entweder von unten her, von der Sphäre des Leides und der Schuld. Dann wird man alle Durchbrechung dieser Sphäre als Gottes Gnade und Güte empfinden. Oder von einem künstlich errichteten Oben her, von der menschlichen Selbstherrlichkeit und dem selbstverständlichen Glück, das nur leider manchmal oder oft durch menschliche Fehltritte oder unglückliche Zufälle durchbrochen wird. Die letztere Schau ist die Illusionsschau des neuzeitlichen Menschen, die erstere die wirklichkeitsgetreue des Christen. Das ist doch das Entscheidende, was unser Lied bezeugt, den sieghaften Einbruch von Gottes Gewaltigen in diese Welt der Versuchungen und der Teufelsherrschaft. Wenn das nicht wäre, dann wäre das Unglück die Regel („kein Stund blieb unverletzet”). Allein weil uns Gott aus seiner Liebe heraus einen Schutzengel sendet, können wir vor bösem, schnellem Tod bewahrt werden.

LeerDenn der Kampf, der im Himmel entschieden ist (Offenbarung 12, Vers 9 f.) findet auf Erden seinen Fortgang. Ja es gibt sogar Stunden, in denen der Teufel ungehindert von Gott hier herrschen darf zur Lehre und Mahnung für die Menschen, daß sie Gottes Liebe besser achten und verstehen lernen. Darum sagen wir auch, daß Gott es ist, der das Leid schickt. Aber das ist die Freude des Christen, daß diese Welt niemals völlig den satanischen Mächten preisgegeben sein wird, sondern daß auf ihr die unsichtbaren Gottesboten nicht aufhören zu wandeln; die, wie Nikolaus Herman von ihnen singt, die schönsten Kreaturen sind und zwar deshalb, weil sie ganz und gar Gottes Licht und Glanz widerstrahlen und weil sie das schönste Amt, das es gibt, innehaben, nämlich den ewigen Lobpreis vor Gott bringen zu dürfen (Vers 2 und 3 im Anschluß an Jesaja 6).

LeerWir wollen uns davor hüten, in einem solchen Lebens- und Weltverständnis, wie es in unserem Lied seinen Niederschlag gefunden hat, ein etwas abseitiges Stück der christlichen Glaubenserkenntnis zu sehen. Nicht nur daß sich unser Lied völlig auf die Bibel gründet, darüber hinaus zeigt die Umrahmung durch den ersten und letzten Vers, daß das ganze Lied nichts anderes sein will und kann als ein christliches Lob-und Danklied; denn Christi Streiter sind die Engel, denen wir befohlen sind und die den Endkampf auf der Erde führen. Die Sendboten von Gottes Liebe sind sie, die sie auf geheimnisvolle Weise verwirklichen. Möchte das schöne und wahre Lied mit dazu beitragen, das „Fest von den lieben Engeln” unserer Kirche von einem schwachen Überbleibsel aus einer früheren Zeit zu einem wirklichen Fest zurückzuführen.

LeerWie das im vorigen Heft besprochene Johannislied Nikolaus Hermans, dessen Ähnlichkeit mit unserm Liede in bezug auf die äußere Anlage unübersehbar ist und das ebenfalls aus des Dichters „Die Sonntagsevangelien über das ganze Jahr in Gesänge verfasset für die Kinder und christliche Hausväter” (1560) stammt (EKG 114, d. Red.), trägt auch unser Lied, aller Wahrscheinlichkeit nach wenigstens, keine eigene Weise Hermans, sondern in diesem Falle eine ältere. Es ist eine schöne, feste und gesunde Dur-Melodie in der Art der Tenores, wie wir sie in vielen Liedsätzen des 16. Jahrhunderts finden. Ihre Wiedereinführung wird keine Schwierigkeiten bereiten.

Quatember 1987, S. 170-172

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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