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Beichte zwischen Taufe und Abendmahl
von Jürgen Boeckh

Dem Kurator der Evangelischen Michaelsbruderschaft
im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland
Bischof Dr. Ulrich Wilckens zum 60. Geburtstag

Leer„Wir haben uns an allgemeine Schuldbekenntnisse in Bausch und Bogen gewöhnt. Sie fallen uns außerordentlich leicht; so leicht, daß es bereits zum guten Kirchenton gehört, wo nur immer eine christliche Versammlung zur Besprechung einer wichtigen Tagesfrage abgehalten wird, ein allgemeines Schuldbekenntnis vorauszuschicken. Eine seltsame und traurige Verwechslung! Statt dem einzelnen die Überlieferung und die Gelegenheit zu schaffen, sich zu bekennen und durch Aussprache innerlich zu befreien, tauscht man ein Formular ein. Jenes ist schwer, aber heilsam; dieses ist leicht, aber völlig gleichgültig, ja abstumpfend.”

LeerDiese Sätze stammen aus einem Vortrag, den Adolf Harnack, der Matador der liberalen Theologie, im Jahre 1891 vor dem Bund evangelischer Studierender in Berlin gehalten hat. Sein Thema lautete: „Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollten.” Unter den Dingen, „die wir lernen sollen”, führt Harnack - zu seiner Zeit durchaus überraschend - auch die Beichte an. Es versteht sich, daß er nicht die obligatorische Ohrenbeichte der römisch-katholischen Kirche für nachahmenswert hält. Aber er spricht sich, wie wir heute sagen würden, für die therapeutische Beichte aus. Wir haben, so sagt Harnack, über Kinder und Gefangene hinaus, die wir zum Bekennen von Fehlern und Sünden, zu Schuldbekenntnissen bewegen, „die Einsicht des Segens der Confessio verloren”. Und damit meint er, wie aus den eingangs angeführten Worten hervorgeht, nicht nur ein allgemeines Schuldbekenntnis.

LeerSeit dem Jahre 1891 ist im deutschen Protestantismus - auch in dieser Hinsicht - mancherlei geschehen. Es hat eine Wiederentdeckung der Beichte gegeben: Am deutlichsten in den geistlichen Gemeinschaften, von denen einige bald nach dem 1. Weltkrieg und mehr noch seit der Mitte des Jahrhunderts entstanden sind. Durch die Deutschen Evangelischen Kirchentage ist die Tatsache, daß es persönliche Beichte auch in evangelischen Kirchen gibt, vielen bekannt geworden. Immer wieder gibt es Menschen, die in erster Linie deswegen zu einem Kirchentag fahren, weil dort Beratung und Seelsorge bis hin zur persönlichen Beichte angeboten wird. Dies zeigt allerdings auch, daß der Aufbruch zur Beichte, der Ende der 50er Jahre Schlagzeilen machte, sich in der Breite der Gemeinden nicht fortgesetzt hat. Ja, es hat über den Protestantismus hinaus eine rückläufige Bewegung eingesetzt, die nicht nur die Einzelbeichte, sondern die Beichte überhaupt betrifft.

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LeerAlbrecht Peters († 1987) hat vor drei Jahren in unserer Zeitschrift (49. Jg./ 1985, S. 207) darauf hingewiesen, daß die Konvergenzerklärungen von Lima die „dritte sakramentale Stiftung Jesu Christi, das Schlüsselamt”, den „Auftrag vor Gott Schuld zu vergeben, aber notfalls auch zu behalten”, nicht thematisieren, auch nicht in der Erklärung zum Amt aufgreifen. Im Blick auf das in der Evangelischen Michaelsbruderschaft entstandene Formular zur Beichtfeier stellt Peters fest, .es sei „lange nicht so durchgebetet und durchgeformt wie die evangelische Messe”. Und er fährt fort: „Auch die Einzelbeichte wird wohl seit dem Einbruch der amerikanischen Seelsorgebewegung kaum noch praktiziert... Bei uns in der Heidelberger Universitätskirche ... gibt es seit über zwanzig Jahren keine Beichtfeiern mehr.”

LeerDiese Feststellung bezieht sich auf die Allgemeine Beichte mit Absolution, die - mit geringem zeitlichen Abstand - vor der Feier des Heiligen Mahles gehalten wurde. Die Allgemeine Beichte in evangelischen Gemeinden ist im Grunde eine Zusammenfassung von stillen Beichtbekenntnissen der einzelnen Christen. Meist wurde dabei und wird auch heute noch gelegentlich das Beichtgebet Martin Luthers gesprochen: „Allmächtiger Gott, barmherziger Vater! Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne Dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen habe mit Gedanken, Worten und Werken, womit ich Dich jemals erzürnet...” Es ist nicht zu bestreiten, daß viele evangelische Christen dies Bekenntnis mit großem Ernst nicht nur mitgesprochen, sondern auch innerlich mitvollzogen haben und dies, wo es üblich ist, auch heute noch tun. Nach wie vor gibt es Angehörige evangelischer Gemeinden, die ein solches Gebet, ja überhaupt die Allgemeine Beichte mit Absolution vor dem Heiligen Abendmahl vermissen, wenn sie nicht da ist; die sie als Vorbedingung für ihren Gang zum Tisch des Herrn ansehen. Man kann älteren Menschen das nicht „übelnehmen”, denn so haben sie es einmal gelernt.

LeerAndererseits birgt das lutherische „Allgemeine Beichtgebet” mit unterschiedsloser Absolution für alle Anwesenden Gefahren in sich. Die eine: Wenn ich mich mit allen anderen zusammen als „armer, elender sündiger Mensch” bekenne, alle meine Sünde und Missetat, die ich jemals begangen habe, bereue, so kann die häufige Wiederholung einer solchen Erklärung dazu führen, daß ich meine eigenen Fehler und Schwächen gerade nicht bedenke und mich damit beruhige, daß ich ein großer Sünder bin - wie alle anderen es auch sind. So geht das Bekenntnis leicht, wie Harnack schon festgestellt hat, über die Lippen und führt gerade nicht zur Erkenntnis der eigenen Schuld. Die andere Gefahr: Wird das „Allgemeine Beichtgebet”, das sich eigentlich für eine Generalbeichte am Ende des Lebens eignen würde, wirklich ernst genommen, dann kann man es nicht allzu häufig sprechen, nicht Sonntag für Sonntag.

LeerAus dieser Erkenntnis heraus hat sich ergeben, daß das Heilige Abendmahl, mit der Allgemeinen Beichte verkoppelt, im Protestantismus von den einzelnen so selten begehrt und in den Gemeinden nicht an jedem Sonntag gefeiert wurde, zumal es von vielen evangelischen Christen bis heute nur als ein Siegel auf die Sündenvergebung angesehen wird. Dazu hat allerdings auch Martin Luther beigetragen, der im 5. Hauptstück seines Kleinen Katechismus den Aspekt „Vergebung der Sünden” einseitig betont hat. Die Verkuppelung von Beichte und Absolution mit jeder Feier des Heiligen Abendmahles hat schon im 17./18. Jahrhundert dazu geführt, daß der Liturg in der von ihm geleiteten Feier nicht kommunizierte, wenn er vorher keine Absolution von einem Amtsbruder erhalten konnte (oder wollte).

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LeerSo sind - ein Novum gegenüber der katholischen und gegenüber den orthodoxen Kirchen - die Abendmahlsfeiern ohne Kommunion des Liturgen im Luthertum zur Regel geworden. Die Verkuppelung von Beichte und Abendmahl hat die Bedeutung beider Handlungen eingeengt und ihre praktische Ausübung stark eingeschränkt.

LeerIm „Berneuchener Buch” vom Jahre 1926 war bereits zu lesen: Die Beichte der Gemeinde soll „aus der traurigen Verkümmerung gerettet werden, in die sie als bloße Vorbereitung für die Feier des Heiligen Abendmahls geraten ist; sie kann und soll das starke Bekenntnis zu der Gnade sein, die die Gemeinde sündiger Menschen immer wieder zur Gotteskindschaft und zum Dienst an dem kommenden Reich beruft.” Im Berneuchener Kreis wurde schon damals zur „heimlichen Beicht”, wie Martin Luther sie genannt hatte, ermuntert, und es wurde gleichzeitig eine Beichte der Gemeinschaft praktiziert. Die Michaelsbrüder halten am ersten Abend ihres dreitägigen Michaelsfestes, am Ende des Tages der Rechenschaft, eine Beichtfeier, in der die 10 Gebote verlesen werden, eine Beichtansprache gehalten wird, die versammelten Brüder als Gemeinschaft ihre Schuld bekennen und, zu mehreren vortretend an den Altar, unter Handauflegung die Absolution erhalten. Auch in diesem Jahr 1988 wird das so sein bei unserem „Gesamtmichaelsfest” in Hannover.

LeerBereits im Jahre 1926 wurde vom Berneuchener Kreis eine „Ordnung der Beichte” herausgegeben, die sowohl „Die Beichte des einzelnen Christen” als auch „Die Beichte der Gemeinde” enthält. Zu dieser wird in der ausführlichen Erklärung der 2. Auflage gesagt: „Nicht mehr die einzelnen nach der Besonderung ihres persönlichen Lebens stehen vor Gott, sondern die Gemeinde als die Gemeinde sündiger Menschen erneuert sich aus der Gewißheit der Vergebung. Daß die christliche Gemeinde eine Gemeinde der Sünder ist, hat freilich nicht nur den Sinn, daß wir alle in gleiche Sündennot verstrickt sind, sondern bedeutet vor allem, daß wir aneinander schuldig geworden sind, daß wir es haben fehlen lassen an der Liebe, die wir einander hätten erzeigen sollen...”

LeerAn die Stelle der „Allgemeinen Beichte” mit Absolution haben die Berneuchener als Vorbereitung zur „Feier des Herrenmahles” (auch schon 1926) ein wechselseitiges Sündenbekenntnis zwischen Liturg und Gemeinde gesetzt, das zurückgeht auf das Confiteor der römischen Messe. In der frühen Form beginnt der Pfarrer mit folgenden Worten: „Lasset uns vor Gott unsere Sünden bekennen und füreinander beten: Ich bekenne vor Gott, / daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken. / Ich bekenne den Mangel an Treue im heiligen Dienst, / den Mangel an Zucht und Gehorsam, / den Mangel an Liebe. Ich bitte euch: / Betet für mich zu dem Herrn, unserem Gott.” In der „Eucharistischen Feier”, die Karl Bernhard Ritter 1961 in Verbindung mit der Evangelischen Michaelsbruderschaft herausgegeben hat, heißt es: „Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen / vor der ganzen heiligen Kirche / und vor euch, / daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken. Ich bekenne meine Schuld, / meine Schuld, / meine große Schuld. Darum bitte ich euch, / betet für mich zu Gott, unserem Herrn.”

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LeerDiese und ähnliche Formulierungen des Confiteor sind auch - als Angebot - in die evangelischen Gottesdienstordnungen eingegangen, die nach dem 2. Weltkrieg erschienen sind. Die Formulierung „meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld” ist aus der römischen Messe übernommen worden. Wir finden sie heute als eine Möglichkeit in der katholischen „Feier der Gemeindemesse”. Das „Allgemeine Schuldbekenntnis” kann dort unter bestimmten Voraussetzungen allerdings auch ganz wegfallen. Es ist übrigens aus dem Stundengebet übernommen, erst allmählich zu einem festen Bestandteil der abendländischen Messe geworden. (Vielen evangelischen Christen ist nicht bekannt, daß es in der römisch-katholischen Kirche niemals eine grundsätzliche Verkuppelung von Beichte und Messe gegeben hat. Beichtpflicht bestand und besteht einmal im Jahr, darüberhinaus - nach Gewissenserforschung des einzelnen - vor der Kommunion nur, wenn jemand eine „schwere Sünde” begangen hat.)

LeerDas katholische Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland sieht in der „Ordnung der Heiligen Eucharistie” selbst keinen Bußakt vor, dafür kennt es neuerdings die „Feier der Versöhnung” als „gemeinsame Feier des Sakraments der Buße”. Diese „ist nicht nur ein Teilstück des Eröffnungsritus der Eucharistiefeier, sondern ein eigenständiges sakramentales Geschehen. Deshalb braucht auch nicht jede Eucharistiefeier mit dem Bußakt zu beginnen. Das Bußsakrament kann auch außerhalb der Eucharistie empfangen werden.” (Lobt Gott ihr Christen / Gesangbuch des katholischen Bistums der Alt-Katholiken für Christen heute, 1986) - Auch die römisch-katholische Kirche kennt heute besondere Bußgottesdienste neben der Eucharistiefeier und dem Wortgottesdienst auf der einen und dem Sakrament der Buße mit der Einzelbeichte auf der anderen Seite. Im Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob” sind zwei Formen für solche Gottesdienste zu finden (Nr. 55-57).

LeerWir sehen: Gegenüber der Verkümmerung und dem Verschwinden der Einzelbeichte auf (lutherisch-)evangelischer und der Formalisierung der obligatorischen Ohrenbeichte auf katholischer Seite hat hier und dort eine Neu-Besinnung und Neu-Ordnung stattgefunden. Dies hat aber nicht verhindern können, daß Beichte und Buße, in welcher Form auch immer, zurückgegangen sind. Albrecht Peters, den wir oben bereits zitierten, schrieb als Michaelsbruder: „Hierin schwimmen wir fraglos mit im allgemeinen Trend, der trotz der Erneuerung der Bußordnung (1973) sich auch in der römisch-katholischen Kirche verheerend auswirkt.” (a. a. O. S. 208) Dahinter steht sicher nicht nur das Unbehagen an Formen kirchlicher Beicht- und Bußpraxis, sondern auch die Tatsache, daß Sünde und Schuld für viele Menschen, viele Christen, heute Reizworte sind, auf die man allergisch reagiert.

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LeerHans Christof Hahn beginnt eine Studie über „Schuld in theologischer und tiefenpsychologischer Sicht” (Berliner Hefte für evangelische Krankenseel sorge, 32) mit der folgenden Feststellung: „Schuld gehört wie das Sterbenmüssen und die Angst zum Wesen des Menschen dazu. Mit Recht kann man sie als ein ,Existential unseres Daseins' bezeichnen. In allen Beziehungen zwischen Menschen spielen wirkliche Schuld, aber auch unangemessenes Schuldbewußtsein und neurotische Schuldgefühle ihre Rolle.”

LeerVon neurotischen Schuldgefühlen soll hier nicht die Rede sein. Aber es muß in unserem Zusammenhang festgestellt werden, daß durch Pfarrer, Erzieher und nicht zuletzt durch Mütter und Väter Kindern und heranwachsenden Menschen tatsächlich oft ein „unangemessenes Schuldbewußtsein” eingeimpft wurde - und hier und da auch heute noch wird.

LeerWer eine solche Erziehung genossen und in ihrer Fragwürdigkeit erkannt hat, der reagiert leicht allergisch auf Formeln wie „meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld”. Aber begegnen wir nicht heute viel mehr der entgegengesetzten Fehlhaltung? Ich erinnere mich an eine Gruppe von etwa 15 Konfirmanden, in der niemand wahrhaben wollte, daß Schuld auch da vorliegen kann, wo man bei einer Unrechtstat nicht ertappt wird und folglich keine Strafe zu erwarten hat. Die Kinder hatten es von ihren Eltern nicht anders gelernt. Die „Kommiß-Moral” - Du kannst alles machen, aber laß Dich nicht dabei erwischen! - hat sich in den letzten Jahrzehnten seuchenartig auch im normalen Alltag der Menschen durchgesetzt.

LeerMangelndes Unrechtsbewußtsein und damit fehlende Schulderkenntnis sind in unserem Jahrhundert auch gefördert worden durch Parolen wie „Recht ist, was dem Volke nützt” oder „Die Partei hat immer recht”. Wenn ein Volk oder eine Partei zum Maßstab für Recht und Unrecht erklärt werden, warum soll dann nicht auch eine kleine Gruppe oder ein einzelner Mensch für sich in Anspruch nehmen, zu entscheiden, was Recht oder Unrecht, gut oder böse ist? Aber ist nicht, über dies alles noch hinaus, auch eingetroffen, was Fjodor M. Dostojewskij seinen „Großinquisitor” im Gefängnis zu dem zurückgekehrten Jesus hat sagen lassen: „Weißt DU, daß die Menschheit nach Jahrhunderten durch den Mund ihrer Weltweisheit und Wissenschaft verkünden wird, daß es keine Verbrechen gibt und offenbar auch keine Sünde, daß es nur Hungrige gibt?” Vielfach wird heute von „Schuldgefühlen” anstatt von Schuld gesprochen. Gewiß, wenn es ein unangemessenes Schuldbewußtsein gibt, dann gibt es auch falsche Schuldgefühle. Aber nicht jedes Schuldgefühl beruht auf eingebildeter Schuld oder auf eingeredetem Schuldgefühl - wenn es denn überhaupt einen letzten Maßstab für Gut und Böse gibt und damit auch Schuld und Sünde, Sühne und Vergebung.

LeerEs scheint ein Widerspruch zu sein zu dem, was ich zuvor von den Konfirmanden berichtet habe, wenn über Jahre hinweg immer wieder von den meisten Jugendlichen auf die Frage „Welches ist für Dich die wichtigste Bitte im Vaterunser?” die vierte oder die fünfte Bitte an erster Stelle genannt wurden. Auch diejenigen, so ersieht man daraus, die keine Gewissenserziehung im christlichen Sinne (von der attritio zur contritio cordis, von der Furcht vor Strafe zur Liebe zu Gott) erfahren haben, kommen eben doch schließlich meist zu der Erkenntnis, daß es wirkliche Schuld gibt.

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LeerIn einem merkwürdigen Gegensatz zu den Hemmungen vieler Dienerinnen und Diener des Wortes, von Sünde und Schuld zu sprechen, im Gegensatz auch zum Abstandnehmen von persönlicher Beichte und gemeinsamen Bußgottesdiensten steht die Tatsache, daß, zumindest im deutschen protestantischen Kirchentum, sofern es sich auf Synoden artikuliert und über die Medien in einer weiteren Öffentlichkeit vernehmen läßt, viel von Schuld und Sühne, Vergebung und Versöhnung die Rede ist - aber bezogen auf den politischen Raum!

LeerGeradezu verblüffend ist die Feststellung von Harnack, die hier zu Beginn angeführt wurde. Ähnlich ist es also auch vor 100 Jahren schon im deutschen Protestantismus gewesen (wenn auch offen bleibt, worauf sich diese „allgemeinen Schuldbekenntnisse” beziehen). Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß sowohl in katholischer Moraltheologie als auch in evangelischer Ethik viel zu einseitig auf das rechte Verhalten des einzelnen, vielleicht noch in Familie und Beruf, aber nicht auf sein Handeln in der Gesellschaft eingegangen wurde. Diese Selbstkritik ist verständlich und richtig. Aber auch das andere ist zu bedenken: Wer in seinem politischen und sozialen Handeln, um nur ein Beispiel zu nennen, Heuchelei und Verleumdung walten läßt, der hat doch wohl auch vorher nicht begriffen, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit bedeuten. Heuchelei und Verleumdung sind die zwei Seiten einer Medaille, Erscheinungsformen der Lüge. Wenn sie im politischen Raum, wo sie sehr oft Haß und Gewalt nach sich zieht, gelegentlich aufgedeckt wird, ist die Empörung groß. Aber dazu kann es nur kommen, weil die Lüge auch im kleinen normalen Alltag unzähliger Menschen angesiedelt ist.

LeerIn seiner Trauerrede für Uwe Barschel hat Bischof Dr. Ulrich Wilckens gesagt: „Solange einer mit dem Finger auf andere zeigt, ohne ihn mit der alten Geste der Buße zuvor auf das eigene Herz zu richten; und solange darum einer fürchten muß, im Urteil der anderen schlicht erledigt zu sein, wenn er auch nur einen Fehler zugibt, werden wir ein Volk von Rechthabern sein und aus der schlimmen Lage, daß ein Fehler den anderen nach sich zieht, nicht herauskommen.” Die „alte Geste” ist das dreimalige Schlagen an die eigene Brust bei den Worten des Confiteor „meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld”. Es war früher im römischen Ordo missae für Priester und Gläubige vorgesehen, ebenso in der „Eucharistischen Feier” von Karl Bernhard Ritter. Heute fehlt diese Rubrik in der katholischen Feier der Gemeindemesse. Eine Frage an uns: Kann nicht eine solche Geste mit den dazugehörigen Worten zur Einübung dienen in die täglich zu wiederholende Aufgabe, nicht zuerst anderen Schuld zuzuweisen, sondern in der Stille vor Gott nach der eigenen Schuld zu fragen?

LeerDie Ent-Schuldigung der Eva („Die Schlange betrog mich also ...”) und des Adam („Das Weib, das Du mir zugesellt hast...”) liegt uns allen im Blut. Unsere Natur, die Umwelt, der andere, die andere, die anderen sind schuld - und schließlich der Schöpfer selbst! Zu Recht ist der Widerstand gegen ein Unrechtssystem, in dem „Sünde” zu einem jüdischen, abzulehnenden Begriff erklärt wurde, als „Aufstand des Gewissens” bezeichnet worden. Die Frauen und Männer, die damals auf verschiedene Weise „widerstanden”, hatten gelernt, Recht und Unrecht zu unterscheiden, und sie wußten auch, daß Erfolg oder Mißerfolg keine moralischen Kriterien sind. Sie haben - wenn auch mit anderen zusammen - als einzelne gehandelt.

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LeerSehen wir von einer Kommunität oder einer anderen geistlichen Gemeinschaft oder auch einer im Lebensvollzug - z. B. freikirchlichen - vereinten Gemeinde ab, so ist es fragwürdig für eine Kirche, die sehr verschiedenartige Mitglieder hat, stellvertretend allgemeine Schuldbekenntnisse abzugeben. Paul Tillich hat in seiner Systematischen Theologie (II, 67 f.) gezeigt, daß „zwischen der Schuld einer Person und der einer sozialen Gruppe ein fundamentaler Unterschied besteht. Im Gegensatz zum ‚zentrierten’ Individium, das wir ‚Person’ nennen, hat die soziale Gruppe kein natürliches, entscheidendes Zentrum ... Eine soziale Gruppe als solche ist nicht enfremdet und als solche nicht versöhnt. Es gibt keine Kollektivschuld. Es gibt wohl das universale Schicksal der Menschheit, das in einer besonderen Gruppe zum besonderen Schicksal wird ...”

LeerDamit bestätigt Tillich, was viele Menschen besonders in Deutschland und Österreich, die mit Schuld und Schicksal aufgrund der Geschehnisse in der Vergangenheit immer wieder konfrontiert werden, empfinden: Durch kein allgemeines Schuldbekenntnis einer Synode kann den einzelnen abgenommen werden, was sie an Schuld oder Mitschuld vor Gott zu bringen haben - sei es allein in der Stille, sei es in einer persönlichen Beichte. Aber auch: Wer im Blick auf seine persönliche oder seine politische Vergangenheit einsichtig geworden ist, seine Schuld oder Mitschuld bekannt hat, der Vergebung Gottes - sei es mit oder ohne „Beichtvater” - gewiß geworden ist, dem ist vergeben, und er braucht sich in keine weiteren allgemeinen Schuldbekenntnisse hineinnehmen zu lassen.

LeerTillich spricht in verschiedener Hinsicht von „Entfremdung”. Er sieht sie z. B. enthalten in der Erzählung von der Austreibung aus dem Paradies, von der tödlichen Entzweiung zwischen Bruder und Bruder, von der Entfremdung einer Nation von der anderen durch die Sprachenverwirrung. Aber trotzdem, meint er, „darf das Wort ‚Sünde’ nicht aufgegeben werden, denn es drückt etwas aus, was in dem Wort ‚Entfremdung’ nicht enthalten ist. Das Wort Sünde enthält das persönlich-aktive Sichwegwenden von dem, wozu man gehört. Es bringt den persönlichen Entscheidungscharakter der Entfremdung zum Ausdruck. Es betont die persönliche Freiheit und Schuld im Gegensatz zur tragischen Schuld und dem universalen Schicksal der Entfremdung. Das Wort Sünde kann und muß ‚gerettet’ werden, nicht nur, weil es in der klassischen Literatur und in der Liturgie beständig vorkommt, sondern vielmehr, weil es in aller Schärfe auf das Element der persönlichen Verantwortung im Phänomen der Entfremdung hinweist.”

LeerDies entspricht unserer Auffassung, daß (mit Ausnahme einer Gemeinde-Beichte, in der konkrete Sünde der versammelten Gemeinschaft zur Sprache kommt) Beichte und Absolution Sache des einzelnen Christen, der einzelnen Christin sind. Insofern ist die Beichte mehr bei der Taufe anzusiedeln als beim Heiligen Mahl, der Eucharistie. Denn getauft, in Tod und Auferstehung Jesu Christi hineingenommen, werden wir stets als einzelne, auch wenn mehrere oder viele nacheinander getauft werden. Für die frühe Christenheit war es ein Problem, wie und warum getaufte Christen noch sündigen konnten. Das hat oft zum Taufaufschub geführt.

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LeerManche meinen, daß die Worte Jesu „Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten” sich ursprünglich auf die Taufe beziehen. Wir kennen sie als „Einsetzungsworte” für das Buß-Sakrament. Im Katechismus-Stück vom Amt der Schlüssel und von der Beichte, das auf Martin Luther zurückgeht, werden sie zitiert. Beichte und Absolution machen uns immer wieder zu - aus der Taufe - „neugeborenen Kindern” (quasi modo geniti, 1. Petrus 2,2).

LeerSo fragwürdig eine absolute Verkuppelung von Beichte und Abendmahl ist, so sehr kann dennoch die Beichte einen Bezug zur Eucharistie haben. Im Bußteil zu Beginn des Gottesdienstes, auf den wir schon hingewiesen haben, „steckt ein besonders zentraler Aspekt des Taufgedächtnisses; nur wird er erstaunlicher Weise oder, wenn man will, bezeichnenderweise überhaupt nicht wahrgenommen. Die Beziehung zur Taufe ist hier völlig verdeckt und vergessen.” (Frieder Schulz, Das Taufgedächtnis in den Kirchen der Reformation, Quatember, 50. Jg. / 1986, S. 147)

LeerWir haben festgestellt, daß eine grundsätzliche Verkuppelung von Beichte und Abendmahl zur Entwertung jeder dieser Handlungen führt, daß auch ein Bußakt allgemeiner Art nicht vor jeder Eucharistiefeier sein muß. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß, wer zur Kommunion gehen will, bedenkt, ob er in rechter Weise dazu disponiert ist. Hans Mayr hat im vorletzten Heft unserer Zeitschrift (S. 5-10) gezeigt, wie ernst orthodoxe Christen die Beichte vor der Kommunion nehmen - ohne daß dadurch der Freudencharakter der Liturgie, der eucharistischen Feier, gemindert wird! Auch wenn für evangelische und katholische Christen eine Beichte mit Absolution nicht vor jeder Kommunion sein muß, sollten wir - als einzelne - bedenken, wann und wo eine Beichte angemessen ist und wir den Zuspruch der Vergebung erbitten sollten.

LeerBis heute ist in vielen evangelischen Gemeinden die Allgemeine Beichte üblich. Es ist nicht gut, wenn sie ersatzlos gestrichen wird. Wenn sie in kurzem zeitlichen Abstand vor der Feier des Heiligen Mahles gehalten wird, kann jeder, der will, daran teilnehmen, aber niemand ist genötigt sich ihr auszusetzen. Die Vorstellung allerdings, daß ein Christ aufgrund von Beichte und Absolution - sei es nun eine Einzel- oder eine Gemeindebeichte - „sündlos” zum Altar treten könne oder solle, verträgt sich nicht mit unserem Christ-Sein auf dieser Erde. Wir sind immer „Sünder und Gerechte zugleich”. Es kann auch sein, daß die Begegnung mit Jesus Christus im Wort, in der Gemeinschaft der Glaubenden, im Heiligen Mahl uns neu zur Selbsterkenntnis anleitet und zum Bekenntnis unserer Schuld ermutigt und uns bitten läßt um den Zuspruch der Vergebung im Namen Jesu Christi Damit dies geschehen kann, muß wohl erkennbar sein, daß die Feier der Eucharistie mehr ist als eine Agape, nicht nur Bruder- und Schwester-Mahl, sondern MAHL DES HERRN.

Quatember 1988, S. 131-140

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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