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Frömmigkeit im Arbeitsalltag
von Isolde Böhm

I. Eine Art Quintessenz

LeerVon Arbeit und Glauben unter eigenem Namen zu reden, fällt mir schwer. Meine Erfahrungen aus der Arbeitswelt ähneln oft dem, was in der Frauenbewegung, der Schwarzen Theologie, den Basisgemeinden geradeso gesagt und gesungen wird. Auf der anderen Seite gehört es zu meinen Erfahrungen in der Arbeitswelt, und die sind gar nicht etwas Besonderes, mehr und mehr das Ausmaß verschwiegenen Alleingelassenseins und nie geäußerter Enttäuschung zu ahnen, von Christen, die sehr wohl ‚Bibel und Arbeitswelt’ zusammenhalten wollten, aber ihre Fragen und Freuden nirgendwo in Theologie und Kirche, nirgendwo in Auslegung und Seelsorge wiederfinden konnten.

LeerGanz durch Zufall ist vor fünf Jahren eine Frau, die ich als eine Kundin aus der Arbeit kannte, in den Ostergottesdienst unserer Gemeinde geraten. An ihrer Reaktion merkte ich, wie sie völlig verunsichert war. Im Laden floh sie dann fast panikartig, als sie mich hinter der Theke sah. Es war deutlich, daß sie eher sich selbst für verrückt als mich für die gleiche Person halten würde. Als ich sie dann doch einmal ansprechen konnte, erklärte sie mir, sie hätte gedacht, ich hätte eine Zwillingsschwester. Das ist nur ein Beispiel für die völlig verinnerlichte, völlig fraglose Berührungslosigkeit von Kirche, Bibel, amtlicher Auslegung, ja von christlich gestaltetem Glauben und dem faktischen, dem eigenen Alltag.

LeerIch will damit sagen: Den Auftrag, Erfahrung zu berichten, und dabei ‚ich’ zu sagen, den empfange ich von denen, mit denen ich jetzt zusammen arbeite, von den ‚Leuten’; und den Mut dafür von Kirchen-Leuten, die auf dem gleichen Wege sind. Die gibt's zum Glück!

II. Meine Arbeitswelt

LeerDie Arbeitswelt, in der ich zu Hause bin, ist der Lebensmitteleinzelhandel. Ich bin Verkäuferin in einem umsatz- und flächenmäßig sehr großen Supermarkt einer Berliner Filialkette. Für 35 Stunden in der Woche ist mein Arbeitsplatz dort zusammen mit zwei anderen Kolleginnen am Kühlregal, bei der sogenannten Frischware.

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LeerArbeit im Lebensmittelbereich bedeutet:
- Körperlich harte Arbeit: In unserer Abteilung werden jeden Tag etwa 3000 bis 4000 kg Ware ‚verarbeitet’, d. h. soviel Ware kommt an und wird in einzelnen, unterschiedlich schweren Einheiten abgepackt, sortiert, wieder gestapelt, im Kühlkeller verstaut, wieder hochgeholt, ins Regal gestellt. An einem Samstagmorgen sind es oft 800-900 kg allein an Milch. Dazu die ständige Kälte der Kühlanlagen, der Windzug vom Eingang her - und vor allem die Hektik. Die Arbeit im Einzelhandel ist längst zum Akkord ohne Akkord geworden. Seit Jahren geht der Streit um die Berechnung des Personaleinsatzes: nach Umsatzfläche oder Umsatzhöhe. Weil da keine Einigung erzielt wird, geht die Zange der Personaleinsparung weiter zu.

- Miese Bezahlung und miese Bedingungen: Zwar wird immer betont, daß wir ja Angestellte und nicht Arbeiter seien, also es viel besser hätten. Aber so viel kann da nicht dran sein, denn es zieht erstaunlich viele Verkäuferinnen, nach der Ausbildung in die Fabrik zu gehen. Dort sind die Löhne höher (der Einzelhandel steht unter den Schlußlichtern der vom DGB aufgestellten Lohnskala, das Endgehalt einer Verkäuferin liegt - nach acht Berufsjahren - bei 2150,- DM brutto); die Arbeitszeiten sind besser (keine Samstagsarbeit und keine zwischen den Feiertagen, weniger flexible Einsatzzeiten und nicht die zunehmend gezerrten Pausenzeiten, oft zwei Stunden am Tag - und das bei Familienmüttern mit bis zu einer Stunde Anfahrtsweg!); der Arbeitsplatz ist konstanter (bei uns gehört die Einwilligung in eine jederzeit mögliche Versetzung mit zum Arbeitsvertrag, und das wird als Strafe oder Maßregelung oder auch ‚einfach so’ von der Firmenseite reichlich ausgenutzt); der Kontakt und Zusammenhalt unter Kolleginnen/Kollegen ist eher möglich (durch den gemeinsamen, gleichzeitigen Beginn und gemeinsame Pausen, durch räumliche Nähe während des Arbeitens).

- Große psychische Belastung: der konstante Lärm und die nie abreißende Unruhe im Laden (es bewegen sich oft bis zu 350 Leute im Laden, also um uns herum). Dies ist eine unterschwellige und sehr diffuse Unruhe, die bewußt kaum geortet werden kann und die uns auf eigenartige Weise zugleich anspannt und auslaugt. Dazu die Beanspruchung von allen Seiten, das ständige Präsentsein, das Angerempeltwerden und das Slalomlaufen beim Einräumen.

- Die zugespitzte Situation aller spezifischen Frauenarbeit: typische Degradierung (in der Anrede per Du, ‚Kind’, ‚Mädchen’, Männer werden natürlich gesiezt) und Objektsein (Anspielungen und Witze), Ausnutzen spezifischer Frauensozialisation (Unterdruckgesetztwerden durch Appelle an ‚menschliche’ Gefühle).

LeerDiese vier Erfahrungen gibt es in vielen anderen Bereichen manueller Frauenarbeit. Was - für mich - aber als zusätzlicher und belastender Punkt dazu kommt, ist die im Verkauf ständig gegenwärtige, sich allen Sinnen aufdrängende Spannung zwischen Ideologie und Wirklichkeit, zwischen Konsum und Ausbeutung, zwischen künstlichem Glanz und weggeworfenen, verdorbenen Lebensmitteln, zwischen Verführung und Betrogenwerden -zwischen dem Höchstwert der Ware, d. h. des Geldes, und dem Nichtswert des Menschen.

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III. Arbeit von unten gesehen

LeerJeder einzelne unserer Arbeitstage stellt wie wohl wenig anderes so drängend und brennend die Frage nach dem Menschsein, nach dem, was wir als Menschen wert und würdig sind. Ich weiß nicht, wie oft mir beim Arbeiten das in den Sinn kommt: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschenkind, daß du dich seiner annimmst?” (Ps 8,5) - So ein Wort wird, wenn man nicht mehr kann, entweder zum Spottlied oder zum letzten Rettungsanker. Und es ist bestimmt kein Zufall, daß mir trotz allen Hantierens mit Bibeltexten im Studium nicht aufgefallen war, daß diese Frage wortwörtlich gleich in zwei verschiedenen Psalmen gestellt wird und zweimal völlig verschieden beantwortet, ja gegensätzlich beantwortet wird:

Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. (Ps 8,6)
Ist doch der Mensch gleichwie nichts,
seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten. (Ps 144,4)

LeerWas ist der Mensch? Nein, nicht in der dritten Person, sondern in der ersten: Was bin ich, als Mensch! Was sind wir, als Menschen, wir, die wir in einem Boot sitzen - das steckt als Frage hinter den meisten Aussprüchen und Gesprächen ‚auf Arbeit’, und es ist eine quälende Frage, eine, die Angst vor der Antwort hat und doch ahnt, wie die Antwort lauten wird.

LeerAn dieser Frage habe ich auch begonnen zu entdecken, daß natürlich die Bibel als Buch, als relevantes Wissen oder lebendige Erinnerung, bei uns während der Arbeit nicht vorkommt, daß mir aber unendlich viel an biblischen Bildern und an biblischer Erfahrung entgegenkommt.

Leer„... Da denkste doch wirklich, du bist kein Mensch mehr!” - „Ich aber bin ein Wurm, und kein Mensch ...” (Ps 22,7)

Leer„Wenn du erst mal krank bist oder alt, dann fliegste raus wie ein Stück Abfall!” - „Ich fahre dahin wie ein Schatten, der schwindet, und werde abgeschüttelt wie Heuschrecken.” (Ps 109,23)

Leer„Ich kann nicht mehr, ich komme mir vor wie ein Luftballon ohne Luft ...” - „... wie Wasser bin ich ausgeschüttet, es lösen sich all meine Glieder ...” (Ps 22,15).

LeerIch denke an Kassiererinnen, wenn abends die Kasse nicht stimmt, um größere Beträge, 20- oder 50,- Mark zu viel oder zu wenig. Großer Streit, heftige Vorwürfe, lautstarke Drohungen, und, was die Kolleginnen dann oft am wenigsten losläßt, die Frage: Wie ist das passiert? Wo habe ich bloß den Fehler gemacht? Oft kommen sie dann am nächsten Tag an, bleich und gerädert, aber eben mit der ‚Lösung’: Jetzt weiß ich es, bei dem und dem habe ich . . . das war um die- und die Zeit . . . Einerseits erleichtert und andererseits voller Angst vor dem Ich bin völlig fertig, konnte überhaupt nicht schlafen, wie soll das heute nur gutgehen? - „Ich bin so müde geworden vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit Tränen mein Lager. Mein Auge ist trübe geworden vor Gram und matt, weil meine Bedränger so viele sind.” (Ps 6,7 u. 8)

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IV. Klagepsalmen

»Psalmen werden gesungen, gesagt, gestöhnt, von anderen, von mir, in kurzen Sätzen oder in langen bitteren Litaneien, oft (wie das in der alttestamentlichen Exegese so schön heißt), als ‚Klagelied des einzelnen’, oft aber auch als ein ganz selbstverständliches ‚Klagelied des Volkes’, als ein Klagelied des Wir; wir in dieser Maloche, wir, die Kleinen, wir, die halt nichts anderes können oder finden ...

LeerUnd das Seltsame ist, daß genau die beiden alten biblischen Gründe auch heute hinter der Klage stehen. Im Psalter heißen die Überschriften „Gebet in Krankheit” oder „Klage über boshafte Feinde”, manchmal hinzugefügt: „und über einen treulosen Freund” (Ps 55). Im Rückblick aufs Studium weiß ich, wie sehr mir diese beiden, ja wohl häufigsten ‚Sitze im Leben’ von Klagepsalmen, halbbewußt und halbdurchdacht, als Sondersituationen vorkamen, ein bißchen wie kleine Seitenarme im großen Lebensstrom.

LeerHeute habe ich verstanden, wie wenig mit ‚Krankheit’ etwas Biologisches und mit ‚Feinden’ ein militärisches, außenpolitisches Phänomen gemeint ist; für die, mit denen ich zusammen bin, erfahre ich ‚Krankheit und Feinde’ sehr wohl mitten im individuellen und sozialen Leben.

LeerDa ist die Auseinandersetzung mit körperlicher Erschöpfung, die Klage darüber, daß mir meine körperlichen, meine seelischen Kräfte, meine Lebens-Kraft weggenommen, gestohlen werden; es ist die Not, mit diesem Raub zurechtkommen zu müssen. (Sprache und Bilder zeigen, wie nahe solches Erleben dem von ‚wirklicher’ Krankheit kommt.)

LeerIm Juni 1936 schreibt Simone Weil: „Die Müdigkeit. Bedrückend, bitter, bisweilen so schmerzhaft, daß man den Tod herbeiwünscht. Jeder Mensch, in welcher Lage auch immer, weiß, was es heißt, ermüdet zu sein; aber für diese Müdigkeit hier bedürfte es eines besonderen Namens. Kräftige Männer, im besten Alter, schlafen ermattet auf der Metro-Bank ein - nicht nach ungewöhnlicher Anstrengung, sondern nach einem normalen Arbeitstag, einem Tag, wie es ihn morgen, übermorgen, wie es ihn immer geben wird. Steigt man nach Arbeitsschluß in die Metro hinunter, so ist das Denken von einer einzigen Sorge beherrscht: Werde ich einen Sitzplatz /finden? Unerträglich wäre es, stehen zu müssen. ... Und dies ist die schlimmste Angst: zu fühlen, daß man seine Lebenskraft verzehrt und altert, daß man bald nichts mehr leisten kann.” (S. Weil, Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt 1978, 182f.).

LeerManchmal - in der Berliner U-Bahn, etwa an einem Samstag früh, begegnen sich solche müden Gestalten: Fabrikarbeiter, die von der Freitagnachtschicht kommen, und Verkäuferinnen, die als Vorbilder für alle Arbeitgeberwünsche nach flexibler Arbeitszeit zum sechsten Mal in dieser Woche zur Arbeit fahren ... Da ist aber auch das andere, die Auseinandersetzung mit feindlichem Unrecht; die Klage über die alles durchsetzende, übermächtige Ungerechtigkeit und die Not, damit zurechtkommen zu müssen - damit und, was den treulosen Freund betrifft, mit verletzter Solidarität.

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V. Rachepsalmen

LeerAus solcher Not heraus kann ein Klagepsalm entstehen oder auch ein - Rachepsalm. In den letzten Jahren bin ich unsicher, nachdenklich geworden, was das ‚Heulen und Zähneklappern’ betrifft und das ‚Hinauswerfen in die Finsternis’, auch die kompromißlose, alle hinwegfegende Sprache der Rachepsalmen. .. „Sprecht ihr in Wahrheit Recht, ihr Mächtigen? Richtet ihr in Gerechtigkeit die Menschenkinder? Nein, mutwillig tut ihr Unrecht im Lande, und eure Hände treiben Frevel” (Ps 58,2f.) und: „Gott zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, Herr, das Gebiß der jungen Löwen.” (V. 7).

LeerWurden solche Gebete immer schon - bürgerlich fein - ausgelassen und gemieden? Waren damit nie, auch nicht als sie entstanden, konkrete geschichtliche Erfahrungen beim Namen genannt und ganz konkrete Menschen gemeint, gegen die sich ein ohnmächtiger, verzweifelter, sich aber vor Gott im Recht und am Platz wissender Zorn richtet?

LeerEtwa folgende konkrete, geschichtliche Erfahrungen: „Wenn Lambsdorff 2 Mio. klaut, kriegt er noch zwei hinterher, wenn unsereins im Obstkeller erwischt wird, fliegen wir hochkantig raus!” Oder: Freundlich, sanft wird man oder frau gefragt, Überstunden zu machen (natürlich zu normalem Stundenlohn), wird überredet, gegen alle Arbeits- und Unfallschutzgesetze bis zu 13 Stunden in der Filiale zu sein, es ist doch das Weihnachtsgeschäft, das gesichert werden muß, die Inventur, die nach Ladenschluß noch abgewickelt wird ... Würde aber ein Unfall passieren oder wirklich mal ein Amt zur Kontrolle in die noch abends hell erleuchtete Filiale kommen, würden wir fallengelassen wie heiße Kartoffeln. - „Ihr Mund ist glatter als Butter, und haben doch Krieg im Sinn; ihre Worte sind linder als Öl und sind doch gezückte Schwerter.” (Ps 55,22).

VI. Das Du in den Psalmen

LeerWas mir immer wichtiger wird, ist das Du in den Psalmen, in der Bibel; ebenso das geschichtlich faßbare Wir.

LeerIch ahne manchmal, daß es mir leichter fällt als manchen meiner Kolleginnen und Kollegen (vor allem der Deutschen unter ihnen), in Klage und Rache lebendig zu bleiben, d. h. nicht zu resignieren, nicht bitter oder eben wie eine Schallplatte mit Sprung zu werden. Es ist, als reiche es nicht zum Heilbleiben aus, wenn Leid nur festgestellt wird, wenn man es allenfalls wiederfindet in Meldungen oder Erhebungen über Frührente oder Arbeitsunfälle oder Erwerbslosigkeit. Leid muß man loswerden, aber es darf nicht vergessen sein. Und weil man es einfach loswerden muß, wird es hinausgeschrien, irgendwohin, ,in die Luft, hängt dann da so wie ein Damoklesschwert und fällt bei einer neuen Erfahrung mit Wucht wieder herunter.

LeerEs ist, als mache es einen Unterschied, ob ich die Demütigungen und Schikanen meiner Vorarbeiterin mir und anderen erzähle, wiederhole, rezitiere, von allen Seiten beleuchte und bedenke, aufwärme und erinnere, oder ob ich ein Du ins Spiel bringe, und sei es noch so weit, noch so imaginär. -„Zähle Du die Tage meines Elends, sammle meine Tränen in Deinen Krug; ohne Zweifel, Du zählst sie.” (Ps 56,9).

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LeerAuch die Kraft, die ich, die wir dem Unrecht entgegenhalten, ist abhängig davon, ob ich festhalte oder auch nur zu behaupten nicht aufhöre, daß Unrecht Konsequenzen hat, daß es nicht ungesehen geschehen kann. - „Der Gottlose meint in seinem Stolz, Gott frage nicht danach. ‚Es ist kein Gott’, sind alle seine Gedanken. Er fährt in seinem Tun fort und fort. Warum soll der Gottlose Gott lästern und in seinem Herzen sprechen: ‚Du fragst nicht danach!’ Du siehst es doch, denn du schaust das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen.” (Ps 10,4f, 13f).

LeerEs ist schwierig, über solche Dinge zu reden, weil ja weder Glaube noch biblische Worte ‚magische Wirkungen’ haben. Mir geht das Herz genauso in die Knie wie allen anderen, wenn über Mikrofon ertönt: „Frau Böhm, ins Büro bitte, Frau Böhm!”, und ich habe genauso oft gekniffen wie alle anderen, wenn etwas hätte gesagt werden müssen. Nicht die Erfahrung an sich wird anders, aber vielleicht ihre Macht, ihre Herrschaft, ihre ‚Langzeitwirkung’.

LeerIch denke oft an die dem jüdischen Volk gegebene Weisung über den Umgang mit den Worten der Thora: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein ... und du sollst sie sagen, wenn du in deinem Hause bist und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.” (4. Mose 6,6-7). Die Frage, ob die Bibel ‚für die Arbeitswelt’ relevant ist, ist mir in der ‚Arbeitswelt’ verlorengegangen, im wahrsten Sinne des Wortes.

LeerEs scheint eine vom Überleben, vom Leben-Wollen diktierte Veränderung zu sein: Irgend etwas braucht man als Hilfe - als Stütze zum Weitergehen, als Hort zum Sich-Bergen, als Schild zum Sich-Stützen ... all diese biblischen Worte sind da genau die richtigen Bilder, sie sagen, was man ahnt, braucht, und doch noch gar nicht begreift -und dann ist einfach keine Zeit, keine innere Zeit sozusagen, bis die Frage der Relevanz erforscht, geklärt, bewiesen, begründet oder was auch immer ist. Es ist einfach so, daß bei der Wanderung in eine(r) ausgesetzte (n) Situation der Umgang mit Bibel (so wörtlich: das Um-Gehen, das Umhergehen) ein Zwischending von Rettungsanker und Verzweiflungstat wird.

LeerWie das Du zum Lebendigbleiben hilft ... das Du und das faßbare, vorstellbare Wir: Ich wünsche den anderen manchmal auch die Konkretheit und die Geschichtlichkeit des Wir, welches hinter den Psalmen und den biblischen Geschichten steckt.

LeerDie Klage- und Rachepsalmen der heutigen Arbeitswelt, auch ihre Wunschträume und Widerstandsgeschichten, haben zwar grammatikalisch oft ein kollektives Subjekt (was ungeheuer viel wert ist und wirklich noch viel von einem ganz ursprünglichen, fraglosen Wir-Verhalten und Wir-Bewußtsein zum Ausdruck bringt), aber es ist trotzdem ein Wir, das keinen Namen und keine Geschichte hat. Weder die Arbeiterbewegung noch irgendwelche anderen befreienden Traditionen sind in der Arbeitswelt noch lebendig; wahrscheinlich ist deshalb das Wir meiner Kolleginnen und Kollegen oft wenig lebensfähig und so leicht korrumpierbar. Wir brauchen, so nennt es Fulbert Steffensky, Verbündete und Zeugen für unsere Wünsche - auch für unsere Leiden und Enttäuschungen. „Indem wir Verbündete finden, werden unsere Wünsche schärfer, wird die Kritik an uns energischer, die Hoffnung auf die Realisierung unserer Wünsche größer.” (F. Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1984, 19).

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VII. Zweckfrei mit der Bibel umgehen

LeerDas Sich-Einlassen auf die Arbeitswelt hat der Frage nach der Relevanz der Bibel alle Beliebigkeit, alle akademische Leichtköpfigkeit genommen. Es hat auch das Wie meines Umgangs mit der Bibel geprägt. Ich denke, daß ich heute spielerischer und zweckfreier mit der Bibel umgehe und mit ihr lebe. Zweckfrei heißt: biblische Bilder oder Geschichten in der Wirklichkeit wiederfinden, aber noch nicht wissen, auch nicht fragen, was das nun bedeutet, bewirkt oder welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.

LeerIch denke an einen Tag, der furchtbar hektisch war, irgendwann in der Vorweihnachtszeit. Das sind oft Tage, wo wir als Kollegen nur wie Segelschiffe mit vollem Rückenwind aneinander vorbeisegeln, allenfalls dazu Zeit haben, uns anzuschauen und die Augen zur Decke zu drehen: Keiner von uns weiß, wie die Arbeit schaffen, wie den Tag rumkriegen. Obwohl nichts nötiger wäre als ein ruhiges, beruhigendes Wort von einer Kollegin, einem Kollegen, schaffen wir es alle ganz selten, uns mal eine Minute frei zu machen. Es ist, als würden wir das Getrieben werden selbst nur weitertreiben können.

LeerUnd da kam Mohammed, der kurdische Kollege aus der Obstabteilung, plötzlich an - mit einem ganzen Spankorb voll sorgfältig zerkleinertem Holz von Kiwi-Kisten: Für meinen Kachelofen, zum Anheizen ... Soviel Mühe inmitten all der Arbeit. Ist es verrückt, da an das Scherflein der Witwe zu denken? Zu wissen, daß es einfach stimmt: „Diese hat mehr eingelegt als alle anderen ... sie aber hat aus ihrem Mangel heraus alles eingelegt, was sie hatte, ihr ganzes Gut.” (Mk 12,41-44).

LeerZweckfrei heißt: einen Zipfel, eine Ahnung davon erhaschen, warum Jesus über das Reich Gottes in Gleichnissen, in Ab-Bildern der Wirklichkeit spricht, und zwar immer in Gleichnissen, die einfach nur IST sagen. Das Reich Gottes ist gleich ... Ja, das Reich Gottes ist, und nur die Jünger, die nicht kapieren, nur wir Jünger, die nicht kapieren, müssen fragen: Und was bedeutet das? Es ist, als wäre es manchmal genug und alleine schon voller Bedeutung, daß etwas ist.

LeerSpielerisch mit der Bibel leben, ist dem ähnlich, aber aktiver - spielerisch, d. h. alle möglichen (und auch ganz unmöglichen) Situationen mit biblischen Worten oder Geschichten zusammenbringen, und es mit Genuß tun, ohne nach exegetischen Urteilen darüber zu forschen.

Leer„... denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig ...” (2 Kor 12,9) -Über den paulinischen Kontext belehrt, habe ich das immer verstanden als Tröstung an die Adresse der Schwachen, Tröstung darüber, daß ihre Schwachheit bleibt und bleiben wird. Sie ist auch wichtig; das steht ganz in der Nähe der Klagepsalmen. Aber dann hörte ich plötzlich einen ganz fremden Ton darin: Ich habe oft gestaunt, mit welcher Kraft, welch vehementer Energie Kolleginnen über irgendeine Ungerechtigkeit, Verletzung oder auch Gemeinheit einer anderen erzählten ... Und einmal hatten wir im Keller ein langes Gespräch - was für uns lange Gespräche sind, sind oft nur kostbare 5 oder 10 Minuten - darüber, daß wir, wenn uns etwas zugefügt wird, eigentlich nur immer darauf starren, was der andere uns antut, womit sozusagen der andere auf uns zukommt, und gar nicht darauf achten, daß ja im selben Moment auch in uns etwas geschieht, in uns etwas hochkommt, eine heftige Empörung nämlich. Was wäre das für eine Kraft, wenn wir sie nicht mit aller Kraft unterdrücken würden!

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LeerKann es sein, daß Gottes Kraft nicht nur verhüllt in unserer Schwäche bei uns ist, sondern daß sie sozusagen auch griffbereit in unserer Schwäche bei uns ist? Daß ich da, wo ich in die schwächste Position gedrängt werde, nicht nur auf das größte Kraftpotential hoffen, sondern wirklich darauf zurückgreifen darf?

VIII. Exegese oder Umgang

LeerIch weiß nicht, ob es exegetisch gerechtfertigt ist, so mit biblischen Worten umzugehen, aber ich weiß, daß es erfahrungsgemäß notwendig und legitim ist.

LeerExegese contra Erfahrung? Es ist seltsam, aber bei solchen Gedanken habe ich mich oft ertappt. Und merke dann, daß eine Definition von Exegese, eine Vorschrift für den Umgang mit der Bibel in mir sitzt, die weder mit der Not noch mit der Stärke des Alltags zusammentrifft. Oder auch, daß ich da, wo ich ‚Exegese’ lernte, jedenfalls keinen meinem Alltag gemäßen Umgang mit der Bibel gelernt hatte.

LeerVielleicht kann ich die beiden unterschiedlichen Umgangsweisen, an die ich denke, am besten deutlich machen an Ps 8 und Ps 144, die ich ja schon erwähnte.

LeerWas vom Studium her noch da ist, erinnert mich an Ps 8: „Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.” Deshalb können wir an Auslegung arbeiten, im Vollbesitz aller physischen und geistigen Kräfte, mit Wissen und Büchern bepackt, zugleich aber (natürlich) ganz ‚objektiv’ und ohne allzuviel Vorverständnis auf die Bibel zugehen, gespannt, was diese wohl zu sagen hat.

LeerHeute ist oftmals das andere stärker, Ps 144: „Einem Hauche gleicht der Mensch, wie der Schatten fliegen dahin seine Tage.” So können wir Auslegung nur noch ersehnen, beraubt aller physischen und so vieler geistigen Kräfte, wortlos und stumm, bepackt mit sich selbst und der eigenen Erfahrung kann man nicht mehr objektiv und nicht ohne ganz bestimmte Erwartung auf die Bibel zugehen, überhaupt nicht gehen, sondern nur noch erwarten, daß einem die Bibel entgegenkommt... Sie muß es, sonst gäbe es keine Begegnung ...

LeerBevor ich dies letztere erkläre, möchte ich schon betonen, daß das erste Bild von Auslegung nicht als Karikatur gemeint war. Es gilt geradeso, ist eben nur ein-seitig, und behauptet sich doch so all-seitig. Nun zur Deutung des zweiten Bildes: Ich möchte nicht mehr abstrakt, auch nicht mehr objektiv an die Bibel herangehen. Ich möchte konkret und subjektiv mit ihr leben, mit meiner ganzen Misere und mit der meiner Kolleginnen, meiner Kollegen, der Misere der Welt. So belastet und müde. Müde, viel zu müde oft, um auf die Bibel zuzugehen. Belastet, viel zu belastet, um einfach für alles noch offen zu sein. Es ist, als möchte ich zur Bibel sagen: Wenn das mit uns beiden was werden soll, dann mußt du mir schon ein Stück entgegenkommen, und wenn das mit uns was werden soll, dann kannst du auch nicht mit allem kommen. Was wir brauchen, sind Worte für unsere Erfahrung, Namen und Deutung für das, was uns bedrängt und was uns freut, damit aus Lebensgeschehen und Weltgeschehen Lebensgeschichte und Weltgeschichte wird.

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LeerEs hat sich, glaube ich, in den letzten Jahren manches für mich auf den Kopf (oder auf die Füße) gestellt:

LeerNicht mehr objektiv mit der Bibel umgehen können, auch nicht mehr objektiv mit ihr umgehen zu wollen, das bringt die spannende, faszinierende Entdeckung mit sich, daß die Bibel immer weniger Objekt ist. Sie ist mir zum Subjekt, zum Mit-Subjekt geworden. Neben das Nachdenken über die Bibel tritt so etwas wie ein Gespräch mit der Bibel: Biblische Worte und Geschichten erinnern und wieder-holen, ganz oder bruchstückhaft, immer und immer wieder.

LeerSo wie es die Juden tun, wie es die Weisung aus dem 5. Buch Mose sagt oder auch Ps 1: „... sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über Gottes Weisung Tag und Nacht.” Das hebräische Wort für ‚sinnen’ heißt eigentlich ‚murmeln’. Daß man da Tag und Nacht etwas vor sich hinmurmelt. Die Bibel kennen, auswendig und inwendig, wird wichtiger als über sie Bescheid wissen.

LeerWas auch ganz einsichtig ist, wenn ich mir das zweite klarmache, was in den letzten Jahren auf die Füße gefallen ist: Ich habe nicht mehr so viel Lust, die Bibel auszulegen. Was viel notwendiger und viel mitreißender ist, ist die Wirklichkeit auszulegen. So etwa, wie ich es vorhin zu erzählen versuchte: Daß von der Bibel her Deutungsmuster uns begegnen; und dann - das habe ich wenig beschrieben, kann es auch noch nicht - Zukunftsmuster und Handlungsmuster für unsere Wirklichkeit, Muster für das, was ist, was sein könnte und was wir dazu beitragen können.

IX. Zwei Beispiele

LeerWeil das geht und Spaß machen und Leben wecken kann, will ich zum Schluß einfach zwei Beispiele erzählen:

LeerIm letzten Sommer habe ich, zum bisher einzigen Mal, einer Kollegin eine biblische Geschichte erzählt. Ingrid hatte die Räumungsklage für ihre Wohnung bekommen. Das war eine Katastrophe, nicht nur wegen der Drohung, rauszufliegen, sondern vor allem, weil sie alleinerziehende Mutter eines Pflegekindes ist. Und das schon seit langem kritische Jugendamt war sofort auf dem Plan, ihr klarzumachen: wenn sie keine entsprechende oder auch keine im selben Bezirk liegende Wohnung finden würde, wäre die Pflegschaft in Frage gestellt. Ganz abgesehen davon, daß an der Drohung rechtlich nicht viel haltbar war, wirkte sie doch so, daß Ingrid völlig chaotisch reagierte und fast darüber die Arbeit verlor.

LeerBelastend kamen dazu die fadenscheinigen Gründe für die Räumung und eine ausgesprochene Pechsträhne: Als erstes verlor sie den Prozeß gegen die Räumung, dann wurde ihr das Armenrecht verweigert, dann kamen die ersten Absagen anderer Wohnungsgesellschaften ... Die Kraft, irgend etwas zu unternehmen, wurde immer geringer -und ist ja auch der Alkohol so nahe und verlockend ...

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LeerEinmal im Cafe habe ich ihr die Geschichte aus Lk 18 von der bittenden Witwe erzählt, einfach so „Ich fürchte zwar Gott und die Welt nicht, aber dieses alte Weib könnte doch glatt kommen und mir ins Gesicht schlagen.” Wir haben damals nicht überlegt oder beredet, was das nun heißt oder welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Aber Angelika war völlig fasziniert, daß eine so ‚unanständige’ Geschichte in der Bibel steht, und noch mehr davon, was für eine Macht die alte Frau hat - mehr Macht als Gott und die Welt. -

LeerWenn es zeitlich möglich ist, ein paar Minuten zu stehlen und der Chef gerade nicht im Keller ist, bewegen wir uns in Richtung Obstkeller, dahin, wo drei Frauen in einer Art unterirdischem Verlies Obst und Gemüse abwiegen und abpacken. Wir brauchen ja auch Vitamine ... Es war in der Kirschenzeit, ich kam gerade um die Ecke in den Obstkeller, da waren schon etliche vor mir: ein Lehrling, ein Lagerarbeiter, eine andere Verkäuferin. Großes Hallo: Wir sind ja schon fast 'ne Betriebsversammlung! In dem Moment kommt der Fahrstuhl nach unten ... der Chef? Wir wie die Hühner um die Ecke. Das einzige, was jede noch schnell mitgehen ließ, war eine Handvoll Kirschen.

LeerEs war dann nicht der Chef gewesen, aber wir wollten uns nicht gleich noch mal in ‚Gefahr’ bringen, so standen wir im Keller, verzehrten unsere Kirschen, und - wie auch immer - waren wir plötzlich mitten im schönsten, ernsthaftesten Kirschsteine-Spuckwettbewerb: Wer trifft in die Colakiste? Wer bis zur Tür vom Tiefkühlraum? Wer über die Belüftungsanlage weg? Es war ein Fest! Nachmittags erzählte ich es einem Freund, der im Dreischichtsystem bei Eternit arbeitete. Der fügte begeistert seine Geschichten hinzu: Vom gegenseitigen Haareschneiden in der Nachtschicht, vom Holzkleinmachen für die Ofenheizung und von philosophischen Gesprächen auf der Toilette.

LeerWieviel Leben gibt es an einem so lebensfeindlichen Ort, wieviel Wasser aus dem Felsen, wieviel Manna in der Wüste. Man findet's und kann davon leben.

Quatember 1989, S. 134-145

Siehe auch: Helga und Jürgen Boeckh - Das Berneuchener Buch ist nicht überholt

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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