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Bewegung im Kirchenbau nach 1945
von Christian Rietschel

LeerVor vierzig Jahren wurde auf einem der ersten Kirchbautage nach dem Kriege der „Arbeitsausschuß für den evangelischen Kirchbautag” ins Leben gerufen, eine freie Arbeitsgemeinschaft von Vertretern der Theologie, der Baukunst, der Kunst und des Kunsthandwerks, der Denkmalpflege, der kirchlichen Kunstdienste, der Kirchenmusik und der theologischen Fakultäten und Kirchenleitungen. Otto Bartning war der Initiator und benutzte das Forum der 4. Tagung für Kirchenbau in Lübeck 1949 zur Fortsetzung und Leitung der Arbeit des auf der gleichen Tagung gegründeten ‚Evangelischen Kirchbautages’ zur Nominierung und Einsetzung des Arbeitsausschusses, der dann in den folgenden Jahren von D. Dr. Oskar Söhngen, Berlin, geleitet wurde und dem u. a. Gerhard Langmaack, Karl Kobold, Arnold Rickert, Karl-Ferdinand Müller und der Verfasser dieser Rückschau angehört haben.

LeerDer Anlaß dazu war durch die Folgen des letzten Krieges gegeben: Zerstörung zahlreicher Kirchen in ganz Deutschland, vor allem in den dichtbevölkerten norddeutschen Ländern des Ruhrgebietes, des Rheinlandes, Mitteldeutschlands und Südwestdeutschlands, Wachstum der Großstädte durch die Zuströme der Flüchtlinge und Umschichtung der Konfessionsgrenzen und örtlichen Parochien, dazu die ohnehin starke Bevölkerungszunahme durch die Industrialisierung, Bildung von ausufernden Randgemeinden, Satellitenstädten. Ein beispielloser Kirchbau-Notstand war die Folge, eine so noch nicht dagewesene Herausforderung für Pfarrer, Kirchenvorstände und Kirchenleitungen. Es kam zu einer Hochflut des Kirchenbaus, die nach der Wiederherstellung der Kirchgemeinden etwa zwanzig Jahre anhielt. In dieser Zeit sind in Deutschland mehr Kirchen gebaut worden als in den viereinhalb Jahrhunderten seit der Reformation. Allein in Westfalen wurden in diesem Zeitraum 308 Kirchen wiederaufgebaut oder neu gebaut.

LeerDie Aufgabe lag auf der Hand: Kirchgemeinden brauchten ein Dach über dem Kopf, wo sie Gottes Wort hören und seine Gegenwart im Sakrament des Altares und der Taufe feiern konnten. Das ‚Was’ war klar, nicht das ‚Wie’! Zwischen Tradition und neuen Möglichkeiten lag ein weites Feld. Otto Bartning hatte schon zwanzig Jahre zuvor 1928 eine Kirche aus Stahl und Glas gebaut, die sogenannte Pressa-Kirche, die Aufsehen erregte, leider im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Es entstanden die ersten aus Stahlbeton errichteten schmucklosen Kirchen wie 1930 die katholische Fronleichnams-Kirche in Aachen durch Rudolph Schwarz.

LeerNeues Baumaterial hatte ein neues Formgefühl für nüchterne Sachlichkeit, eine ‚profane Sakralität’, aufkommen lassen, wie sie z. B. von dem Theologen Paul Tillich (1886-1965) gefordert wurde: „Kultische Gestaltung muß bestimmt sein durch das Leben des Alltags, Gegenwart und Wirklichkeit.” Je klarer das geistige Konzept evangelischen Kirchbaus von Bauherren, den Gemeindevertretern und den Architekten erfaßt wurde, „die liturgisch-geistige und die architektonische Spannung des Kirchenraumes in lebendige Wechselwirkung zu bringen”, um so freier und beglückender könne sich Kirchenbau zum Segen der Gemeinde entfalten.

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LeerBartning, der dies formulierte, starb 1959 und hat maßgebende Kirchbauten hinterlassen, darunter 48 „Notkirchen.”, von denen 13 in die damalige sowjetische Besatzungszone gelangten. Sie eröffneten sozusagen die nach dem Kriege einsetzende Kirchbau-Welle, in der die dringendsten Notfälle versorgt werden konnten. Es handelte sich um Montage-Kirchen auf einem einfachen Basilika-ähnlichen Grundriß aus konstruktiven Bauelementen, die in der Schweiz vorgefertigt, an Ort und Stelle in kürzester Zeit errichtet werden konnten. Die Gemeinden hatten nur für den meist aus Trümmermaterial gewonnenen Sockel zu sorgen. Bartning hatte 1946 in Pforzheim ein Modell dieser Kirchenserie errichtet, „das erste Zelt in der Wüste der Zerstörung”. Er schrieb über diese Aktion: „Es war ein einmaliges Erlebnis des Schenkens und Empfangens, durch das diese Notkirchen nicht notdürftigen Behelf, sondern neue und gültige Gestalt aus der Kraft der Not bedeuteten.”

LeerMit der Notkirche hatte Bartning sozusagen die Quintessenz seiner Einsichten zum evangelischen Kirchbau nutzbar gemacht. Wie er gelegentlich selbst interpretierte, war die Gemeinde der Reformation in das Sanktuarium, in den hohen Chor der mittelalterlichen Kirche eingezogen, um als das Volk Gottes sich der Gegenwart ihres Herrn in Wort und Sakrament zu vergewissern. Es gab keine Chorschranken, keinen Lettner mehr, der Zugang zum Heiligen war offen, die Kanzel nicht mehr erhöht. Die Sitzordnung ergab sich von selbst unmittelbar um Altar, Kanzel und Taufe, den „Prinzipalstücken” gottesdienstlicher Handlung. Besonders gelungen war bei der Notkirche auch die Lichtführung durch ein hohes Fensterband, das die Geschlossenheit des Kirchenschiffes bewahrte. Aber die Notkirche war eben eine Notlösung und im weiteren Verlauf wurde man der „Kirche von der Stange” auch überdrüssig. Jedoch mit ihr war der Grund eines neuen Verständnisses von Kirchbau gelegt.

LeerDem entsprach ein neues sozialdiakonisches Selbstverständnis der christlichen Gemeinde. Es war in den Jahren des Kirchenkampfes in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft entstanden, in den Tagen des Kirchenkampfes gewachsen. Gottesdienst wurde als Zurüstung des durch die Geschichte wandernden, angefochtenen und herausgeforderten Gottesvolkes verstanden. Traditionelle Begriffe und Vorstellungen wie die eine Kommune beherrschenden dominierenden Kathedralen und Türme mit der großen Kirchenuhr, christliche Kultur und Kult traten zurück, und andere Leitgedanken wurden wichtig, wie der der Missio, der Sendung in die Welt. Gottesdienst wurde empfunden als Sammlung und Sendung des wandernden Gottesvolkes und die Kirche als ihr Zelt in der Wüste. Nicht zuletzt bestimmten die Gedanken Bonhoeffers zu einer Nachfolge, die mitten in eine „religionslose Welt” gestellt ist, das Gemeindebewußtsein. Die Kirche sah sich in eine ganz neue Erfahrung gestellt und dem Bekenntnis des Glaubens verpflichtet.

LeerSo wie die Kirchen nach der Zeit des Kirchenkampfes wieder nach Orientierungen für das kirchliche Leben und dem Gottesdienst suchten, galt es, auch für den Kirchenbau Richtlinien und Leitsätze zu erarbeiten. Diese Bemühungen fanden ihren Niederschlag in den vom ‚Arbeitsausschuß’ entworfenen und vom Kirchbautag gutgeheißenen „Grundsätzen für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen”, die 1951 in Rummelsburg verabschiedet wurden:

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Leer„Die gottesdienstliche Besinnung unserer Tage hat lang verschüttete Erkenntnisse über die Aufgabe und die Gestalt evangelischen Gottesdienstes wieder ans Licht gebracht. Dazu gehört auch die Einsicht, daß sich das Kirchengebäude und insbesondere der Kirchenraum vom Gottesdienst her bestimmen lassen müssen, der sich in ihnen vollzieht und dem sie gleichnishaft Gestalt geben sollen ... Der gottesdienstliche Bau und Raum soll sich um seines Zweckes willen klar unterscheiden von Bauten und Räumen, die profanen Aufgaben dienen ... Die Verwendung eines Gemeindesaales als Kirchenraum kann nur als eine vorübergehende Notmaßnahme gebilligt werden ... Die Kanzel soll nicht höher angeordnet werden, als es die Hörsamkeit unbedingt erfordert. Es sollte geprüft werden, ob nicht die Kanzel im Interesse einer engeren Verbindung des Predigers mit der hörenden Gemeinde amboartig gestaltet werden kann.”

LeerVom Altar wird gesagt: „Das Sakrament des Altares ist für den lutherischen Gottesdienst ebenso konstitutiv wie die Predigt. Darum lehnt die lutherische Kirche einen beweglichen Altar ab. Form, Maß und Werkstoff sowie die Ausstattung des Altares müssen seiner Bedeutung gerecht werden. Er steht in der Mittelachse des gottesdienstlichen Raumes im Angesicht der Gemeinde und sollte um mindestens zwei Stufen erhöht sein ...” Empfehlungen für die Zuordnung von Altar und Kanzel, für Taufe, Orgel, Gestühl und Ausstattung der Sakramentstätten folgen.

LeerDiese in Rummelsberg 1951 verabschiedeten Grundsätze dürfen freilich nur so verstanden werden, daß sie gewisse Grenzlinien festlegen wollen, innerhalb derer ein weiter Raum für die selbständige und verantwortliche Gestaltung des einzelnen Kirchenbaus verbleibt. Sie sind als Hilfe gedacht, nicht als Gesetz!

LeerDaß bei der Gestaltung des Altars besondere Sorgfalt empfohlen wird und er - so einfach er auch sein mag - ein Stück gediegener handwerklicher Arbeit sein sollte, das gilt auch für alles, was zu seiner Ausstattung verwendet werden soll - Altarkreuz, Abendmahlsgerät, Bibelpult, Paramente, Leuchter, Altarvasen. Dem kam eine aus der handwerklichen Kunst kommende Bewegung entgegen, die mit Rudolf Koch (1876-1934) und seinen Schülern erweckt wurde. Die handwerkliche Kunst im Dienste des Heiligtums war auf eine neue Stufe gehoben. Allein die Anregungen, die von ihm auf die Kunst der Paramentik, der Altarbekleidung ausgegangen sind, haben sich weit ausgewirkt.

LeerIn gleicher Weise ist hier Arnold Rickerts zu gedenken, der vor 100 Jahren geboren (10.7.1889-28.4.1974) mit seinen Schülern und Mitarbeitern der Bielefelder Werkkunstschule in einer erstaunlichen Vielfalt zum Quellort kirchlicher Ausstattung geworden ist und die Rummelsberger Grundsätze aufs eindrucksvollste verwirklicht hat. Die bildenden Künste Plastik, Wandmalerei, Glasmalerei, textile Künste, die Eisen- und Silberschmiede, Schreiner und Schnitzer, Steinmetzen und Bronzegießer waren aufgerufen, im Verein mit der funktionalen Baukunst der nüchternen Sachlichkeit moderner Räume ein Element der Freude und Anbetung, der Feier und Festlichkeit hinzuzugeben, das der gottesdienstlichen Bedeutung des Raumes und seiner Prinzipalstücke entsprach.

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LeerEinige dieser Künste, wie die Glasmalerei, erlebten geradezu eine Renaissance. Mit ihrer Kraft, das natürliche Tageslicht in farbigen Klang verwandeln und dadurch dem Kirchenraum eine unvergleichliche transparente Atmosphäre zu verleihen, konnte man nur zum Gleichnis der Verwandlung des irdischen Raumes in den himmlischen werden und die rationale Einengung der Heilsvermittlung durch Begriff und Wort sprengen. Die Künste im Kirchenraum - so wurde erkannt - hatten nicht nur dekorativen Sinn ornamentaler Ausschmückung, sondern den Sinn zeichenhafter Verkündigung, die Herz und Gemüt ansprechen konnte wie die Musik. Immer verbunden mit dem Wort der Botschaft, konnten sie heilige Zeichen der Heilsgegenwart sein.

LeerDaß das Wort des lebendigen Gottes nicht nur aus ausgesprochenen, gedruckten, zu begreifenden Sätzen und Gedanken, sondern weit über Sinnen und Verstand hinaus in den Zeichen und Symbolen der Liturgie und der Kunst vernehmbar ist, war eine Einsicht, die schon vorher der liturgischen Bewegung gegeben war, wie sie die Hochkirchler, Alpirsbacher und Berneuchener zusammengeführt hatten. Glauben kann nur durch persönliche Erfahrung entstehen. Lehre und Leben der Kirche können nicht getrennt sein.

LeerDer Grundsatz der Evangelischen Michaelsbruderschaft, „wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind”, kann auch ganz wörtlich verstanden werden: Der neue Kirchbau nach dem Kriege konnte nur so gelingen, wenn er in aller Bescheidenheit aus Glauben geboren war. Man merkt es den neuen Kirchen an, ob sie auch solchem Geist entstanden sind oder nicht, beziehungsweise nicht nur. Denn gewiß steht jeder Künstler und Architekt auch in der Spannung zwischen der eigenen originalen Leistung und der Zurückhaltung demütigen Dienstes.

LeerDaß solche Spannung fruchtbar sein kann und kein unüberbrückbarer Zwiespalt, haben gerade die großen Künstler und Architekten unseres Jahrhunderts bewiesen, wie der Franzose Corbusier oder der Finne Aalto mit ihren Kirchbauten. Oder der Maler Matisse, der, als er bei den Arbeiten an der von ihm entworfenen Kapelle in Vence/Südfrankreich gefragt wurde, ob er an Gott glaube: „Ja, wenn ich arbeite. Wenn ich klein und bescheiden bin ist es mir, als helfe mir jemand Dinge zu tun, die weit über mir stehen.” Auch im Kirchbau gilt: „Der Geist weht, wo er will.” Für die Architekten von Rang wurde der Kirchbau beider Konfessionen zur hochbegehrten und -bewerteten Aufgabe unserer Zeit.

LeerMan erkannte auf breiter Ebene, daß die Kirchbaufragen nicht nur im eigenen Land und in der eigenen Konfession aufgeworfen wurden. Das zweite Jahrzehnt der Kirchenbauwelle in den sechziger Jahren ließ die grenzüberschreitende öffentliche Bedeutung des neuen Kirchbauens in Erscheinung treten. Die Zuwendung zur Ökumene und zu den Problemen der Gesellschaft bestimmen die Themen der folgenden Kirchbautage: „Kirchenbau und Ökumene” Hamburg 1961; „Kirchenbau in der Zivilisationslandschaft” Essen 1963; „Tradition und Aufbruch im evangelischen Kirchenbau” Hannover 1966; „Bauen für die Gemeinde von morgen” Darmstadt 1969.

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LeerModerne Kirchenbauten hinterließen einen nachhaltigen Eindruck auf das Bewußtsein der Gesellschaft und fanden im öffentlichen Leben fast mehr Widerhall als in den Kirchen selbst. Kirchenbau spielte sich sozusagen außerhalb der Gemeinde ab; das säkulare Interesse am Bau von neuen Kirchen war stärker als das der Gemeinden. Das blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Baukonzepte der folgenden Zeit. Immer weniger war der ursprüngliche Dienstcharakter zu erkennen, um so stärker der Drang nach Originalität und Außergewöhnlichem.

LeerTradition wurde in Frage gestellt, Zukunftsutopien waren an der Tagesordnung, modische Trends breiteten sich aus. Statt Besinnung und Vertiefung kam es zu Verflachung und schnell fertigem Bauen, wobei auch die Fülle der sich andrängenden Aufgaben das ihre tat. Nach den Höhepunkten zwischen 1950 und 1960 lief die Woge der Kirchbaubewegung ins Flache und Breite aus. Das heißt nicht, daß nicht auch noch beachtliche Kirchbauten erstellt wurden, wie die Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg (Langmaack 1962) oder die Mannheimer Kirchen Strifflers.

LeerDoch die Krise wurde offenkundig erstmals auf dem Kirchbautag in Darmstadt 1969 unter dem Thema „Kirchbau in der Entscheidung”. Nahezu alle Aspekte christlicher Tradition waren in Frage gestellt: die geistigen und gesellschaftlichen Grundlagen, Recht und Stellenwert der Volkskirche, die Funktion des Gottesdienstes, das überkommene Leitbild des Gotteshauses und seine architektonischen Konzeptionen, die Verantwortbarkeit aufwendiger Eigenbauten in einer Kirche für die Welt. Einer der Referenten stellte fest: „Die Kirche ist dabei, mit ihren Räumen auch ihren Atemraum zu verspielen.”

LeerAuf der einen Seite war von den Architekten ein Stopp der aufwendigen Kirchenflut verlangt worden, weil sich die gestalterische Askese der frühen Phase gewandelt hatte und bei reichlich vorhandenen Mitteln zuviel an Repräsentation künstlerischer Mittel angewandt wurde. Auf der anderen Seite meldete der Kirchenbautag seine Bedenken an: „Wenn der Gottesdienst wirklich die Mitte der Gemeinde ist, können und dürfen Gemeinden in neu entstehenden Siedlungsgebieten auf ein gemeindliches Zentrum und auf einen gottesdienstlichen Raum nicht verzichten. Wohl aber könnten erhebliche Mittel eingespart werden, wenn die Gemeinden sich entschließen würden, weniger aufwendig zu bauen. Weithin ist in Vergessenheit geraten, daß Schlichtheit und Bescheidung zum Lebensstil einer evangelischen Gemeinde gehören.”

LeerDer Kirchenbau war wie andere Bereiche kirchlicher Gestaltung von Verweltlichung ergriffen. Die Aussonderung gottesdienstlicher Räume und die Beachtung besonderer Gestaltungsmaßstäbe schien unwiederbringlich verloren. Die Folgen für den Kirchenbau lagen auf der Hand: keine Türme, keine sakralen Fassaden, sondern Mehrzweckräume, die sich auch für den Gottesdienst eignen. Es war ganz im Sinne der neuen Konzeptionen einer, „nachsakralen Zeit”, daß die Fragen der Umwelt der christlichen Gemeinde, die soziologischen und städtebaulichen Probleme in den Vordergrund rückten und die ekklesiologisch-liturgischen verdrängten. Auf dem Kirchbautag 1973 in Dortmund hieß es „Kirche und Stadt - eine Herausforderung” und in Kassel 1976 trat der Gedanke des Marktes, der Funktion einer „Agora”, vielfältig zu nutzen, in den Vordergrund für neue Konzeptionen des Kirchenraumes.

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Leer„Umgang mit dem Raum” war in Kassel das Generalthema, der flexible Raum, der mit geringen Mitteln ebenso das Gespräch, die Geselligkeit und den Gottesdienst ermöglicht. Man fand solchen Raum in Kassel in der nicht mehr kirchlich genutzten Brüderkirche und war überrascht, wie gesammelt und lebendig sich Gottesdienst in diesem Raum vollziehen ließ: „Das Chaos blieb aus. Ohne daß seine Würde Schaden nahm, ließ der alte Raum die verschiedensten Funktionen zu.” Man erinnerte sich, daß schon in früheren Jahrhunderten Kirchenhallen Durchgangs- und Begegnungsstätten waren, wie alte holländische Bilder beweisen, und daß Luther gemeint hatte, auch auf der Tenne und unter der Linde zusammenkommen zu können, Gottes Wort zu hören. Die Kirche als Forum, Begegnungsstätte, als mobiler Raum einer mobilen Gesellschaft - ohne Turm - ohne feierlichen Anstrich - offen zur Welt und offen für jedermann, so stellt sich ein Leitbild heutigen Kirchbaus dar, der eher Gemeindezentren als Feierräume schafft.

LeerDieses Leitbild blieb nicht unwidersprochen. Söhngen, der langjährige Leiter der Kirchbautage, hat dazu geäußert: „Künftig nur mehr Gemeindezentren zu errichten, in denen auch Gottesdienst gehalten werde, das stellt das geistliche Leben einer Gemeinde in Frage. Es hat sich gezeigt, daß diese Rechnung nicht aufgeht, weil einem solchen Raum - bildlich gesprochen - die Vertikale, die Dimension der Anbetung fehlt. Wohl ist es aber umgekehrt so, daß ein wirklich gottesdienstlicher Raum auch für andere Veranstaltungen der Gemeinde genutzt werden kann, ohne daß ein Stilbruch zu befürchten ist - entsprechend dem evangelischen Verständnis, daß Gottesdienst alles ist, was aus Glauben Gott zu Ehren getan wird.”

LeerÜberblickt man vierzig Jahre evangelischen Kirchenbaus nach dem Krieg, so gleicht dieser einer Woge, die in einem großen Anlauf in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre ihren Höhenschwung fand, sich überschlug und dann rasch verebbte. Zuletzt wurde viel zu schnell und zu aufwendig gebaut, so daß ein Baustopp unabwendbar wurde. Heute ist diese Woge fast versiegt. Anstelle eines festgeschriebenen Kirchenbauideals ist der Kirchbau variabel. Die bekannten Meister des modernen Kirchbaus wurden abgelöst von einer jüngeren Generation, und die Gemeinden von heute verstehen sich weniger als parochial-volkskirchliche Größe, sondern als das wandernde Gottesvolk, das zu besonderem Dienst an der Welt gerufen ist.

LeerZum Begriff der Sammlung ist der der Sendung - missio - getreten. Gottesdienst wird als missio verstanden. Kirche ist nicht mehr Dom, Gottesburg, Kathedrale, sondern Zelt, Arche, mitten in der Welt Geborgenheit und Leben spendend. Dem entspricht, daß der Kirchenbau der Jahrzehnte nach dem Kriege einem totalen Gestaltwandel unterworfen wurde, der gängige Vorstellungen über Bord warf. Anstelle von aufragenden Türmen und hohen Hallen lagern sich vom Zweck geprägte, moderne Bauten in den neuen Siedlungszentren, denen man oft kaum ansieht, daß sie Kirchen sind.

LeerGerhard Langmaack, der eine Geschichte des Evangelischen Kirchenbaus des 19. und 20. Jahrhunderts geschrieben hat - eine umfassende Dokumentation und Synopse, den kommenden Kirchbaumeistern, Theologen und bauenden Gemeinden gewidmet (Stauda, Kassel 1971), führt aus: „Als Aufgabe bleibt: die Bewahrung der Mitte, aus der heraus alle Generationen gelebt und geschaffen haben, einer Mitte, die - wenn auch noch so verborgen - wirksam bleiben muß für alle zukünftigen Gottesdienste und Räume, einer Mitte, in der der Herr der Geschichte, Jesus Christus, sein Reich offenkundig macht. Diese Mitte hindurchtragen zu helfen in unsrer Zeit, auch in der Zeit der Gottesferne, ist Sinn und Ziel der Geschichtsbetrachtung und auch der Dokumentation, liegen doch in ihnen die Wurzeln und Voraussetzungen zu einer Neuschöpfung ... Die Ausstrahlung der ecclesia vom Zentrum her wird Zeit und Raum überdauern, wobei Kommen und Vergehen Bestandteile eines Erbes sind, das weitergereicht wird in der Vollmacht mittelalterlicher Geschlechter, wie in der Armseligkeit einer kleinen Schar, die sich heute zur Wahrung des Erbes berufen weiß.”

Quatember 1989, S. 145-152

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-23
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