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Predigt in der Ökumenischen Vesper
am Märtyrer-Gedenktag, 23. Januar 1988
in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin-Plötzensee

von Jürgen Boeckh

LeerSeit 1984 wird in Berlin in der Kirche Maria Regina Martyrum und der Sühne-Christi-Kirche in der Nähe der Hinrichtungsstätte Plötzensee in der Gebetswoche zur Einheit der Christen ein Märtyrer-Gedenkgottesdienst abgehalten. Er erinnert an den Tod katholischer und evangelischer Christen, die am 23. Januar 1943 hingerichtet wurden. Es wäre wünschenswert, daß auch in anderen Gegenden der Gedanke an einen Märtyrer-Gedenktag Verbreitung fände.

LeerLiebe Gemeinde!

LeerIm Brief an die Hebräer steht das Wort: "Gedenket eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach." Da wird an die Lehrer der Kirche erinnert, die für ihren Glauben gestorben sind. Die zehn Männer die am 23. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet wurden, sind keine Lehrer der Kirche gewesen. Sie waren Gewerkschafter und Politiker, Soldaten und Juristen. Sie sind aber alle bewußte Christen gewesen oder im Laufe der letzten Zeit ihres Lebens geworden. Dieser Tag ist uns nun schon seit einigen Jahren ein Anlaß, nicht nur dieser zehn Männer zu gedenken, die damals in unserem Land und in den besetzten Gebieten als Deutsche oder Angehörige anderer Völker sterben mußten.

LeerWir haben - zwischen den Psalmen - Worte von einer Frau und von drei Männern gehört, die - wie viele andere - gegen Gewalt für das Recht, gegen Lüge für die Wahrheit eingetreten sind, sich gegen das Aufgehen in der Masse gewehrt und als einzelne sich bewährt haben bis in den Tod. Ich habe mich gefragt: Wo gibt es Worte in der Heiligen Schrift, die für alle diese Frauen und Männer kennzeichnend sind und die auch wir heute im Gedenken an sie zu hören haben? Und da habe ich einige Sätze im Buch Jesus Sirach, auch Ecclesiasticus genannt, gefunden, im 4., 8. und 10. Kapitel. Dort heißt es:

LeerRette den, dem Gewalt geschieht, vor dem, der ihm Unrecht antut; und sei unerschrocken, wenn du ein Urteil sprechen sollst.

LeerSieh nicht die Person an zum Schaden deiner Seele, und weiche nicht vom Recht dir zum Verderben.

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LeerHalt dein Wort nicht zurück, wenn du andern damit helfen kannst, denn im Wort gibt sich die Weisheit kund und Einsicht in dem, was die Zunge spricht. Die Lüge ist ein häßlicher Schandfleck an einem Menschen, schlimmer als ein Dieb ist ein Mensch, der ständig lügt.

LeerSchäme dich nicht zu bekennen, wenn du gesündigt hast, sonst versuchst du vergeblich den Lauf eines Stromes zu hemmen.

LeerHalte dem nicht seine Sünde vor, der sich bessert, und denke daran, daß wir alle Schuld tragen.

LeerFürsten, Herren und Regenten stehen in hohem Ansehen, aber so groß sind sie doch nicht, wie der, der Gott fürchtet.

LeerMach dich nicht zum Diener eines Narren und nimm auf einen Mächtigen keine Rücksicht, sondem verteidige die Wahrheit bis in den Tod, so wird Gott der Vater für dich streiten.

LeerGewalt und Lüge sind damals in besonders krasser Form in Erscheinung getreten. Obwohl die Gewalt von vielen gerechtfertigt wurde und die Lüge von vielen nicht erkannt worden ist, gab es Menschen, die für Recht und Wahrheit eintraten und die die Hoffnung hatten, daß danach alles anders werde. Sie waren allerdings keine Utopisten, die von einer vollkommenen Gesellschaft träumten. Aber, so sagte Kurt Huber: "Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch ist not. Und ich hoffe zu Gott, daß diejenigen Kräfte, die es rechtfertigen, rechtzeitig aus meinem eigenen Volke sich entbinden mögen." Was können wir heute dazu sagen? Der Kirche ist oft vorgeworfen worden, daß sie sich nur um die individuelle, nicht aber um die politische Moral gekümmert habe. Dieser Vorwurf ist verständlich. Dennoch müssen wir feststellen: Rechtsstaat und Demokratie werden zu einer brüchigen Fassade, wenn nicht die einzelnen Menschen in ihrer individuellen Moral wissen, was Recht und Unrecht ist, was Wahrheit und was Lüge. Auch in einer Demokratie heiligt der Zweck die Mittel nicht.

LeerUnter dem Nazi-Regime waren die Verhältnisse extrem. Und es konnte richtig sein, zu lügen und zu heucheln sogar, um andere Menschen zu retten. Ja, es konnte richtig sein, Gewalt anzuwenden gegen die Gewalttäter. Aber dieses, liebe Schwestern und Brüder, ist auf unsere Situation nicht zu übertragen. Unsere Waffe in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, der niemals unser Feind sein darf, ist das W o r t. So wie es hier bei dem jüdischen Weisheitslehrer Jesus Sirach heißt: "Im Wort gibt sich die Weisheit kund und Einsicht in dem, was die Zunge spricht. Die Lüge ist ein häßlicher Schandfleck an einem Menschen, schlimmer als ein Dieb ist ein Mensch, der ständig lügt."

LeerIn der Politik ist nicht gut, was im persönlichen Leben schlecht ist, und im persönlichen Leben ist nicht unerheblich, was wir im politischen zumindest bei den Andersdenkenden verdammen. Einer der Männer, wir haben es gehört, hat kurz vor seinem gewaltsamen Tode geschrieben: -"Wollt Ihr mein Andenken ehren, so vergeltet Böses mit Gutem, ja, mit tätiger Hilfe." Dazu paßt wiederum die Mahnung des Jesus Sirach: "Halte dem nicht seine Sünde vor, der sich bessert, und denke daran, daß wir alle Schuld tragen!"

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LeerViele kamen zur Ablehnung des Nazi-Regimes, als sie erkannten, daß unser Staat kein Rechtstaat mehr war. Alles rnenschliche Recht ist etwas Vorläufiges. Und es wird niemals auf dieser Erde ein vollkommenes Recht geben, ebensowenig, wie es eine vollkommene Gesellschaft geben kann. Darum entspricht dem Recht, darum s o l l t e dem Recht auch immer die Gnade, als die andere Möglichkeit, entsprechen. Wo Menschen die Freiheit haben, Gnade zu üben, da bekennen sie: Menschliches Recht ist niemals das letzte. Es gibt einen letzten Richter, der schließlich unsere Gedanken, Worte und Taten wägen wird.

LeerEine besondere Tragik unseres Jahrhunderts ist es, daß im Kampf gegen die unmenschlichen Mächte oft diejenigen, die sie bekämpfen, die Waffen ihrer Gegner übernehmen und sie auch nach Jahren nicht von sich werfen. Wenn ein Mensch von über 90 Jahren sein Leben lang als Nummer und nicht mit seinem Namen angeredet wurde in unserer Stadt, dann ist das noch Jahrzehnte danach eine Kapitulation vor dem besiegten Feind. Wir leben wieder in einem Rechtsstaat. Aber wenn es nicht die Berichte sind, bei denen wir das zu bezweifeln haben, so sind es doch immer wieder Menschen, Menschengruppen, ja auch die Medien, die sich zum Tribunal erheben und oft erst dann auf das Recht pochen, wenn es gerade paßt, wenn es opportun ist.

LeerWenn es Menschen gegeben hat, Frauen und Männer, auch junge Menschen, die gegen Gewalt und Lüge sich auflehnten, innerlich zumindest aber auch äußerlich in Worten und in Taten, dann geschah das nicht darum, weil sie in einer politischen Moral geschult waren, sondern weil sie gelernt hatten, in ihrem eigenen Lebenskreis Recht und Unrecht und Lüge und Wahrheit zu unterscheiden und, statt zu heucheln, wahrhaftig zu sein.

LeerAn dem heutigen Tage fällt dieser Gedächtnis-Tag der Märtyrer des Nazi-Regimes zusammen mit dem Treffen der evangelischen und katholischen geistlichen Gemeinschaften in unserer Stadt. Ungefähr 80 Männer und Frauen sind heute im Karmel und in der Kirche zusammen gewesen. Wir haben gefragt nach dem Einzelnen und nach der Gemeinschaft. Beides muß immer aufeinander bezogen sein. Wir haben auch gefragt nach der kleinen und nach der großen Zahl. Und wenn heute oft die Christen verzagen aufgrund der kleinen Zahl so müßten wir wissen, gerade auch in Erinnerung an die vergangene schreckliche Zeit, daß die große Zahl als solche es nicht macht, sondern daß wir immer auch heute als einzelne gefordert sind. Als einzelne, die auf die Stimme ihres Gewissens zu hören haben, die nach Gottes Gebot fragen und die ihn, den Allmächtigen und Barmherzigen, Gott und Vater - wie Martin Luther sagt - über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Das Wort des Petrus und aller Apostel gilt nach wie vor: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Amen.

Quatember 1989, S. 218-220
© Jürgen Boeckh

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-21
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