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Zen und das protestantische Defizit
- eine Kontroverse um religiöse Erfahrung

von Volker Keller

LeerDringliche Herausforderung des Protestantismus unserer Tage ist die Frage nach der Spiritualität. Gottesdienst, Gebet und Meditation sind - im großen und ganzen - im Gemeindeleben von Bibelstunden, Bildungsveranstaltungen und Initiativgruppen an den Rand gedrängt; Theologie und Vernunft haben im Selbstverständnis von Gemeindeleitern eine größere Bedeutung als Religiosität und Gefühl.

LeerAndererseits ist auffällig, daß spirituelle Übungen bei den Kirchentagen an Wichtigkeit gewinnen: beim letzten im Ruhrgebiet gab es schon zwei Zentren, wo den ganzen Tag über Einführungen angeboten wurden. Nimmt man das Programm der Loccumer Akademie oder das des Berneuchener Hauses in Kirchberg zur Hand, so fallen die vielen Kurse zu Zen-Meditation und Mystik ins Auge. Ist das ein Hinweis auf ein Defizit im Angebot der Kirchengemeinden? Auch von außerhalb der Kirche wird die Frage nach dem Stellenwert der Spiritualität aufgeworfen. Alle die religiösen Gruppierungen, die sich unter dem Oberbegriff »New Age« zusammenfassen lassen, sind durch einen Primat der Praxis, der Orthopraxie, gekennzeichnet. Ein Blick in die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift »DAO - Magazin fernöstlicher Lebenskunst« genügt, um zu verstehen, worum es geht: »die religiösen Wege Indiens, Tibets, Chinas und Japans zu praktizieren«. Die Artikel umfassen dann auch körperliche und geistige Übungen wie Yoga, Tai Chi, Karate, Massage und eben Zen.

LeerVon innen und von außen also ist der Protestantismus herausgefordert, sein Selbstverständnis kritisch zu prüfen und Defizite ehrlich wahrzunehmen.

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I. Getauft und konfirmiert - aber Zen-Schüler

LeerDie Philosophie und Meditationstechnik des Zen findet verstärkt Beachtung in Westeuropa und Nordamerika. Viele Mitglieder von Zen-Gruppen haben die gleiche religiöse Biographie: getauft, konfirmiert, konvertiert. Auf die Frage, warum sie keine Beziehung zu ihrer Gemeinde hätten, antworten Mitglieder des Bremer Zen-Kreises: »Mit der Meditation hatte ich die Möglichkeit, selbst Erfahrungen zu machen, und war nicht mehr aufs Glauben-Müssen angewiesen.« - »Spiritualität ist ein elementares Bedürfnis; um Erkenntnis zu gewinnen, muß man es selber überprüfen und erfahren.« - »Zen gibt mir Erleben.« - »In der Kirche wurde ich nur verwiesen an einen Glauben, der über mich kommen möge. Keinerlei Hinweis auf einen Weg, wie man zu Gott finden kann.« - »Die christliche Religion wird nicht gelebt.«

LeerDiese Antworten decken sich mit denen, die der Oxforder Theologe und Religionswissenschaftler Harvey Cox bei seinen Untersuchungen über die Motive von »Ostpilgern« bekommen hat. »Direkte Erfahrung« gegenüber nur »vermittelter Lehre«: das sei der fundamentale Gegensatz zwischen der neuen Religiösität und dem traditionellen Kirchenglauben. Der im Westen populärste Meister, Daisetz Taitaro Suzuki, benennt die Quintessenz des Zen: »Persönliches Erlebnis ist alles beim Zen«; »Gefühl ist alles«. Ein Gleichnis mag aus Zen-Sicht den Unterschied zwischen Protestantismus und Zen aufzeigen: Es ist unsinnig, über ein Kochrezept zu reden; erst wenn man danach kocht und wenn das Essen wirklich schmeckt, weiß man sicher, daß das Rezept gut ist. Evangelische Christen wirken auf Zen-Schüler, als redeten sie unablässig von etwas, das sie selbst noch gar nicht geschmeckt hätten, und als sähen sie auch keine Notwendigkeit, den Kochlöffel selbst in die Hand zu nehmen. Ganz anders stellt sich ihnen Zen dar: Kochen und Schmecken, bis die Zunge brennt.

LeerDie Frage stellt sich, wie Christen mit solcher Kritik umgehen sollen: Sind das Meinungen von exotischen und nicht weiter ernst zu nehmenden religiösen Aussteigern, oder liegt hier eine Fremdwahrnehmung vor, die zu denken gibt? Christen müssen sich bei ihrer Entscheidung darüber bewußt sein, daß auch in der wissenschaftlichen Theologie an diesem Punkt ein Problem angezeigt wird. Beispiele mögen das belegen. Dorothee Sölle spricht davon, daß wir »Angst haben vor Erfahrungen die unsere wissenschaftlich abgesicherte, unberührbar gewordene Subjektivität berühren«. Als »eher gedachte als gelebte Religion« bezeichnet Fulbert Steffensky den Protestantismus. Heinz Zahrnt spricht offen seine Enttäuschung über eine »erstarrte Frömmigkeit« und »eine einseitig intellektualisierte Theologie« aus. Ferner fragt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner Studie »Evangelische Spiritualität« (1979), »ob nicht ein einseitiges kognitives (verstandesmäßiges) Ansprechen des Menschen dessen Emotionalität (Gefühlswelt) vernachlässigt« habe, und beantwortet sich die Frage selbst mit der Feststellung eines »protestantischen Defizites«. Theologen stellen also dieselbe Diagnose wie Zen-Schüler: Es gibt ein Erfahrungs-Defizit im Protestantismus.

LeerZen-Schüler sind an diesem Punkt religiös sensibel und fordern die Protestanten heraus, sich selbst zu überprüfen. Ihnen liegt dabei auch am Dialog. Denn erstaunlicherweise findet ihre Begegnung mit der Kirche ihrer Taufe und Konfirmation erst intensiv nach der Konversion statt. Zen erweckt ihnen ein neues Interesse am Christentum: nicht am traditionellen, wohl aber am mystischen. Meister Eckhart ist für viele ein Begriff. Protestanten sollten sich nicht zu schade sein, sich mit dieser fremden Pflanze aus dem bunten, schönen Garten der Religionen zu befassen.

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II. Die Zen-Praxis: Zazen - Meditation im Sitzen

LeerZen-Klöster müssen eine Provokation für gelehrte Christen sein: Es gibt dort keine Bibliotheken - dem Mönch ist nur eines wichtig: Zazen, das Sitzen. Nimmt in Deutschland jemand Kontakt zu einer Zen-Gruppe auf, dann ist seine erste Begegnung mit Zen das Sitzen. Der Meditationsleiter reicht ihm dafür eine kleine Holzbank, zeigt ihm die richtige Körperhaltung und rät ihm, auf das Ein- und Ausatmen zu achten. Das ist Zen! Da müssen keine heiligen Schriften studiert werden, da fehlen religiöse rituelle Praktiken -einfach sitzen, aufmerksam sein und abwarten.

LeerDie Zen-Patriarchen waren Reformer. Sie kannten keine heilige Scheu, die Schriften-Gläubigkeit der orthodoxen Buddhisten abzulehnen (heilige Schriften seien nur der Finger, der auf den Mond weise, nie aber der Mond selbst). Sie führten den Buddhismus auf das zurück, was er im Ursprung war: Meditation, die zur Erleuchtung führt. Der Jesuitenpater und Zen-Meister Hugo Binomiya Lassalle faßt das so zusammen: Zen ziele direkt, ohne Umwege auf die Erfahrung des Absoluten. Zen-Meditation ist direkt, das heißt, es wird auf einen Meditationsgegenstand, sei es, daß ein Text, sei es, daß ein Bild betrachtet wird, verzichtet. Ein Gegenstand würde den menschlichen Geist nur wieder von sich selbst wegfuhren, ihn von sich ablenken. Zen-Meditation zielt ab auf völlige Freiheit des Geistes von Gedanken, die ihn ununterbrochen in Bewegung halten. Erst wenn der Geist sich nicht mehr ständig im Vergangenen oder Zukünftigen verfängt, sich nicht mehr planlos von einer Absicht, von einem Wunsch in das nächste Begehren treiben läßt, das heißt sich nicht mehr heißblütig und dabei ahnungslos mit den ruhelosen Gedanken identifiziert, erst dann ist er frei, weil er die Gedanken kontrolliert, sie kommen und gehen läßt, wie er will; frei, weil er den Gedanken nicht mehr gestattet, sich aus der Wirklichkeit, wie sie im Augenblick gerade ist, herauszustehlen - denn nur sie ist wirklich, nur in ihr, hier und jetzt, findet ein Mensch die tiefe innere Ruhe und Leichtigkeit seines »göttlichen« Wesens, seiner Buddha-Natur, ist eins mit sich selbst.

LeerDie Beobachtung des Atmens ist lediglich eine Anfängerübung. Im Verlauf seiner Übungsjahre wird der Zen-Schüler sich auch davon losmachen. Es geht ihm darum, den Geist sowohl aus dem Korsett der religiösen Symbole wie aus dem eines bestimmten Wollens freizuschnüren. Erst wenn das gelungen ist, dringt der Zen-Schüler von der Oberflache in die tieferen und tiefsten Schichten seines inneren Seins vor. Die Erleuchtungserfahrung, satori, »offenbart« ihm sein eigentliches Wesen, seinen Buddha-Geist; und damit eröffnet sich ihm das Wesen aller Dinge, er schaut die All-Einheit aller sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit. Diese letzte, innerste Erfahrung ist rein subjektiv - nur wer sie macht, begreift sie; wer für sie einen adäquaten Ausdruck sucht, stellt ihre Nicht-Kommunikabilität fest. Der Weg zu ihr ist weit und schwer; und wohl nur für wenige im Westen führt er zum Ziel. Und dennoch ist jeder Zentimeter vorwärts eine kleine Transformation der Persönlichkeit des Übenden. Und darum geht es asiatischer Religiosität. Der Mensch soll ein anderer, ein authentischer werden. Der Indologe Heinrich Zimmer sagt es so: »Das vorherrschende Anliegen aber ist dort (im Osten, d. Vf.) - im auffallenden Gegensatz zu den modernen westlichen Philosophien - nicht die Information, sondern die Transformation: eine grundlegende Wandlung der Natur des Menschen, wodurch er ein neues Verhältnis sowohl für die Außenwelt wie für sein eigenes Dasein gewinnt.« Genau danach suchen Zen-Schüler mit ihrer Übung des Sitzens.

LeerAuf dem Weg der Verwandlung ist der Schüler nicht allein, er wird durch einen erfahrenen Meister begleitet. Zunächst einmal »belehrt« der Meister - wie es auch im Yoga, im Tai usw. ist - durch Vormachen, durch Sitzen, und nicht durch Vortragen. Dann kommt der Zeitpunkt, wo er den Schüler vor die Aufgabe stellt, einen paradoxen Spruch, ein koan, in der Meditation intuitiv zu durchschauen - nicht etwa diskursiv zu durchdenken. Es geht - wie immer im Zen - um nichts anderes als um die Frage: Wer bin ich wirklich? Wer bin ich nach Abzug allen Gaukelspiels um meine so heilig verehrte Persönlichkeit? Was bleibt, wenn mir all das (scheinbar) Einmalige und Beständige meines Personseins gleichsam wie ein Teppich unter meinen Füßen weggezogen wird? Darum geht es in der Meditation, und darum geht es im Gespräch mit dem Meister. Diese Unmittelbarkeit »von Herz zu Herz« ersetzt das Schriftstudium. Die Zen-Geschichte ist überreich an Beschreibungen plötzlicher Erleuchtungserlebnisse im »Dialog« des Schülers mit dem Meister. Der Dialog kann dabei durchaus nonverbal, zum Beispiel eine Zeichenhandlung des Meisters sein. Es ist überliefert, daß der erste Zen-Patriarch Kashyapa erwachte, als der Buddha seinen Jüngern »predigte«, indem er eine Blume in die Höhe hielt.

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III. Protestantischer Erfahrungsmangel

LeerUnmittelbarkeit, eigene Erfahrung ist alles beim Zen: damit ist Zen fundamentale Kulturkritik. Das Leben in modernen Gesellschaften ist gekennzeichnet durch eine Überfütterung mit Kenntnissen, Informationen, Lehren und durch einen Mangel an Authentizität, an Gewißheit aus der eigenen Erfahrung. Die Kulturkritik des Psychiaters Ronald D. Laing setzt genau an diesem Punkt an: Gerade das, was einzig und allein evident, klar und deutlich ist, bringt die Hochleistungsgesellschaft kaum hervor: Erfahrung. »Richtiges« Denken und Fühlen wird im Fernsehen vorgespielt - und vom einzelnen imitiert. Tote Gegenstände wie das Auto werden mehr geliebt als lebende Menschen. Beziehungslosigkeit zur Umgebung und zu sich selbst prägt das Leben.

LeerDer Protestantismus scheint von dieser Überfütterung und Entfremdung mitbetroffen zu sein. Das ist nicht zufällig so: seine Struktur ist eine offene Tür, lädt geradezu ein, überfremdet zu werden. Im Unterschied zu Kashyapa »erwachte« Luther, als er den Römerbrief las. Von daher ergab sich ein bestimmter Typ von Religion: Protestantismus ist eine Buchreligion, eine Religion des Lesens und der Auslegung. Theologische Aussagen sind genau so wie erbauliche Schriften am biblischen Text, das heißt an der überlieferten Urerfahrung des Wortes Gottes, wie sie die ersten Christen machten, zu messen. Protestantische Lehre und Frömmigkeit beruht darauf, die authentische Erfahrung der Urchristenheit, die für mich heute zunächst eine fremde Erfahrung ist, nachzuvollziehen und zu verinnerlichen. Die eigene religiöse Erfahrung ist immer eine von der Urerfahrung abgeleitete, sie ist keine unmittelbare. Das ist die offene Tür: Es droht die Fehlentwicklung einer einseitigen Orientierung an der historischen Fremderfahrung; es droht eine Abwertung des spontanen, freien religiösen Erlebens. Aus lauter Angst, der Glaube könnte seinen objektiven Grund verlieren, wenn er zu einem innerseelischen Erlebnis würde, wird das Objektive, das Historische und Dogmatische, verabsolutiert; Glaube wird zu einem Für-wahr-halten von vorgegebenen Richtigkeiten - Protestantismus als »gedachte« Religion. Mystik, Selbsterfahrung, Subjektivität etc. haben im Protestantismus vor jeher einen schweren Stand. Formen der religiösen Unmittelbarkeit werden zwar nicht bekämpft, aber sie werden einfach ignoriert. Warum das so ist, mag an Karl Barths Denken deutlich werden: Alle Formen dieser Art gehören in die Anthropologie, sind rein menschlich, sie stehen der Offenbarungswahrheit strikt entgegen. Es bestehe »ein unendlicher qualitativer Unterschied zwischen Gott und Mensch«, der von Menschen her nicht zu überbrücken sei - weder durch gute Werke, noch durch natürliche Gotteserkenntnis. Das heißt nichts anderes als: Religiöse Unmittelbarkeit ist Sünde (»Religion ist Unglaube«). Eine Innovation des Protestantismus wird ohne eine Auseinandersetzung über die Sündenlehre nicht möglich sein. Kann der Mensch als Ebenbild Gottes so pessimistisch beschrieben werden, daß seine Natur, sein Ich als vor Gott restlos verdorben gilt, daß in der Tiefe seines Wesens nichts ist als Gottlosigkeit? Kann die Heilsgewißheit nur durch totale Abqualifizierung des natürlichen Menschen gesichert werden? Von vielen Seiten wird heute auf die Korrektur eines extremen, anklägerischen Menschenbildes gedrängt. Die tiefenpsychologischen Bibel-Ausleger nehmen eine Korrelation zwischen biblischen Geschichten und Begriffen und in der Seele einwohnenden Urbildern, »Archetypen«, wahr. Neue Konzepte der Seelsorge (nach Carl R. Rogers) gehen von einem humanistischen Menschenbild aus; das heißt, sie trauen dem Menschen zu, seine Probleme weitgehend selbst zu lösen. Seelsorge ist nur Hilfe zur Selbsthilfe. Und es ist eben die spirituelle Theologie, die die »Geistvergessenheit« der Theologie überwindet, die religiöse Disposition des Menschen durch den ihm einwohnenden Heiligen Geist neu entdeckt und die Motivationskräfte und die Leidenschaftlichkeit seiner Religiosität begrüßt. Natürlich bedeutet erfüllte menschliche Existenz theologisch gesehen, Gott die Ehre zu geben; aber daraus muß nicht folgen, den Menschen ganz zu entehren. »Mit Ehre und Herrlichkeit« hat Gott ihn gekrönt (Psalm 8), hat er ihn sich zum Ebenbild geschaffen und ihn mit allem Vermögen ausgestattet, um in der Schöpfung sein Stellvertreter zu sein. Seine Gottbezogenheit ehrt den Menschen.

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LeerThematisiert werden muß wohl auch das Kernstück evangelischer Theologie, die Rechtfertigungslehre. Das Fehlen und die Geringschätzung religiöser Übungen ist wohl auf die Fehldeutung der Glaubensgerechtigkeit aus Gnade zurückzufuhren. So kann es heißen: Warum an sich arbeiten, wenn Gott doch sein Heil bedingungslos schenkt? Und in diesem Sinne werden religiöse Übungen von Protestanten dann auch leicht als selbstherrliche »Werke«, als Selbsterlösungsversuche abgetan. Verkannt wird, daß Gott seine Gnade zwar in eine leere Hand hinein legt - aber sie muß zum Empfang bereit sein, muß geöffnet sein. Gott preßt seine Gnade nicht in eine Faust. Religiöse Übungen aber »öffnen« den spirituellen Menschen. Sie helfen ihm, Zerstreuung von sich fern zuhalten und sich für Gott bereit zu machen. Gewiß ist Glaube nicht machbar, sondern eine Gnadengabe; spiritueller Eifer »kann nur bis in die Nähe (des Glaubens), bis an die Schwelle fuhren« (EKD-Studie). Aber bis dorthin kann er führen! Genau das meint spirituelle Theologie. Für die Formulierung der Rechtfertigungslehre bedeutet das, daß sie die Notwendigkeit religiöser Übungen einsichtig machen muß, sie muß motivierend sein.

LeerZen weist alle vermeintlichen »Übel« auf. Dem Menschen wird die Ehre gegeben, er hat die vollkommene Buddha-Natur, er ist »Gott«. Zen ist auch reine Selbsterlösung, alles hangt von der eigenen Anstrengung ab (wenn auch der Zen-Schuler nie weiß, wie weit er kommt, und satori empfängt wie eine Offenbarung, wie Gnade) - und dennoch folgt daraus nicht Egozentrismus. Nur wo die Dualität von Wunsch und Wirklichkeit besteht, greift der Mensch nach dem Begehrten, weil er besessen ist von Gier, Haß und Verblendung. Satori aber ist die Überwindung jeden Gegensatzes und ist damit die völlige Freiheit zum Guten. Gerade am Beispiel der Selbsterlösung im Zen zeigt sich, daß Protestanten es sich zu einfach machen, fremde Religionen (oder andere Konfessionen) einzig am eigenen Universal-Maßstab »Gnade« zu messen. Protestanten sind zu einer dialogischen Existenz herausgefordert. Das Fremde muß von seinem Selbstverständnis vorurteilsfrei wahrgenommen werden, Protestanten müssen sich dabei auch einer kritischen Befragung aussetzen. Beim Verzicht auf einen eigenen Absolutheitsanspruch stellt sich der Gewinn ein von der Fremdwahrnehmung und vom Dialog her ein neues Bild seiner selbst entwerfen zu können. Zen hat uns jedenfalls etwas zu sagen. Wir haben uns zu fragen, ob die Vernachlässigung der Spiritualität und des Emotionalen einerseits und die Überbewertung des Historischen, des Dogmatischen und des Intellekts andererseits den Protestantismus nicht haben hohl werden lassen? Und gerade vom Beispiel des Zen-Meisters her haben wir uns zu fragen, ob unsere Gemeindeleiter ausreichend vorbereitet sind, auch geistliche Anregungen geben zu können, »Wege« zu zeigen? Schließlich stellt sich die Frage, ob das Gebet vielleicht deshalb seine Bedeutung verloren hat, weil Menschen heute hektisch und nervös sind und Wege zur Tiefenerfahrung wie Zazen nicht kennen. Dem Protestantismus ist zu wünschen, daß er das Stundengebet und Taizé, die Mystik und Zen-Meditation, Körpererfahrung und Bibliodrama neu entdeckt und diese Formen gelebter Religion als Herausforderung begreift.

© Volker Keller
Quatember 1993, S. 96-102

Leserbrief

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-23
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